Rezension über:

Martin Ernst Hirzel / Martin Sallmann (Hgg.): 1509 - Johannes Calvin - 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag (= Beiträge zu Theologie, Ethik und Kirche; 4), Zürich: TVZ 2008, 293 S., ISBN 978-3-290-17494-1, EUR 18,80
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Rezension von:
Reinhard Bingener
Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Bingener: Rezension von: Martin Ernst Hirzel / Martin Sallmann (Hgg.): 1509 - Johannes Calvin - 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag, Zürich: TVZ 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/15603.html


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Diese Rezension ist Teil des Forums "Johannes Calvin (1509-1564)" in Ausgabe 9 (2009), Nr. 9

Martin Ernst Hirzel / Martin Sallmann (Hgg.): 1509 - Johannes Calvin - 2009

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Der Nachteil des im Auftrag des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes herausgegebenen Sammelbands liegt auf der Hand: Die Lektüre von Gesamtdarstellungen zu Leben und Werk Jean Calvins und zur Geschichte des Calvinismus lässt sich durch eine Zusammenstellung von zwölf Beiträgen verschiedener Autoren erwartungsgemäß nicht ersetzen, zu stark differieren die Beiträge hinsichtlich Qualität und Methode - der kirchliche Blumenstrauß zum Geburtstag des Reformators umfasst prächtige Blüten ebenso wie einiges Grünzeug. Der Vorzug überwiegt indes diesen Nachteil: Der Band macht verschiedene Zugänge zum Thema vergleichbar und deren Leistungsfähigkeit sichtbar.

Das Buch gliedert sich in drei, etwa gleich lange Bereiche: 1. Die Geschichte des Calvinismus (mit Aufsätzen zu den Themen: Calvin in Genf, Calvin und die Schweiz, Calvinismus in Europa, Calvinismus in Nordamerika), 2. Die Theologie Calvins (ein Aufsatz zur Calvins Exegese, zwei zu seiner Ekklesiologie und je ein Beitrag zur Erwählungslehre und zur Ethik) und 3. eine Spurenlese des Calvinismus (Kapitalismus, Toleranz und Demokratie).

Zu Beginn schildert Philip Benedict die Umgestaltung Genfs durch Calvin. In einem Jahrhundert der Verfestigung großräumiger Monarchien gelang es der Stadt, beinahe singulär im zeitgenössischen Europa, Unabhängigkeit und Autonomie zu erlangen. Calvin, so legt Benedict dar, habe sich seinen Einfluss auf diesen Prozess durch eine rege Predigttätigkeit, die Etablierung des Konsistoriums und die Zuhilfenahme gesetzlicher Regelungen gesichert.

Im Beitrag über Calvin und die Eidgenossenschaft fokussieren Emidio Campi und Christian Moser in einer engmaschigen Betrachtung auf die Beziehungen des Reformators zu den eidgenössischen Städten Bern, Basel und Zürich. Das Verhältnis zu Bern, zeigen die Autoren, war das schwierigste, unter anderem weil sich Calvins Einflussgebiet in der Waadt auch auf Berner Territorium erstreckte. Die Kirche in Basel hingegen war Calvin im Grundsatz wohlgesonnen - weil die Stadt aber ihr Selbstbewusstsein aus ihrer Universität bezog, ist es kein Zufall, dass Calvins intellektuelle Gegenspieler, etwa Castellio, dort beheimatet waren. Die besten Bande hatte Calvin nach Zürich, wo er im Reformator Heinrich Bullinger trotz einiger theologischer Differenzen über einen verlässlichen Partner verfügte.

