Rezension über:

Wolfgang von Hippel: Das Herzogtum Württemberg zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges im Spiegel von Steuer- und Kriegsschadensberichten 1629-1655. Materialien zur Historischen Statistik Südwestdeutschlands, Stuttgart: W. Kohlhammer 2009, XVII + 373 S., ISBN 978-3-17-019954-5, EUR 48,00
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Wolfgang von Hippel (Hg.): Türkensteuer und Bürgerzählung. Statistische Materialien zu Bevölkerung und Wirtschaft des Herzogtums Württemberg im 16. Jahrhundert (= Sonderveröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg), Stuttgart: W. Kohlhammer 2009, XVI + 356 S., 31 Karten sowie zahlr. Tab. u. Diagramme, ISBN 978-3-17-020763-9, EUR 48,00
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Rezension von:
Michael Kaiser
Historisches Seminar, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Michael Kaiser: Zur historischen Statistik Württembergs im 16. und 17. Jahrhundert (Rezension), in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 11 [15.11.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/11/13311.html


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Zur historischen Statistik Württembergs im 16. und 17. Jahrhundert

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Die historische Statistik gehört nicht zu den geschichtswissenschaftlichen Subdisziplinen, die sich einer besonderen Aufmerksamkeit erfreuen können. Hoher Arbeitsaufwand bei der Bewältigung von großen Datenmengen und eine nicht unmittelbar daraus erfolgende Evidenz lassen derartige Unternehmungen wenig attraktiv erscheinen. Dies mochte in der Blütezeit einer sozialgeschichtlich inspirierten Forschung noch anders gewesen sein, doch längst hat die Geschichtswissenschaft das historische Individuum entdeckt und verlangt nach mehr Anschaulichkeit; statistische Werte reichen nicht mehr. Insofern liegt der Arbeitsschwerpunkt Wolfgang von Hippels durchaus nicht im Trend. Doch davon hat er sich, zumal er schon seit den 1970er-Jahren mit dieser Thematik befasst gewesen ist, keineswegs abschrecken lassen. Zwei voluminöse Bände zur historischen Statistik Württembergs im 16. und 17. Jahrhundert legen davon ein eindrucksvolles Zeugnis ab.

Besonders der Band zum Dreißigjährigen Krieg lässt aufhorchen, greift er doch die ältere, gleichwohl immer noch nicht befriedigend geklärte Frage nach seiner tatsächlichen Zerstörungsintensität auf. Nach der klassischen, wiewohl auf einer äußerst dünnen Quellengrundlage fußenden Studie von Günther Franz, der zudem gleich für das gesamte Reich Aussagen treffen wollte, legt v. Hippel hiermit erstmalig eine profunde statistische Erfassung der Kriegseinwirkungen auf das große südwestdeutsche Territorium Württemberg vor. Möglich ist dies, weil entsprechende zeitgenössische Daten die Materialbasis für einen Vergleich der Situation vor den großen Kriegszerstörungen in den 1630er-Jahren mit jener der Nachkriegszeit schaffen.

Die Einleitung bereitet den historischen Kontext für die Datenerhebungen. Die Ämterberichte von 1629 wurden im Rahmen einer angestrebten Neuregelung des württembergischen Steuerwesens angefertigt, 1652 und 1653 wurden Kriegsschadensberichte in Vorbereitung auf die Verhandlungen des bevorstehenden Reichstags eingeholt, 1655 fand auf nochmalige herzogliche Initiative eine Landesvisitation statt. Im Weiteren stellt die Einleitung die ausgewerteten Quellengruppen vor und führt in die Benutzung des statistischen Materials ein (1-46). Die Haupttabelle bietet ein Verzeichnis aller Ämter und Gemeinden, der Anzahl ihrer Bewohner (Bürger und Beisitzer), der Gebäude, der unterschiedlich bewirtschafteten Flächen, des Schuldenstandes, jeweils für die Stichdaten 1634 und 1655 (48-115); eine Zusammenfassung dieser Datenmenge stellt die sog. Ämtertabelle dar (116-123). Die Dokumentation, aufgeschlüsselt wiederum nach Ämtern, beansprucht den meisten Platz, zumal hier das Zahlenmaterial der Tabellen durch weitere Informationen angereichert und mit teils recht ausführlichen Quellenzitaten erläutert und veranschaulicht wird (124-304). Die im Folgenden präsentierten 19 Karten und 20 Tabellen ermöglichen direkte Vergleiche der Kriegsschäden in Württemberg und der Bevölkerungsentwicklung und veranschaulichen bestimmte wirtschaftliche Tendenzen (305-343). Abgerundet wird der Band durch ein Ortsverzeichnis (345-357) und ein überaus nützliches Glossar, das nicht nur allgemein den frühneuzeitlichen Sprachgebrauch erläutert, sondern auch politische und wirtschaftliche Kernbegriffe erklärt (359-373).

