Rezension über:

Otto Ulbricht: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M.: Campus 2009, 410 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-38909-7, EUR 39,90
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Rezension von:
Achim Landwehr
Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Achim Landwehr: Rezension von: Otto Ulbricht: Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/M.: Campus 2009, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/16205.html


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Otto Ulbricht: Mikrogeschichte

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Man hätte in den vergangenen Jahren den Eindruck gewinnen können, die Mikrogeschichte stelle keine größere Herausforderung mehr dar. Nachdem zwischen Mitte der 1980er-Jahre und Mitte der 1990er-Jahre eine ganze Reihe an Aufsätzen und Sammelbänden erschien, in denen mehr oder minder grundlegend über Vor- und Nachteile mikrohistorischer Ansätze debattiert wurde (häufig in Kombination mit Alltagsgeschichte und Historischer Anthropologie), schien es seither, als ob an die Stelle der Behandlung methodisch-theoretischer Grundsatzdebatten die empirische Umsetzung getreten war. Otto Ulbricht, seit vielen Jahren als Beiträger in beiden Bereichen, der theoretischen wie der empirischen Mikrogeschichte, eine feste Größe, erinnert mit seinem jüngsten Buch daran, dass das Nachdenken und auch der Streit über die Mikrogeschichte keineswegs zu einem Ende gekommen sind, ja, dass eine solche Einstellung des 'business as usual' möglicherweise sogar eine Gefahr darstellen könnte.

Das Buch gliedert sich in drei größere Teile, die sich jeweils mit einer Frage charakterisieren lassen: Was ist Mikrogeschichte? Was leistet Mikrogeschichte? Und wie geht es mit der Mikrogeschichte weiter? Der erste Teil geht dabei ausführlicher auf Anliegen, Fragestellungen und methodische Präferenzen der Mikrogeschichte ein. Der zweite und umfangreichste Teil umfasst insgesamt sechs empirische Studien, welche die Mikrogeschichte als Praxis vorführen. Der dritte Teil versucht schließlich, Ergebnisse der Einzelstudien und Leistungen der Mikrogeschichte zu systematisieren, um auf dieser Basis weitere Perspektiven zu eröffnen. Dabei gelingt es Ulbricht alles in allem überzeugend, in seinem Buch vorzuführen, was er mit Blick auf diesen Ansatz für charakteristisch hält: "Mikrogeschichte besteht aus wenigen Grundsätzen, einem guten Maß an theoretischer Reflexion und großer Vielfalt in der Praxis." (13)

Grundsätze und theoretische Reflexion sind Gegenstand des ersten Teils. Ulbricht rekapituliert die wichtigsten Prinzipien der Mikrogeschichte und stellt zentrale Arbeiten vor. Als vereinigendes Band der recht diversifizierten mikrohistorischen Studien wird herausgestellt, "dass durch die Erforschung im Kleinen - nicht des Kleinen - Faktoren ans Tageslicht gefördert werden können, die der Aufmerksamkeit bisher entgangen sind." (13) Ulbricht begnügt sich jedoch nicht mit der spezifischen Fokussierung der Mikrogeschichte auf einen kleinen Untersuchungsausschnitt, sondern macht deutlich, dass Kleinheit an sich noch keine Mikrogeschichte darstellt. Vielmehr sind es Quellenerfassung und Kombination unterschiedlicher Quellengruppen zu diesem gewählten Gegenstand, die für Ulbricht einen wesentlichen Vorteil der Mikrogeschichte ausmachen. Schließlich zeichnet die Mikrogeschichte aus, dass die Verkleinerung des Maßstabs gerade nicht bedeutet, auf die Beantwortung großer Fragen zu verzichten, sondern im Gegenteil diese großen Fragen auf neue Art und Weise herauszufordern.

Der zweite Teil widmet sich der mikrohistorischen Praxis. Ulbricht kommt es darauf an, die Stärken der Mikrogeschichte vorzuführen, weshalb die einzelnen Studien auf vergleichbare Weise angelegt sind. Es handelt sich um Untersuchungen zu sechs Individuen des 17. und 18. Jahrhunderts aus dem norddeutschen Raum (von denen zwei in kürzerer Form bereits an anderer Stelle erschienen sind). Diese Personen standen jeweils in einer Konfliktsituation, die dazu geführt hat, dass sie quellenmäßig fassbar sind. Zudem haben sie in der einen oder anderen Form Selbstzeugnisse hinterlassen. Ulbricht thematisiert jeweils einleitend den Ausgangspunkt der Untersuchung, erläutert die Quellensituation und den methodischen Zugang zum historischen Material, bevor dann eine recht ausführliche mikrohistorische Untersuchung folgt.

