Rezension über:

Anja Wilhelmi: Lebenswelten von Frauen der deutschen Oberschicht im Baltikum (1800-1939). Eine Untersuchung anhand von Autobiografien (= Veröffentlichungen des Nordost-Instituts; Bd. 10), Wiesbaden: Harrassowitz 2008, 422 S., ISBN 978-3-447-05830-8, EUR 35,00
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Rezension von:
Ragna Boden
Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Marco Wauker
Empfohlene Zitierweise:
Ragna Boden: Rezension von: Anja Wilhelmi: Lebenswelten von Frauen der deutschen Oberschicht im Baltikum (1800-1939). Eine Untersuchung anhand von Autobiografien, Wiesbaden: Harrassowitz 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/10/17154.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Anja Wilhelmi: Lebenswelten von Frauen der deutschen Oberschicht im Baltikum (1800-1939)

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Geschichte und Bedeutung der Deutschbalten sind bislang vorwiegend aus politik- und sozialgeschichtlicher Sicht betrachtet worden. Bei diesem Fokus auf die herausgehobenen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Funktionen deutschbaltischer Persönlichkeiten spielte die Lebenswelt von Frauen selten eine Rolle, da diese kaum je an exponierter Stelle tätig waren. Ihr Alltag spielte sich im Wesentlichen im häuslich-familiären Bereich ab, seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch im Gemeindeleben; nur wenige wirkten überregional. Die Bedeutung weiblicher Lebensläufe für die Deutschbalten lag mehr noch als in Deutschland in der ihnen zugeschriebenen und großenteils von ihnen akzeptierten Funktion als Bewahrerinnen der kulturellen Eigenart. Daher erklärt sich zum Teil die Beharrungskraft traditioneller Rollenmuster und die im europäischen Vergleich langsamere Ausbildung und Akzeptanz von Lebensentwürfen zusätzlich zum oder gar jenseits des Familienmodells.

Anja Wilhelmi spürt in ihrer Arbeit, die auf ihrer 2005 in Hamburg eingereichten Dissertation basiert, der Geschichte der deutschbaltischen Frauen der Oberschicht des 19. Jahrhunderts bis 1939 nach. Sie setzt sich zum Ziel, die Forschung zur Geschichte der Deutschbalten um gender- (hier speziell frauen-) und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen zu erweitern sowie die Abgrenzung zwischen den Lebenswelten von Adel und Bürgertum aufzuzeigen (17). Auf der Grundlage von 162 publizierten und unveröffentlichten autobiografischen Schriften soll die kollektive Biografie dreier Generationen entstehen. Dazu verbindet die Autorin Ansätze der Alltags-, Sozial-, Geschlechter- und Mentalitätsgeschichte. Die Auswahl der "Oberschicht" als Untersuchungsfeld begründet sie vor allem pragmatisch mit der Quellenlage. Wilhelmi definiert die soziale Kategorie als Adel und Bildungsbürgertum, wobei Frauen als "stille Teilhaber" am Einfluss ihrer Väter und Gatten über Ressourcen wie politische und ökonomische Macht, Bildung, Wissen und berufliche Qualifikation sowie kulturelle Dominanz partizipierten (12). Als Zugehörigkeitskriterium zu den Deutschbalten gilt für Wilhelmi die Selbstbezeichnung der Autorinnen (15).

Die Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert. Nach Einleitung und historischem Überblick folgt eine Einführung in die sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Lebenswelten deutschbaltischer Frauen (Kap. 3). Im Hauptteil (Kap. 4) analysiert die Autorin die Autobiografien entlang der Lebensabschnitte bzw. -situationen Kindheit, Schulzeit, Konfirmation, "junge Frauen", Heirat, Eheleben, Mutterschaft, alternativ das Leben als Ledige, Geschiedene oder Witwe im eigenen Haushalt. Das Kapitel schließt mit einer Untersuchung der "nationalen und ständischen Identität". Auf das Gesamtfazit (Kap. 5) folgen im Anhang eine ausführliche Kurzcharakterisierung der verwendeten Autobiografien sowie Personen- und Ortsregister.

