Rezension über:

Hubertus Gaßner (Hg.): Edgar Degas. Intimität und Pose, München: Hirmer 2009, 333 S., ISBN 978-3-7774-9035-9, EUR 45,00
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Rezension von:
Sonja Maria Krämer
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ekaterini Kepetzis
Empfohlene Zitierweise:
Sonja Maria Krämer: Rezension von: Hubertus Gaßner (Hg.): Edgar Degas. Intimität und Pose, München: Hirmer 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 1 [15.01.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/01/15986.html


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Hubertus Gaßner (Hg.): Edgar Degas

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"Bislang ist der Akt immer in Posen dargestellt worden, die ein Publikum voraussetzen, aber diese Frauen von mir sind ehrbare, einfache Menschen, die sich nur für ihren physischen Zustand und für nichts anderes interessieren. [...] Es ist, als ob man durch ein Schlüsselloch schaut." (52)

Die berühmte Aussage, die Degas dem Schriftsteller George Moore gegenüber getroffen hat, bezieht sich auf seine künstlerische Auseinandersetzung mit der Darstellung des weiblichen Körpers insbesondere in den 1880er-Jahren. Unter dem Titel "Intimität und Pose" widmet sich der Katalog zur gleichnamigen Ausstellung der Hamburger Kunsthalle dem Motiv des weiblichen Akts im Œuvre von Edgar Degas. Das Thema präsentiert sich vor allem in Gestalt der Bronzeplastiken, die posthum von 1919 bis 1921 nach Degas' Wachsstatuetten gegossen wurden. Die vollständige Sammlung aller 73 Bronzen, darunter auch zahlreiche Pferdeplastiken, wurden vom Museo de Arte de Sao Paulo Assis Chateaubriand zur Verfügung gestellt. In der Zusammenstellung mit ausgewählten Arbeiten, die sich von Studien für frühe Historienbilder über Gemälde, Zeichnungen und Monotypien von Tänzerinnen und Prostituierten bis zu den Toiletteszenen der späten Pastelle erstrecken, nimmt die Präsentation auch den Prozess der Bildherstellung bei Degas in den Blick. Ausstellung und Publikation wurden zu großen Teilen aus der zuvor in der Fundación MAPFRE in Madrid stattgefundenen Ausstellung "Degas. El proceso de la creación" übernommen, die diesen Aspekt im Titel hervorhebt. [1]

Der aufwendig ausgestattete Katalog enthält neben dem Vorwort des Direktors der Hamburger Kunsthalle, Hubertus Gaßner, sieben Beiträge zumeist namhafter Degas-ForscherInnen. Bis auf die bereits an anderer Stelle publizierten Aufsätze von Patrick Bade ("Bühne - Bordell - Boudoir", 38-57) und William Tucker ("Schwere bei Rodin und Degas", 94-105) [2] wurden sie dem Madrider Katalog entnommen und liegen nun in leicht geänderter Reihenfolge in deutscher Übersetzung vor.

Bei Werner Hofmanns Beitrag "Ein Mann im Abseits" (10-31) handelt es sich um eine Zusammenfassung der Hauptaspekte seiner 2007 erschienenen Degas-Monografie. Der seitenstärkste Aufsatz des Kataloges trägt auch den Titel des ersten Kapitels von Hofmanns Buch. [3] Pablo Jiménez Burillo, Direktor der Fundación MAPFRE, bespricht in seinem Aufsatz den Schaffensprozess bei Degas (32-37). Er versteht das Œuvre des Künstlers als einen Prozess, der sich aus der Suche nach innovativen Sichtweisen auf seine Umwelt speist und dabei hoch künstliche Bildrealitäten erzeugt. Nadia Arroyo Arces Beitrag zu Degas' berühmtester Plastik "Petite danseuse de quatorze ans" (58-63) fasst in kurzer Form die wichtigsten Informationen zu Degas' einziger zu Lebzeiten ausgestellter Plastik zusammen. Dabei stützt sie sich hauptsächlich auf Ergebnisse des Ausstellungskatalogs "Degas and the Little Dancer" von Richard Kendall. [4] Richard Thomson widmet sich Degas' intermedialer Arbeitsweise zwischen Zeichnung, Skulptur und Pastellmalerei (64-79). Dabei geht er von dessen Kopien nach alten Meistern aus und verbindet diese konventionelle Atelierpraxis mit seinen experimentelleren Arbeiten des Spätwerks. Philippe Saunier schließlich beleuchtet Degas' künstlerische Auseinandersetzung mit der Pastellmalerei ab den 1870er-Jahren (80-93). Neben der guten Verkäuflichkeit der preisgünstigeren Pastellarbeiten sei es ihre matte Textur, durch welche sich ähnliche Farbeffekte wie in den von Degas bewunderten Fresken der italienischen Renaissancemeister erzielen ließen. Gleichzeitig würde das Medium in seiner Eigenschaft als Stift und Pinsel den seit der Renaissance diskutierten Gegensatz zwischen Zeichnung und Farbe versöhnen.

