Rezension über:

Nicole Waibel: Nationale und patriotische Publizistik in der Freien Reichsstadt Augsburg. Studien zur periodischen Presse im Zeitalter der Aufklärung (1748-1770) (= Presse und Geschichte - Neue Beiträge; Bd. 31), Bremen: edition lumière 2008, 462 S., ISBN 978-3-934686-53-3, EUR 44,80
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Tristan Coignard
Université Michel de Montaigne, Bordeaux
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Tristan Coignard: Rezension von: Nicole Waibel: Nationale und patriotische Publizistik in der Freien Reichsstadt Augsburg. Studien zur periodischen Presse im Zeitalter der Aufklärung (1748-1770), Bremen: edition lumière 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/04/16516.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Nicole Waibel: Nationale und patriotische Publizistik in der Freien Reichsstadt Augsburg

Textgröße: A A A

Im Kontext des 200. Jubiläums derjenigen Ereignisse, die das Ende des Alten Reiches einleiteten und besiegelten, hat auch die Forschung über die "nationale Sattelzeit" zwischen den 1740er und den 1820er Jahren einen deutlichen Aufschwung erlebt. Dabei hat sich herauskristallisiert, dass zu dieser Zeit nationale Denk- und Deutungsmuster äußerst differenziert artikuliert werden konnten und dass es nicht möglich ist, einheitliche Vaterlandskonzepte zu erkennen. Von dieser Feststellung geht auch die Studie von Nicole Waibel (14-15) aus, die sich anhand eines Fallbeispiels vornimmt, Forschungsdefizite bei der Beschäftigung mit der Presse in Süddeutschland zu kompensieren und den bereits mehrmals in Frage gestellten Topos einer Rückständigkeit der Aufklärung im süddeutschen Raum endgültig zu widerlegen.

Ziel der umfassenden Analyse des Augsburger Pressewesens, die auf eine 2006 eingereichte Dissertation zurückgeht, ist es, ein differenziertes Panorama der Vaterlandsdiskurse in der Presse einer süddeutschen Reichsstadt zwischen 1748 und 1770 zu liefern und "die Vermittlung patriotischer und nationaler Vorstellungen in der Augsburger Presse aufzuzeigen" (24). Die Fragestellung, die in dieser Fallstudie mit dem Thema "Reichsstadt und Patriotismus" verbunden ist, ist umso bedeutsamer, als Augsburg als "Sondererscheinung" (24) im Reich angesehen werden kann. Vor allem der konfessionelle Ausnahmestatus Augsburgs macht die Untersuchung der Vermittlungsformen und der Argumentationsstrategien zu einer vielversprechenden Herausforderung. Da die paritätische Verfassung dazu führte, dass es sowohl katholische als auch protestantische Herausgeber gab und dass einige Publikationen Leser beider Glaubensbekenntnisse hatten, rückt die Berücksichtigung der konfessionellen Zugehörigkeit in den Mittelpunkt des Interesses.

Dementsprechend wurden die publizistischen Quellen und die methodischen Ansätze auch gewählt. Dank einer quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse wird ein breites Spektrum von publizistischen Quellen und kommunikativen Prozessen ins Auge gefasst. Als Quellengrundlagen werden Pressemedien (Der Augsburgische Intelligenz-Zettel, Der Apotheker, Die Augspurgische Ordinari Post-Zeitung) herangezogen, die sich nach Gattung, Zielsetzung, Erscheinungsdauer, Leserschichten sowie nach Verbreitungsraum unterscheiden. Nicole Waibel bemüht sich dabei, die "sozialen und didaktischen Funktionen" der Periodika sowie "Zielsetzung und Motivation der Verleger" herauszuarbeiten (29). Diese Absichten spiegeln sich im Aufbau der Arbeit wider: Nach einer kurzen biographischen Vorstellung von drei Publizisten - dem protestantischen Verleger Johann Andreas Erdmann Maschenbauer, dem katholischen Kupferstecher Jacob Andreas Friedrich der Jüngere, dem katholischen Drucker Joseph Anton Moy der Ältere -, die auch die an der Veröffentlichung der Pressemedien beteiligten Netzwerke berücksichtigt, werden die Publikationen nach Kriterien der Gattungszugehörigkeit, nach Erscheinungsperiodizität und stilistischen Spezifika untersucht.

