Rezension über:

Thomas M. Bohn: Minsk - Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945 (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 74), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, XV + 410 S., 35 Abb., ISBN 978-3-412-20071-8, EUR 59,90
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Monica Rüthers: Moskau bauen von Lenin bis Chruščev. Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag, Wien: Böhlau 2007, 363 S., ISBN 978-3-205-77490-7, EUR 35,00
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Rezension von:
Bert Hoppe
Edition Judenverfolgung (EJV), Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Bert Hoppe: Stadtgeschichtsforschung zu Minsk und Moskau (Rezension), in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/01/15597.html


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Stadtgeschichtsforschung zu Minsk und Moskau

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Als Karl Schlögel sein bahnbrechendes Buch "Moskau lesen" veröffentlichte, galt die Beschäftigung mit Stadtgeschichte noch als eher semiprofessionelle Tätigkeit. Nicht zuletzt Schlögels eigene Arbeiten zunächst zu Moskau, dann zu St. Petersburg bewirkten ein Umdenken - paradoxerweise trotz seiner Selbststilisierung als Flaneur durch den städtischen Raum. Jedoch eröffnete gerade diese betont essayistische Annäherung neue Perspektiven, machte auf zuvor unbeachtete Quellen aufmerksam und bewies, dass die Stadt selbst in ihrer gebauten Form als Text gelesen werden kann.

Wie vielfältig die moderne Stadtgeschichtsforschung mittlerweile ist, lässt sich an zwei jüngeren Studien ablesen, die jeweils zwei ehemals sowjetischen Hauptstädten gewidmet sind und die unterschiedlicher in ihrer Herangehensweise kaum ausfallen könnten. Das Buch von Thomas M. Bohn über "Minsk - Musterstadt des Sozialismus" beansprucht mit seinem Untertitel "Stadtplanung und Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945" auch allgemeingültige Aussagen über die sowjetische Stadtentwicklung der Nachkriegszeit zu treffen. Der Band "Moskau bauen von Lenin bis Chruščev" von Monica Rüthers dagegen deutet mit dem Untertitel "Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag" bereits an, dass weniger das Baugeschehen selbst und seine architektonischen und sozialgeschichtlichen Aspekte im Mittelpunkt stehen, als vielmehr die Frage, wie die sowjetische Gesellschaft öffentliche Räume geschaffen und genutzt hat.

Wenig überraschend erscheint der Aufbau von Bohns Arbeit konventioneller, als der des Buches von Rüthers. Nach seiner Einleitung schildert Bohn zunächst die Prämissen der Stadtentwicklung im landwirtschaftlich geprägten Weißrussland, bevor er in drei Abschnitten die Neuplanung der weitgehend kriegszerstörten weißrussischen Hauptstadt, die Ursachen und Folgen der Bevölkerungsexplosion von Minsk nach 1945 sowie die bis 1989 anhaltende Wohnungsnot in der Metropole beleuchtet. Ein letzter Abschnitt ist vier Fallstudien gewidmet, die in mikrogeschichtlicher Nahsicht einige Randbezirke untersuchen und nach dem Verhältnis zwischen den Bewohnern der sozialistischen Musterstadt und der Obrigkeit fragen.

Bei Rüthers dagegen bilden die von ihr ausgewählten fünf Fallstudien das Rückgrat ihres Buches - sie stürzt sich gewissermaßen ins Getümmel und zieht ihre Leserschaft mit sich über die Bürgersteige von Magistralen, durch Hinterhöfe und über wuselige Märkte. Zuvor sind allerdings etwa 60 Seiten diskurstheoretischer Abhandlungen zu überstehen, in denen sie u.a. ausführlich erläutert, wie sich Räume als "öffentlich" und "privat" konstituieren, welche Bedeutung "historische Generationen" für die unterschiedliche Wahrnehmung ein und desselben Raumes haben und wie Räume durch die visuelle Kultur geprägt wurden.