In den einzelnen Lebensabschnitten ergeben sich viele Parallelen zu dem, was über deutsche Frauen dieser Generationen in Deutschland bekannt ist: die Stilisierung der Kindheit zu einer Zeit der Unbeschwertheit; der erste (kleinere) Bruch durch den Beginn des Unterrichts; die Zeit zwischen der Konfirmation als Initiationsritus und der Ehe als einer Zeit des Wartens, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend durch weitere Ausbildung und Berufstätigkeit gefüllt wurde; der zweite Bruch durch den Eintritt in die Ehe und damit in einen neuen Haushalt; die Frage nach Erfolg oder Misserfolg einer gesellschaftlichen Akzeptanz durch Mutterschaft, in der die Geschlechterfrage - diesmal in Bezug auf die Kinder - eine wesentliche Rolle spielte. Ein Kontrast zu den Verhältnissen in Deutschland ergibt sich hinsichtlich der Bedeutung nichtverheirateter "Tanten", die oft wichtige Betreuungsfunktionen innerhalb der Familien einnahmen. Im Gegensatz zum Negativ-Stereotyp eines gescheiterten Lebens als "alte Jungfern" waren alleinstehende Frauen im Baltikum als Familienmitglieder akzeptiert.

Insgesamt kann Wilhelmi anhand der Entwicklungen über die Generationen hinweg eine zunehmende Angleichung von Interessen und Berufsfeldern zwischen adligen und bürgerlichen Frauen feststellen (40). Während die schichtenspezifische Identifikation an Bedeutung verlor, verstärkte sich die hauptsächlich politisch motivierte nationale Identität (317). Die Untersuchung bestätigt die Stilisierung einer Exklusivität der Deutschbalten insgesamt gegenüber Esten und Letten sowie der Deutschbaltinnen gegenüber Frauen in Deutschland (47, 43). Widerlegen lässt sich dagegen das Klischee einer besonders ausgeprägten Affinität der Deutschbaltinnen zur Religion (46, 326). Dennoch weisen ihre Lebenswelten eine "ungeheure Nähe" (332) zu denen von Frauen in Deutschland auf, trotz aller selbstgewählten Abgrenzungstendenzen.

Die insgesamt weitgehend schlüssige Arbeit weist zwei Einschränkungen auf, die Wilhelmi selbst benennt. Die erste liegt in der chronologisch ungleichen Verteilung der untersuchten Lebensläufe und der verwendeten Schriften. Die meisten decken die Zeit seit Ende des 19. Jahrhunderts ab und geben nur ein sehr fragmentarisches Bild der frühen Untersuchungsperiode. Die zweite Einschränkung der Aussagekraft liegt im Quellentypus selbst begründet. Autobiografien taugen durch ihre Stilisierungen und ihre Absicht, den nachfolgenden Generationen ein möglichst positives Selbstbild zu vermitteln, nur begrenzt dazu, Lebensläufe nachzuvollziehen (22). Für ein umfassendes Bild wäre es wünschenswert, multiperspektivisch zu arbeiten und die Selbstbeschreibungen um Ansichten von außen zu ergänzen. Dies ist bei der gewählten Untersuchungsgruppe jedoch in der Breite kaum zu leisten. Das sehr eingeschränkte öffentliche Wirken der Frauen selbst der Oberschicht hat entsprechend selten Niederschlag in Akten der öffentlichen Verwaltung gefunden, sodass Autobiografien und Briefe meist die einzigen Zeugnisse bleiben. Diese erstmals in großem Umfang zusammengeführt, verglichen und als Kollektivbiografie ausgewertet zu haben, ist Wilhelmis Verdienst.

Ragna Boden