An dieser Stelle kann nicht ausführlich auf die einzelnen Studien eingegangen werden, deshalb seien nur knapp einige Stichworte genannt: Einmal geht es um die Flucht des Gutsvogts Clauß Paulsen, der trotz guter sozialer und wirtschaftlicher Situation seinen Gutsherrn verließ, weil er für sich und seine Familie die Leibeigenschaft fürchtete. Sodann begegnet uns Margaretha Dalhusen, die sich in einem langwierigen Vorgang zwischen 1637 und 1644 hartnäckig und schließlich auch erfolgreich einer arrangierten Hochzeit verweigerte. Der Flensburger Kaufmann Frantz Böckmann spionierte 1713 während des Nordischen Krieges für seinen Landesherrn, den König von Dänemark, den schwedischen Kriegsgegner aus. Vom Goldschmiedegesellen Ehrenfriedt Andreß Kien sind aus den Jahren 1716/1717 Liebesbriefe erhalten, die einen ungewöhnlichen Einblick in die Gefühlswelt dieser sozialen Schicht erlauben. Johann Gottfried Kestner wurde 1775 in Osnabrück als professioneller Bettler festgenommen, wodurch er gezwungen ist, Arbeits- und Lebensweisen seines 'Berufsstandes' zu offenbaren. Schließlich wird uns Friedrich Frantz Heinitz vorgeführt, der an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert versucht, seinen Beruf als Feldscherer weiter auszuüben und sich der Professionalisierung des medizinischen Berufsstandes so weit als möglich zu entziehen - jedoch ohne Erfolg.

Dankenswerterweise unternimmt Ulbricht in einem abschließenden Kapitel den Versuch, die verschiedenen Ergebnisse der empirischen Detailstudien zusammenzuführen und unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, welche Vorteile der mikrohistorische Blick hat und welche weiteren Forschungsmöglichkeiten sich daraus ergeben.

Wenn Ulbricht dabei den Mehrwert mikrohistorischer Arbeiten in einem Denken sieht, das historische Durchschnitte und Gesetzmäßigkeiten konterkariert, um stattdessen die Uneinheitlichkeit und Komplexität vergangener Welten zu betonen, dann ist damit sicherlich eine wesentliche Stärke der Mikrogeschichte benannt. Wenn er der Mikrogeschichte aber bescheinigt, sie besitze eine "größere Realitätsnähe" und ein "Mehr an Realitätssinn" (339), weil sie sich näher am Objekt ihrer Untersuchung bewege, dann kann ein gewisses Unbehagen nicht ausbleiben. Mit dieser Rhetorik läuft Ulbricht Gefahr, alte Grabenkämpfe wieder aufleben zu lassen: Welcher Ansatz ist denn nun der bessere und der historisch 'eigentlich' adäquate? Könnte man sich stattdessen nicht darauf einigen, dass es sich um jeweils andere Zugänge zu historischen Gegenständen handelt, die alle ihre Berechtigung und Notwendigkeit haben, ohne dass der eine realitätsnäher sein muss als der andere? Denn es steht außer Frage, dass die Mikrogeschichte nicht realitätsnäher als andere Ansätze sein kann - es handelt sich schlicht um eine andere Art und Weise, ein Bild von der Vergangenheit zu entwerfen. In eben diesem Sinne ist sie wichtig und notwendig.

Nicht sehr viel anders steht es mit einem dritten Qualitätsmerkmal, das Ulbricht der Mikrogeschichte ausstellt, dass sie nämlich "einen starken Anspruch auf Glaubwürdigkeit" erheben könne. Gemeint ist damit, dass die "üblichen historischen Synthesen" unter sich widersprechenden Fakten auswählen, das Material arrangieren, Lücken überbrücken und letztlich eine lineare Abfolge konstruieren müssten. Deswegen wiesen makrohistorische Arbeiten "nicht selten eine Tendenz auf" und beförderten "die willkürliche, subjektive Interpretation" (343). Wenn Ulbricht demgegenüber der Mikrogeschichte eine höhere Glaubwürdigkeit attestiert, dann ist anzunehmen, dass er hier all diese 'Probleme' nicht sieht (auch wenn er dies nur ex negativo formuliert). Eine solche Sicht ist geschichtstheoretisch zumindest problematisch, wenn nicht gar naiv. Denn natürlich muss auch die Mikrogeschichte aus sich widersprechenden Fakten auswählen, das Material arrangieren, Lücken überbrücken und eine lineare Abfolge konstruieren. Die empirischen Studien, die Ulbricht in seinem Band versammelt, belegen dies.

Die Weiterungsmöglichkeiten, die Ulbricht für die Mikrogeschichte abschließend anführt, können schon eher auf Zustimmung stoßen. Nach einer Einordnung der Ergebnisse in ein übergreifendes "agency"-Konzept, deutet er mit Blick auf die Geschichte der Emotionen und des Raums sowie hinsichtlich der Verknüpfung von Mikrogeschichte und klassischer Politikgeschichte beziehungsweise Kulturtransfer zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten der Mikrogeschichte an.

Trotz einiger Gegenargumente: Ulbrichts "Mikrogeschichte" ist fraglos zu empfehlen, allein schon weil es ihr aufgrund ihres Aufbaus gelingt, gleich mehrere Ansprüche zu erfüllen und unterschiedlichen Zielgruppen von Nutzen zu sein. Es ist als Einführungsbuch für Neulinge auf diesem Arbeitsgebiet zu empfehlen, weil sie nicht nur nachvollziehen können, welchen Maximen die Mikrogeschichte folgt, sondern weil ihnen auch die empirische Umsetzung vorgeführt wird. Der elaborierteren Diskussion über die Mikrogeschichte wird dieses Buch sicherlich neue Impulse und auch zu der einen oder anderen kontroversen Diskussion Anlass geben können. Auf jeden Fall zeigt dieses Buch allen, die dachten, Mikrogeschichte stelle keinen Gegenstand grundsätzlicher Diskussion mehr dar, eines sehr deutlich: Mikrogeschichte ist quicklebendig!

Achim Landwehr