Rezension über:

Stefan Muthesius: The Poetic Home. Designing the 19th-Century Domestic Interior, London: Thames & Hudson 2009, 352 S., ISBN 978-0-500-51419-1, GBP 39,95
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Rezension von:
Andreas Nierhaus
Wien Museum
Redaktionelle Betreuung:
Stefanie Lieb
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Nierhaus: Rezension von: Stefan Muthesius: The Poetic Home. Designing the 19th-Century Domestic Interior, London: Thames & Hudson 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/05/15818.html


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Stefan Muthesius: The Poetic Home

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"Imagining the home was one of the 19th century's main preoccupations" hält Stephan Muthesius in seiner neuen, umfangreichen und mit zahlreichen qualitätvollen Abbildungen ausgestatteten Studie über das "poetic home" des 19. Jahrhunderts fest und unterstreicht damit die außergewöhnliche Bedeutung, die das Wohnen während des vorvergangenen Jahrhunderts erlangte (155). Jede Auseinandersetzung mit dem Thema - das stellt Muthesius gleich zu Beginn klar - ist bis heute von der Interpretation der "Moderne" des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts geprägt: In den mit den Spuren des Vergangenen überladenen Interieurs des Historismus und ihrem horror vacui beredter Dinge erkannte man das Feindbild einer aufgeklärten, rationalen und letztlich funktionalistischen Gestaltung der unmittelbaren Lebensumgebung. Muthesius kann und will "the modernists' condemnation" (25), die Verdammungen und Verwünschungen, die die Moderne den Wohnwelten ihrer Väter- und Großvätergeneration angedeihen ließ, nicht ungeschehen machen; er zeigt jedoch auf, das selbst noch das Wohnen der Gegenwart von den Vorstellungen jener Zeit bestimmt ist, "using a language of form, space and textural effects that largely developed during the later 19th century" (25).

In sechs Kapiteln behandelt Muthesius Entwurf und Ausstattung des europäischen bzw. europäisch beeinflussten Wohninterieurs ("domestic interior") von etwa 1800 bis zur Mitte der 1890er-Jahre und geht dabei vom Begriff des "poetic home" aus, einem Schlagwort der Zeit, das "Atmosphäre" und "Charakter" als Gestaltungsziel des Wohnraums anzeigen sollte. Muthesius beschränkt sich jedoch nicht auf eine Diskursanalyse des "Poetischen" im Wohnen des 19. Jahrhunderts, sondern legt die künstlerischen, technischen, psychologischen, soziologischen und ökonomischen Zusammenhänge bei der Entstehung von Interieurs und der Ausbildung bestimmter Modi des Einrichtens anhand zahlloser zeitgenössischer Schrift- und Bildquellen - vorwiegend deutschsprachiger, englischer und französischer Provenienz - frei. Er analysiert das Netzwerk aus Handwerkern, Händlern, Designern und Kritikern, das zur Ausstattung der Wohnräume etabliert wurde und diese zugleich propagandistisch und reflexiv begleitete.

Der Schwerpunkt von Muthesius' Interesse liegt allerdings nicht auf jenen Strömungen, die heute (wie etwa das englische "Arts and Crafts Movement") gemeinhin als "Wegbereiter" oder "Pioniere" der Moderne des 20. Jahrhunderts verstanden werden - es geht dem Autor vielmehr um ein tieferes Verständnis der Entstehungsbedingungen des (groß-)bügerlichen und zugleich "normalen" Interieurs des 19. Jahrhunderts, um die ebenso charakteristische wie bisweilen ernüchternde Masse oftmals anonymer Interieurs, deren Veröffentlichung auf einschlägige Periodika und Ratgeberliteratur beschränkt blieb. In diesem Material liegt die Herausforderung, nicht anhand etablierter und fixer Größen von einem Höhepunkt zum nächsten gleichsam "evolutionär" fortschreiten zu können, sondern im Gegenteil die meist ignorierten Niederungen der Konvention aufsuchen zu müssen.

Kapitel 1 ("A Poetic Everyday Home?") beobachtet zunächst die folgenreiche Transformation von "house" zu "home" zwischen 1800 und 1870. "Home", so Muthesius, wurde zu einem Ort der Kunst, weil dieses "Heim" als Ideal beschworen wurde: "Domesticity was then declared a major sphere of the poetic, and the main task of art and poetry was to affirm and to praise the moralists' and sociologists' stance." (27) Im zweiten Kapitel ("Art in the Home: A New Discourse") untersucht Muthesius die Rolle und das Interagieren von Designern, Architekten, Handwerkern, Händlern, Käufern und der beteiligten Medien (Magazinen, Katalogen) und damit die grundlegende Modernisierung des Einrichtungswesens im 19. Jahrhundert. Die "Poesie" des Heims wurde nun von dem neuen Genre der Wohnratgeber-Literatur beschworen, die wiederum maßgeblich am neuen Diskurs des künstlerischen Heims bzw. der "Kunst im Hause" beteiligt waren. Auch der Konflikt zwischen der Kommerzialisierung des Interieurs und dem gleichzeitigen Anspruch auf die "Kunst im Hause" wird untersucht (50-51).