Im folgenden Katalogteil sind die Ausstellungsobjekte nach inhaltlichen Motivgruppen abgebildet. Diese Einteilung veranschaulicht die unterschiedlichen Medien Zeichnung, Malerei, Plastik und druckgrafische Verfahren, in denen Degas die Sujets umgesetzt hat. Besonders hervorzuheben sind die Abbildungen der Bronzearbeiten, die zum Teil auf Frank Horvats Fotografien von 1990 nach Degas' Bronzen im Musée d'Orsay zurückgreifen: Aus unterschiedlichen Perspektiven wird mittels einer subtilen Beleuchtung die Oberflächenmodellierung der Objekte auch in den Reproduktionen sichtbar gemacht.

Im Anhang wurde Alice Michels Kurzgeschichte "Degas und sein Modell" wiederabgedruckt, die bereits in dem 1988 erschienenen Sammelband "Wege zu Edgar Degas" einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich war. [5] Neben der sehr gut recherchierten Künstlerbiografie von Mareike Wolf findet sich eine Bibliografie, welche den aktuellen Forschungsstand für die Ausstellungsobjekte und die Thematik des Schaffensprozesses bei Degas zusammenfasst.

Es ist bedauerlich, dass die hier aufgeführte Literatur keine stärkere Berücksichtigung in den einführenden Katalogbeiträgen gefunden hat. Zwar distanziert sich der Katalog in Hubertus Gaßners Vorwort vom Anspruch, neue wissenschaftliche Forschungsleistungen zu erbringen. Diesbezüglich verweist er auf die Ergebnisse des 2002 erschienenen "Catalogue Raisonné" zu Degas' plastischem Werk. [6] Dennoch hätte die Einbeziehung auch einiger feministischer Forschungspositionen zu Degas' künstlerischen Strategien in Bezug auf Darstellung und Wahrnehmung des weiblichen Körpers die Überlegungen der AutorInnen in differenzierter und der klugen Objektkombination angemessener Weise bereichern können. [7]

Die Beiträge der AutorInnen setzen mittels einer Vielzahl meist farbiger und qualitativ hochwertiger Abbildungen auf Anschaulichkeit und bieten auch dem interessierten Laien eine gut lesbare Einführung in die unterschiedlichen Aspekte im Œuvre des Künstlers. Der Katalog überzeugt vor allem durch die großzügige Bebilderung mit den hervorragenden Fotografien der Bronzestatuetten. Sie ermöglichen die Betrachtung der Plastiken aus unterschiedlichen Perspektiven und überwinden auf diese Weise eine einseitige Betrachtungsweise "durch ein Schlüsselloch".


Anmerkungen:

[1] Pablo Jiménez Burillo (ed.): Degas. El proceso de la creación, Ausst. Kat., Fundación MAPFRE, Instituto de Cultura (14. Oktober 2008 bis 6. Januar 2009), Madrid 2008.

[2] Patrick Bade: Edgar Degas, New York 2000 (dt.); William Tucker: Gravity, Rodin, Degas, in: Studio International 186 (1973), 25-29 sowie dt. als Gravität, Rodin, Degas, in: Wege zu Edgar Degas, hg. von Wilhelm Schmid, München 1988, 341-354.

[3] Werner Hofmann: Degas und sein Jahrhundert, München 2007; vgl. die bei sehepunkte erschienene Rezension von Christian Berger: sehepunkte 8 (2008), Nr. 5 [15. 05. 2008], URL: http://www.sehepunkte.de/2008/05/13758.html

[4] Richard Kendall (ed.): Degas and the Little Dancer, Ausst. Kat., Joslyn Art Museum, Sterling and Francine Clark Institute, The Baltimore Museum of Art, New Haven / New York 1998.

[5] Wege zu Edgar Degas (wie Anm. 2), 142-188; zuerst frz. als "Degas et son modèle", in: Mercure de France, 16. Februar 1919.

[6] Joseph Czestochowski / Anne Pingeot: Degas. Sculptures. Catalogue Raisonné of the Bronzes, Memphis 2002.

[7] Anthea Callen: The Spectacular Body. Science, Method and Meaning in the Work of Edgar Degas, New Haven / London 1995; Richard Kendall / Griselda Pollock (ed.): Dealing with Degas. Representations of women and the politics of vision, London 1992; Eunice Lipton: Looking into Degas. Uneasy Images of Women and Modern Life, Berkeley / Los Angeles 1986; Linda Nochlin: Representing women, London 1999.

Sonja Maria Krämer