Für jedes analysierte Presseorgan werden anschließend Schwerpunkte herausgearbeitet. Ein bedeutender Teil von Nicole Waibels Beweisführung ist der Thematisierung und der inhaltlichen Weiterentwicklung des patriotischen Diskurses gewidmet. Mit dem ausdrücklichen Verweis auf Benedict Anderson setzt sich die Studie mit der Entstehung nationaler Imaginationen über den Zeitraum des Siebenjährigen Krieges, der Debatte über den Nationalgeist und der literarischen Bestimmung des "Deutschen" um 1770 auseinander. Eine herausragende Rolle spielte hier laut Nicole Waibel der Verleger Maschenbauer (1719-1773), dessen Augsburgischer Intelligenz-Zettel das Themenspektrum der nationalen Identität auf sehr ausführliche Weise abdeckt. Die sehr detaillierte Analyse der "nationalen und patriotischen Leitbilder" stellt das wohl gelungenste Kapitel der Studie dar (144-274), indem sie insbesondere auf die Auseinandersetzung mit dem Germanenmythos in den Jahren bis zum Ende des Siebenjährigen Kriegs eingeht. Damit wird deutlich, dass sich die Nationalidentität einerseits durch Völkerstereotype und durch eine "negative Kontrastierung" (162) mit den zeitgenössischen Verhältnissen definieren lässt. Andererseits spielte die Ablehnung der Orientierung am französischen Lebensstil eine wesentliche Rolle in der Entstehung der Nationalidentität, wie es der im Augsburgischer Intelligenz-Zettel veröffentlichte Aufsatz von Michael von Loen beweist (163-166). Nicole Waibel löst in dieser Hinsicht ihre Ausgangshypothese ein und zeigt auf überzeugende Weise, wie vielschichtig der Patriotismus-Diskurs in den genannten Pressemedien war. Als besonders bemerkenswert erweisen sich die publizistischen Ausführungen zum reichstädtischen Patriotismus, weil sie, so Nicole Waibel, verdeutlichen, dass die lokale Ebene auch im 18. Jahrhundert ein wichtiger Bezugspunkt für die Identitätskonstruktion blieb (siehe dazu vor allem 249-254). Im Hinblick auf die neuere Nationalismusforschung erweist sich dieses Ergebnis als Bestätigung der Annahme, dass sich kollektive Identitätsbildung und entsprechende patriotische Diskurse nur mit Rücksicht auf das Spannungsfeld von Heimat, Region und Nation erklären lassen.

Auf Grund ihres ehrgeizigen Ziels lässt die Studie dennoch einige Fragen offen: In ihrer Studie ist Nicole Waibel den theoretischen Ansätzen der konstruktivistischen Wende in der Nationalismusforschung gefolgt und hat die Medien- und Kommunikationsrevolution als eigentlichen Auslöser der nationalen Diskurse ausgemacht. Diese von Karl W. Deutsch ausgehende medienhistorische Perspektive hätte noch konsequenter weitergeführt werden können, wenn Nicole Waibel auch der Frage nach der Diskussion zwischen den publizistischen Organen nachgegangen wäre. Obwohl es in den verschiedenen Presseorganen Überschneidungen in thematischen Fragen gibt, werden mögliche Kontakte nicht erwähnt. Gab es keinen Diskussionsbedarf unter den Publizisten, die in Augsburg aktiv waren? Dies wäre angesichts der allgemeinen Kommunikationsstruktur des deutschen Pressewesens im 18. Jahrhundert erstaunlich: Ist das vielleicht auf die von Nicole Waibel festgestellte Tatsache zurückzuführen, dass in "der Stadt [...] eine entschiedene Förderung des Pressewesens durch eine breite, gebildete Elite wohl ebenso wie durch gelehrte Gesellschaften und ein aufnahmebereites Publikum" fehlte (392) und dass es somit wenig Debattierforen gab? Oder auf die unterschiedliche konfessionelle Zugehörigkeit der Herausgeber und Autoren, die den Austausch von Ideen und Ansichten gebremst hat, weil keine einheitliche Öffentlichkeit gegeben war? Eine Antwort auf diese Fragen hätte dem Themenkomplex der Beziehungen zwischen Nationalidentität und Konfessionalisierung anregende Impulse verliehen.

Mit ihrem Buch ist es der Autorin gelungen, deutlich zu machen, dass in der Reichstadt Augsburg zwischen 1748 und 1770 unterschiedliche Auffassungen des Patriotismus parallel miteinander entwickelt wurden und dass somit der nationale Diskurs keineswegs auf "das lange 19. Jahrhundert" beschränkt werden kann. Wie Nicole Waibel passend zusammenzufassen weiß, spielten "bereits um die Jahrhundertmitte [...] Diskurse um die deutsche Nation [...] eine prägende Rolle für die Bewusstseinsbildung einer über eine gebildete Elite hinausgehenden Öffentlichkeit" (393). Damit erhält das süddeutsche Pressewesen eine fundierte wissenschaftliche Beachtung, die dessen Beitrag zur Entstehung der deutschen Identität unterstreicht.

Tristan Coignard