Thomas Bohn kommt mit einem kürzeren Vorlauf aus, dafür verlangt er seinen Lesern im Hauptteil seines Buches ein gerüttelt Maß Durchhaltewillen ab. Recht kurzweilig liest sich noch der Abschnitt über die Stadtplanung der Nachkriegszeit, als die weißrussische Hauptstadt nach dem Vorbild des Moskauer Generalplanes von 1935 grundlegend umgestaltet werden sollte. Spannend ist insbesondere, dass dieses Vorbild von den weißrussischen Architekten und Künstlern keineswegs kritiklos übernommen wurde. Während einer der prominentesten Vertreter des Konstruktivismus öffentlich die vorgeschriebenen klassizistischen Formen als anachronistisch brandmarkte, bemängelte ein Bildhauer die projektierte Magistrale im Zentrum als überdimensioniert und kritisierte somit indirekt den Herrschaftsanspruch einer solchen Architektur. Immer wieder begehrten die weißrussischen Architekten gegen die Dominanz ihrer Moskauer Kollegen auf, die sich in ihren imperialen Entwürfen und deren Bezug auf den "russischen" Klassizismus manifestierte.

Leider gehen derartige Beobachtungen jedoch etwas unter, da sich Bohn mehr dafür interessiert, wie "erfolgreich" die Architekten und die Obrigkeit darin waren, die "sozialistische Stadt" zu schaffen. Er fragt dabei vor allem danach, ob die hochfliegenden Planungen für die Minsker Stadtkrone realisiert wurden, ob das Wohnungsproblem gelöst wurde und welche Maßnahmen Staat und Partei unternahmen, um das explosionsartige Wachstum von Minsk durch die stete Landflucht einzudämmen. Dies schildert Bohn solide, doch leider recht zahlenlastig. Die über 80 Tabellen helfen dem Leser nur wenig, sich ein plastisches Bild der konkreten Lebenswelten in der Stadt zu machen. Zwar flicht Bohn bereits vor dem Schlussabschnitt mit den vier Fallstudien immer wieder sprechende Einzelfälle in seine Darstellung ein, doch gelingt es ihm nicht, diese Quellen zu einer Erzählung zu verbinden. Selbst die Fallstudien sind im Kern lediglich die Zusammenfassung einiger Akten, die für sich genommen faszinierende Einblicke bieten, wie die Bewohner der Stadt das Behördenchaos für sich ausnutzten, jedoch erlauben die Fälle kaum weitgehende Schlüsse.

Dies wirkt sich schließlich auch auf die Überzeugungskraft der zentralen Thesen des Buches aus. Völlig unklar bleibt beispielsweise, worin sich eigentlich die "Verbäuerlichung" von Minsk nach 1945 äußerte, die Bohn zufolge ein entscheidendes Merkmal der Urbanisierung Weißrusslands darstellt: Dass Minsk wegen der Landflucht von Dorfbewohnern überschwemmt wurde und sich diese notgedrungen Holzhäuser zusammenzimmern mussten, weil die staatliche Bauwirtschaft die Wohnungsnachfrage nicht decken konnte, ist lediglich ein Indiz, aber kein Beleg. Um diese Frage zu klären, hätte es eines genaueren Blickes auf die Verhaltensweisen der neuen Bewohner bedurft, und der Diskussion, inwieweit diese durch ihre Herkunft vom Dorf geprägt waren. [1]

Die Studie von Monica Rüthers ist im Vergleich dazu prinzipiell diskursiver angelegt. Das spiegelt sich schon in der grundlegend anderen Quellenbasis nieder. Während sich Bohn vorwiegend auf behördliche Akten stützt, untersucht Rüthers vorrangig die mediale Repräsentation gebauter Räume in Wort und Bild. Obwohl sie somit hauptsächlich veröffentlichte Quellen nutzt, gelingen ihr auf diese Weise überraschende Einblicke, die einerseits wohlbekannte Plätze wie die Tverskaja- oder Gorkijstraße, den Arbat oder den Ljubjanka-Platz in neuem Licht erscheinen lassen, andererseits kaum noch bekannte Orte wie das Neubauviertel Novye Čeremuški im Süden Moskaus oder den 1939 aufgelösten Markt am Sucharevka-Turm auf dem Gartenring beleuchten.