Der überaus schwierigen Aufgabe, die Ausbreitung des Calvinismus in Europa zu schildern, nimmt sich Andrew Pettegree an. Ausgehend von der These, dass Calvin nie versucht habe, die Kirchenorganisation in Genf als Vorlage für die weitere Verbreitung seiner Lehre zu verwenden, zeichnet Pettegree meisterhaft ökonomisch auf wenigen Seiten die Ausbreitung des Calvinismus in Frankreich, England, Schottland, in den Niederlanden, im Heiligen Römischen Reich und in Osteuropa nach. Pettegree beleuchtet die Strukturen, welche die Ausbreitung begünstigten, wie auch die Zufälle, von denen sie abhing. Der Beitrag macht deutlich: Beim Calvinismus ist eine transnationale, zumindest europäische Perspektive keine Mode, sondern in der Sache begründet. Im letzten Aufsatz des historischen Teils schildert James D. Bratt detailreich und in gedrängter Form die Geschichte des Calvinismus in Nordamerika. Der Beitrag erfordert einige Vorkenntnisse über die Religionsgeschichte Amerikas und es bleibt zu fragen, ob es sinnvoll ist, unter den zersplitterten Denominationen Amerikas Calvinisten anhand dogmatischer Differenzen von Nicht-Calvinisten zu unterscheiden. Bratt zeigt ja selbst auf, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Norden der Vereinigten Staaten die traditionellen Calvinisten mehr und mehr (und aus freien Stücken) in einer allgemeinen protestantischen Kultur aufgingen. Die Frage, ob Amerika der Calvinismus damit abhanden gekommen ist oder ob er auch im gegenwärtigen Christentum Nordamerikas präsent bleibt, lässt sich Bezugnahme auf Lehrsysteme mit Sicherheit nicht entscheiden.

Der eigentlich systematisch-theologische Teil des Sammelbandes beginnt mit Wulfert de Greefs Darstellung von Calvins Bibelverständnis. Dabei wird deutlich, welch hohen Stellenwert Calvin dem Alten Testament zumisst. Wünschenswert wäre es hier gewesen, an diesem Punkt die Differenz zwischen Calvin und anderen Reformatoren herauszuarbeiten, denn zuletzt kulminieren die Bedenken der Moderne gegenüber dem Genfer Reformator in der Frage des Gesetzes. Die kirchliche Theologie Calvins nimmt Christopher L. Elwood in den Blick. Er weist auf, dass Calvins Strenge und Drang nach Durchgriff damit zusammenhängt, dass er als Reformator der zweiten Generation nicht mehr den exegetischen Optimismus seiner Vorläufer teilen konnte, nach dem allein die Orientierung an der Bibel zuletzt sämtliche Gegensätze zusammenführen vermöge. Den berüchtigtsten, aber unbestritten auch faszinierendsten Teil der calvinistischen Lehrbildung behandelt Christian Links Aufsatz über die Erwählungslehre Calvins: Nach Link hat sich Calvin der paulinischen Briefe nicht lediglich bedient, um seine eigene Auffassung zu rechtfertigen, sondern er hat sich in die Aussagen des Apostels über die Erwählung regelrecht hineinversenkt, um sie - und hier geht Calvin über Paulus und wohl auch über Augustinus hinaus - unerbittlich bis in ihre logischen Spitzen zu durchdenken. Link argumentiert, dass es Calvin in der Erwählungslehre immer um die Rechtfertigung allein aus Gnade gehe - daher nehme Calvin die Rückverlagerung des Heilsgeschehens noch hinter den Glaubensakt vor. Präzise markiert Link die Differenz zwischen Calvin und Luther, dem die Grenze theologischer Vernunft schärfer vor Augen gestanden habe als seinem Genfer Schüler. Im zweiten Aufsatz zur Ekklesiologie ist Eva Maria Faber dem Verhältnis von unsichtbarer und sichtbarer Kirche bei Calvin auf der Spur und spricht Calvin ein "ausgeprägtes Gespür für die soziale Dimension der konkreten Glaubenspraxis" zu. Eric Fuchs konzentriert sich in seinen Ausführungen über Calvins Ethik sehr zu Recht auf die Frage des Gesetzes und dessen drei Gebräuche bei Calvin. Leider wird bei dieser entscheidenden Frage abermals auf einen Vergleich mit den anderen Reformatoren verzichtet.