Der Wert dieser Befunde in der Diskussion über die Kriegsverheerungen zwischen 1618 und 1648 ist kaum zu überschätzen, gleichwohl sollen noch einige Bemerkungen zum Charakter der hier vorgelegten Daten folgen. Ungeachtet der Masse der ausgewerteten Quellenbestände fällt auf, dass einige Informationen fehlen. So finden sich nur sehr wenige Hinweise auf die Verursacher der einzelnen Kriegszerstörungen: Welcher Armee die Häuser anzündenden, Mühlen zerstörenden, Obstgärten verwüstenden und Menschen drangsalierenden Söldner angehörten, wird höchst selten genannt. Entspricht dies der zeitgenössischen Wahrnehmung der betroffenen Bevölkerung, die tatsächlich kaum zwischen einzelnen Armeen differenzierte, sondern in der Regel unterschiedslos das Militär an sich als Bedrohung betrachtete? Oder wurden diese Angaben schlichtweg nicht aufgenommen? Erstaunlich ist auch, dass Zerstörungen vielfach - so etwa im Umfeld der Schlacht von Nördlingen 1634 - explizit benannt sind, diese Praxis jedoch ab den späteren 1630er- und 1640er-Jahren fast gänzlich aufhört. Dabei wurde der Südwesten des Reiches gerade in dieser Phase vor allem für die kurbayerischen Truppen zum wichtigen Quartiergebiet. Gab es hier etwa keine erwähnenswerten Zerstörungen?

Andere Datenlücken sind hingegen auf Verluste in der Überlieferung zurückzuführen. Mitunter mussten schon die landesherrlichen Beamten konstatieren, dass zentrale Dokumente wie Steuerbücher und teilweise sogar die gesamten archivalischen Bestände vor Ort vernichtet worden waren. Freilich gab es auch Fälle, in denen die fehlende Überlieferung und die daraus resultierenden pauschalen und auf Schätzungen beruhenden Angaben der betroffenen Bevölkerung offenbar zum Vorteil gereicht haben (vgl. etwa die Hinweise zu den Klosterämtern Alpirsbach 125 und Anhausen 132). Solche Beispiele verdeutlichen, wie sehr man einkalkulieren muss, dass viele Angaben einer Opferperspektive verpflichtet sind. Zudem drohte nach dem Krieg neuer, landesherrlicher Steuerdruck, was die Generierung mancher Angaben ebenso beeinflusst haben mag. Ohnehin fällt auf, dass der Blick gar nicht so sehr rückwärtsgewandt ist. Die aktuelle Not erschien so groß und die unmittelbare Zukunft so ungewiss, dass viele Angaben wohl weniger Ursache und Ablauf der erlittenen Kriegsexzesse berücksichtigen als vielmehr auf gegenwärtige Schwierigkeiten abheben. Dabei lassen sich einige aufschlussreiche Beobachtungen machen. So gibt es verstreute Hinweise auf Neusiedler aus verschiedenen (Nachbar-)Regionen, teilweise auch entlassene Soldaten, die sich in Württemberg niederließen. Oftmals wurden diese Neuankömmlinge gar nicht zur Steuer veranschlagt - aus Angst, dass Steuerforderungen diese Leute gleich wieder vertreiben und somit dem Land einen neuerlichen Menschenverlust zufügen würden, sah die Obrigkeit davon ab.