Das umfangreiche dritte Kapitel ("The Unified Interior: From Decoration to Design") widmet sich den Materialien und der Materialität des Interieurs, der Rolle dekorativer Objekte, deren Arrangement und Präsentation oft wichtiger waren als ihr Einzelwert (119). Über die Untersuchung der unterschiedlichen Möglichkeiten, einem Interieur durch ganzheitliche Gestaltung "Form" zu geben, kommt Muthesius zur "Picturesqueness": Der Wohnraum wird zum "malerischen" Milieu, jedoch nicht als statisches Bild, sondern als abwechslungsreiches Setting, das stets neue und überraschende Einblicke erlauben soll (148). Diese "malerische" Verfassung des Interieurs ist jedoch nicht das Ergebnis von simpler Unordnung und bloßem horror vacui, sondern "a more sophisticated method of coordinating a room" (150).

In Kapitel 4 ("Atmosphere") treten die von Kritikern und Architekten imaginierten, fiktiven BenutzerInnen des Interieurs auf - es werden Aspekte und Ideale von "Privacy" und "Domesticity" ebenso beschrieben wie jenes unbegrenzte soziale Idyll ("Idylls unlimited"), das im "Heim" manifest werden sollte. Einzelnen Räumen einen bestimmten "Character" - so der Titel des anschließenden Kapitels - zuzuschreiben, war eine besondere Eigenschaft des von Muthesius untersuchten Zeitraums. Hier nun handelt der Autor die unterschiedlichen Stile ab, die im Interieur des 19. Jahrhunderts angewandt werden konnten und widmet sich ausführlich nationalen und regionalen Teilphänomenen und ihrer jeweiligen Kodifizierung, etwa dem "Old English", dem "Altdeutschen" oder dem "Old Colonial" in Amerika.

Im abschließenden Kapitel 6 ("A Disparate Legacy") erst betritt der "real user" die Szene - Muthesius beschreibt, dass das theoretische Postulat des poetischen und glücklichen Wohnens in der Praxis nicht lange bestehen konnte. So forderte Cornelius Gurlitt schon 1888, dass das Interieur den individuellen Bedürfnissen anzupassen sei, es somit zwangsläufig auch die Brüchigkeit des Lebens in der modernen Gesellschaft widerspiegeln müsse und damit kein allgemein gültiges stilistisches bzw. formales Regelwerk länger als die jeweilige Mode Gültigkeit besitzen könne (304).

Eigenartig an dieser Untersuchung zur "interiority" (11) des 19. Jahrhunderts erscheint, dass die in diesem thematischen Zusammenhang sich gleichsam aufdrängende Frage nach der Konstruktion und Zuschreibung von "Geschlecht" und "Raum" praktisch keine Rolle spielt. Aber auch die vielfältige und aufschlussreiche zeitgenössische Rezeption des Interieurs in der Literatur und den Bildkünsten findet kaum Berücksichtigung. Weiterhin sei angemerkt, dass Muthesius - anders, als der Titel des Buches suggeriert - Beginn und Ende des Jahrhunderts in seiner Darstellung weitgehend vernachlässigt, was sich bei allem Verständnis für die Notwendigkeit der Beschränkung als problematisch erweist: Zentrale Etappen in der Geschichte des "modernen" Interieurs und der damit verbundenen Diskurse, die das Geschehen im dazwischen liegenden Säkulum wohl nicht nur besser verständlich gemacht, sondern auch die Verbindungen zum 20. Jahrhundert stärker in den Vordergrund gerückt hätten, bleiben damit ausgespart. Dennoch: Mit "The poetic home" liegt nun ein bislang fehlendes und künftig wohl unerlässliches Grundlagenwerk zum europäischen Interieur des 19. Jahrhunderts vor, das - trotz mancher nur schwer nachvollziehbarer "blinder Flecken" - aufgrund seiner unzähligen klugen Beobachtungen und Analysen, aber auch durch viele Verweise auf schwer zugängliche Quellen als Basis für weitere Forschungen auf diesem Gebiet dienen wird.

Andreas Nierhaus