Den letzten Teil der Sammlung über die Spuren des Calvinismus in den prägenden Kräften der Moderne eröffnet Ulrich H. J. Körtner mit der anhand aktueller Kirchenpapiere getroffenen Feststellung, dass die reformierten Kirchen und der Kapitalismus sich mittlerweile beinahe feindlich begegnen. Mit diesem Befund konfrontiert Körtner die bekannte These Max Webers über die Genese des Kapitalismus, dessen irrationalen, weil nicht-eudaimonistischen Kern Weber in Zusammenhang mit späteren Formen der calvinistischen Erwählungslehre bringt. Körtner legt Webers These präzise und lesenswert dar, hält sie aber nicht für stichhaltig: Erstens könne Webers These nur für einen Teil des Calvinismus gelten (da der syllogismus practicus die Lehren von Dordrecht und Westminster voraussetze), zweitens neigten die calvinistischen Soziallehren eher einer Bändigung des Kapitalismus oder gar einem christlichen Sozialismus zu als einem schrankenlosen Manchesterkapitalismus. Stefan Zweigs Novelle 'Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt' ist der Ausgangspunkt von Christophs Strohms Aufsatz über Calvin und die Toleranz. Die Urteile über Calvins Beitrag zur Durchsetzung religiöser Toleranz könnten indes kaum gegensätzlicher ausfallen, resümiert Strohm die Forschungsgeschichte. Strohms eigenes Fazit: Auch wenn Calvin bei der Verbrennung Servets ganz dem geltendem Reichsrecht entsprechend gehandelt habe, ließen sich bei ihm kaum Ansatzpunkte für religiöse Toleranz finden. Affirmative Aussagen über religiöse Toleranz seien bei Calvin (ebenso wie bei Luther) unter dem Eindruck selbst ausgeübter Kirchenleitung in den Hintergrund getreten, ja aus späteren Auflagen von Calvins Institutio entfernt worden. Strohm benennt vier Denkmuster Calvins, die religiöser Toleranz im Wege stehen: 1. Die Orientierung am römischen Recht, 2. eine nicht relativierte Hochschätzung des alttestamentlichen Gesetzes, 3. der starke Einfluss platonischen Denkens auf Calvin, demzufolge geistige Vergehen besonders schwer wiegen und 4. das Gefühl steter Gefährdung der Reformation. Ein Urteil über den Calvinismus und die Toleranz will Strohm damit aber nicht gefällt haben - unter anderen Bedingungen hätten calvinistische Milieus gänzlich andere Auffassungen vertreten und einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung religiöser Toleranz geleistet. Diesen Befund bestätigt auch der abschließende Aufsatz über Calvins Beitrag zur Entstehung der Demokratie: Mario Turchetti kann anhand von entgegengesetzten Rezeptionssträngen (Beza-Buchanan-Jurieu versus Castellio-Grotius-Bayle) zeigen, wie der Calvinismus durch diverse Wendungen und Windungen hindurch produktiv auf die Ausbildung der zentralen Ideen der Demokratie wie der Volkssouveränität gewirkt hat.

Calvin und der Calvinismus, das führen gerade die starken Aufsätze des Sammelbandes vor Augen, eignen sich denkbar schlecht für Jubiläen mit Breitenwirkung: In der Gründungsgeschichte herrschen die dunkleren Grautöne vor (die Person Calvin fällt als positive Identifikationsfigur de facto aus), im weiteren historischen Verlauf dominiert das Moment der Diskontinuität und der gegenwärtige Calvinismus ist so gut wie unsichtbar. Interessant wird der Calvinismus hingegen dort, wo der Blick ungeniert in die Gedärme der Geschichte fällt und ihren Verästelungen folgt. Darin scheint der von Max Weber gewählte Zugang, beim Calvinismus ganz auf das Indirekte, Ungewollte und bisweilen Tragische zu setzen, nach wie vor richtungweisend.

Reinhard Bingener