Erhellend ist insbesondere die Fallstudie über die Tverskaja/Gorkistraße, in der Rüthers nachzeichnet, wie diese zentrale Geschäftsstraße des vorrevolutionären Moskaus zunächst von 1935 an zur zentralen Zeremonialachse des 'neuen' Moskaus umgestaltet wird, sich zugleich aber als ein wichtiger Ort der sowjetischen Subkultur etabliert. Es gelingt der Autorin in diesem Zusammenhang, den Leser durch ein Kaleidoskop blicken zu lassen, in dem sich Nahaufnahmen mit Überblicksdarstellungen abwechseln, womit die Fallstudie weit über den geografischen Ort hinausweist. So werden Bögen geschlagen von Details wie dem Konflikt um die Marmorverkleidung der Neubauten (bei dem die Architekten gegen das knauserige Ministerium argumentierten, die roten Platten erinnerten an den Sieg über die Deutschen, da sie für deren geplantes Siegesdenkmal gedacht waren) bis zum sowjetischen Kolonialstil in der Architektur, und von den frierenden Demonstranten, die in der Gorkijstraße auf ihren Marsch über den Roten Platz warten bis zu den "Stiljagi" der späten 50er Jahre am Hotel National. Letztere waren Angehörige einer jugendlichen Gegenkultur, die die Obrigkeit damit provozierten, dass sie die Gorkijstraße ganz anders nutzten, als vorgesehen - indem sie nämlich die breite Zeremonialachse mit ihren Luxusgeschäften zum "Brodvej" deklarierten und sich betont hedonistisch, also unpolitisch, gaben. Natürlich war ein solches Verhalten gerade deshalb höchst politisch, schließlich wurde auf diese Weise die parteioffizielle Aufhebung der Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre rückgängig gemacht, indem ausgerechnet in Sichtweite des Kreml' individuelle Freizeitgestaltung vorexerziert wurde.

Das Gegenstück zu dem explizit öffentlichen Raum der Straße bietet das Neubauviertel Novye Čeremuški, wo sich für die Partei ebenfalls das Problem ergab, wie sie ihre Vorstellung von Öffentlichkeit durchsetzen sollte. Denn einerseits symbolisierte dieses Musterwohnviertel den Beginn des Massenwohnungsbaus, der endlich das Wohnungsproblem lösen sollte, andererseits zeichnete sich ab, dass der Bevölkerung mit dem Umzug aus der Zwangsgemeinschaft der "Kommunalka" in die neuen Wohnungen ein bislang ungekanntes Maß an Privatsphäre zugestanden wurde. Das ambitionierte Siedlungsprojekt wurde daher sowohl von einer breiten medialen Kampagne gegen den "Kitsch" flankiert, die demonstrieren sollte, wie "zeitgemäßes" Wohnen auszusehen hatte und in der charakteristischerweise der zentrale Familientisch fehlte, als auch durch ein "Haus des Neuen Lebens" ergänzt, bei dem die Wohnungen durch Gemeinschaftseinrichtungen flankiert wurden, die die "Isolation der Familien" aufbrechen sollten.

Rüthers widersteht allerdings der Versuchung, die Kategorien "privat" und "öffentlich" als unvereinbare Gegensätze einander gegenüber zu stellen. Erhellender ist das Konzept der Ambivalenz, mit dem sich die damaligen Lebenswelten sehr viel besser begreifen lassen. Aufgrund der Erkenntnis, dass die erfahrenen Gegensätze letztlich unauflösbar waren und somit irgendwie ausgehalten werden mussten, bewegten sich die Akteure in verschiedenen Räumen und in unterschiedlichen Rollen: Junge Männer, die tagsüber angepasst ihren Berufen nachgingen, legten abends auffällige Krawatten an, um in der "Koktejl chol" zu feiern; wer sich über die mangelhafte Wasserversorgung in seiner Wohnung ärgerte, konnte zugleich stolz auf die moderne Metro und die mondänen Geschäfte auf dem Neuen Arbat sein - jene "Inseln des Sozialismus", die zugleich Versprechen auf eine bessere Zukunft waren, als auch die temporäre Möglichkeit boten, diese Zukunft schon in der Gegenwart zu genießen. Diese Differenzierungen ermöglichen weit tiefere Einblicke in die Funktionsweisen der sowjetischen Diktatur, als alle Zahlenkolonnen über die Mängel der sowjetischen Bauwirtschaft.


Anmerkung:

[1] Beispielhaft wird diese Frage diskutiert in: Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau 1945, Berlin 2003 und David L. Hoffmann: Peasant Metropolis. Social Identities in Moscow, 1929-1941, Ithaca 1994.

Bert Hoppe