Letztlich verzichtet v. Hippel aber auf explizite Urteile und Auswertungen der von ihm zusammengetragenen Daten. Eine Bestätigung, eine Revision wie überhaupt eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Günther Franz oder anderen Historikern, die sich mit den Zerstörungen des Dreißigjährigen Kriegs befasst haben, bleibt aus. Doch auch wenn er die Einordnung seiner Befunde anschließenden Forschungen überlässt, ist am hohen Grad der Vernichtung sowie an den immensen Verlusten an Gütern und Menschen, die das Herzogtum Württemberg im Dreißigjährigen Krieg erlitten hat, nicht zu zweifeln. Dass v. Hippel signifikant höhere Verluste bei dörflichen Gemeinden im Vergleich zu Städten ausmacht, mag nicht überraschen, seine Befunde ruhen hier aber nun auf einer neuen, soliden Basis (34 f.). Ansonsten ist seinem Hinweis, bei den Zerstörungen und Verlusten auf regionale Verteilungsmuster zu achten, durchaus beizupflichten: Auf eine differenzierte Wahrnehmung kommt es an, nicht auf Pauschalisierungen.

In analoger Weise ist auch der Band für das 16. Jahrhundert organisiert. Hier liefern die Türkensteuerlisten der Jahre 1544/45 einen ersten statistischen Haltepunkt, der dann mit den Ergebnissen der Bürgerzählung von 1598 kontrastiert wird. Auch hier liegen umfängliche Tabellen und Karten vor, allerdings geht es vornehmlich um das Vermögen und die fiskalische Leistungskraft der Bevölkerung; eingehendere Bestandsaufnahmen der wirtschaftlichen Grundlagen, wie sie dann im 17. Jahrhundert erfolgten, bleiben aus. Gleichwohl kann v. Hippel hieraus entsprechende Schlussfolgerungen zur sozialen Stratifikation Württembergs im 16. Jahrhundert ableiten. Der Band selbst ist deutlich stärker von Statistiken geprägt. So fehlt zu den Türkensteuerlisten eine Dokumentation, zur Bürgerzählung ist sie recht knapp ausgefallen: Narrative Elemente, wie sie sich bei anderen Datenaufnahmen nach dem Dreißigjährigen Krieg finden lassen, tauchen hier praktisch nicht auf. Wenn man so will, fehlt diesen Daten der dramatische historische Hintergrund. Mochte auch die Abwehr der osmanischen Bedrohung den Impuls für die sog. Türkensteuer und damit diese Datenerhebung darstellen, handelte es sich doch um eine für das Land entfernte Gefahr. Ebenso war der Erhebung am Ende des 16. Jahrhunderts keine Katastrophe vorausgegangen; den innenpolitischen Anstoß wird man im Bereich des Staatsausbaus, nicht eines Retablissements ansetzen müssen. Hiermit sind grundlegende Unterschiede zwischen den Datenaufnahmen des 16. und 17. Jahrhunderts benannt. Diese divergierenden Kontexte wird man zu berücksichtigen haben, auch was die jeweilige Aussagekraft der gesammelten Befunde angeht. Freilich ändert dies nichts daran, dass mit beiden Bänden eine äußerst eindrucksvolle Materialbasis für das Herzogtum Württemberg in der Vormoderne aufbereitet worden ist.

Etwas befremdlich ist, dass Hinweise auf die Laufzeit und den Umfang des Projekts, in dem diese beiden Werke angefertigt wurden, recht dürr ausfallen (Seite V im Vorwort des Bandes zum Dreißigjährigen Krieg); allein für die Türkensteuerlisten wird klar, dass hier Vorarbeiten zugrunde gelegt werden konnten, die bis weit in die 1970er-Jahre zurückreichen (Seite 3 dieses Vorworts). Angesichts derzeit geringer werdender Fördermöglichkeiten zumal für grundlegende Editionen und Quellenwerke ist es umso wichtiger, auf die notwendigen Rahmenbedingungen für wissenschaftliche Grundlagenforschung hinzuweisen, wie sie hier geleistet worden ist.

Michael Kaiser