Rezension über:

Heinz Duchhardt (Hg.): Russland, der Ferne Osten und die "Deutschen" (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Beiheft 80), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 128 S., ISBN 978-3-525-10092-9, EUR 29,90
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Rezension von:
Eva-Maria Stolberg
Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Eva-Maria Stolberg: Rezension von: Heinz Duchhardt (Hg.): Russland, der Ferne Osten und die "Deutschen", Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 5 [15.05.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/05/17698.html


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Heinz Duchhardt (Hg.): Russland, der Ferne Osten und die "Deutschen"

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Man könnte meinen, dass Sibirien und der Russische Ferne Osten auf der deutschen "mental map" eine fernab gelegene Region und damit eine kulturgeschichtliche Marginalie darstellt - dem ist aber keineswegs so. Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von Heinz Duchhardt, Direktor des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte, geht auf Spurensuche nach der deutschen Wirkungsweise bzw. dem deutschen Einfluss am "anderen Ende" Russlands.

Bei den Beiträgen, die sehr unterschiedlicher Qualität sind, handelt es sich tatsächlich mehr um eine Spuren-Suche als um eine tatsächliche Tiefenanalyse. Das Thema dreht sich vor allem um wissenschaftliche Expeditionen und die Kartografie im 18. und 19. Jahrhundert. Zweifellos spielten Deutsche seit Zar Peter dem Großen und Katharina II. eine maßgeblich Rolle in den deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen. Vieles ist dabei allerdings schon bekannt, denkt man an die einschlägigen Veröffentlichungen der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Hier sind vor allem die Arbeiten von Wieland Hintzsche/Thomas Nickol über die Große Nordische Expedition, sowie die Quellen zur Geschichte Sibiriens und Alaskas aus den russischen Archiven zu nennen.

Vor diesem Hintergrund wirkt dieser Band eher blass, obwohl durchaus interessante Bezüge hergestellt werden. Die Rezensentin vermisst einen klaren methodischen Faden, vor allem die ersten Beiträge schweifen vom eigentlichen Thema an. Den Einstieg bietet Christine Roll mit ihren Ausführungen über die Entwicklung der Kartografie zu Sibirien am Übergang vom späten Mittelalter zur frühen Neuzeit. Insgesamt handelt es sich bei Rolls Beitrag um den mit Abstand konzisesten. Detailliert beschreibt sie das kartografische Herantasten auf einer terra incognita, die noch bis ins 18. Jahrhundert als "Große Tatarei" in Europa bekannt war. Tatsächlich, und das kommt in Rolls Aufsatz klar heraus, war die Entwicklung der Kartografie zu Sibirien ein europäisches Unternehmen. Mehr noch, die spätere russische Kartografie ab dem 18. Jahrhundert wurde maßgeblich von europäischen Vorgaben geprägt und wurde dadurch erst "modern". Überzeugend schildert Roll den europäischen Kulturtransfer von West nach Ost, auch wenn der deutsche Beitrag eher nebulös erscheint. Auch in methodischer Hinsicht ist Rolls Aufsatz sehr lesenswert. Leider sind die abgedruckten Karten zu undeutlich.

Dittmar Dahlmann referiert über die russisch-chinesischen Beziehungen, wobei er einen sehr weiten Bogen vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts schlägt. Auch bei diesem Thema handelt es sich eher um ein gesamteuropäisches, wenn man z.B. an die Gesandtschaft des aus dem Fürstentum Moldau stammenden Gesandten Nikolaj G. Spatharij denkt. Auch dies hat nicht wirklich etwas mit der deutschen Präsenz zu tun, abgesehen von dem in Lübeck beheimateten Kaufmann Adam Brand, der an der Ysbrant Ides-Mission nach China Ende des 17. Jahrhunderts teilnahm. Der Bericht ist 1999 von Michael Hundt editiert worden. Das Li-fan yuan war übrigens kein "Hof der kolonialen Angelegenheiten", sondern ein "Amt für Protokolle", das den Umgang mit ausländischen Gesandtschaften reglementierte. Den chinesischen Kaisern war ein "Kolonialismus" fremd.

Eugenia Massold springt ins 18. und frühe 19. Jahrhundert und widmet sich vor allem ethnologischen Forschungen im Altaj. Hier treten dann tatsächlich vor allem deutsche Forscher auf wie z.B. Alexander Theodor von Middendorf, Alexander Gustav Schrenk und schließlich natürlich Alexander von Humboldt. Wie diese Forscher in ihren Arbeiten voneinander profitierten, inwieweit es also eine Linie deutscher Forschungstradition gab, bleibt in ihrem Beitrag allerdings vage. Interessant wäre auf jeden Fall gewesen, inwieweit sich in Deutschland des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine sibirienspezifische Fachdiskussion (u.a. in der ethnologischen Forschung) entwickelt hat. Dezidierter fällt dagegen der Beitrag von Diana Ordubadi über den Arzt Carl Heinrich Merck und seine Beteiligung an der Billings-Saryčev-Expedition (1785-1795) aus. Interessant sind nicht nur die landeskundlichen Aufzeichnungen dieses in vieler Hinsicht begabten Mannes, sondern gerade auch seine wissenschaftliche Vernetzung, wobei vor allem seine persönlichen Kontakte zu Peter Simon Pallas eine Rolle spielten. Auch bei Joseph Rehmann, dessen Werdegang Heinz Duchhardt beleuchtet, handelte es sich um einen deutschen Arzt. Er setzte sich z.B. für die Durchführung der Pockenimpfung in Sibirien ein.

Überhaupt ist auffällig, dass unter den deutschen Sibirienforschern nicht wenige Ärzte waren - so auch noch im 20. Jahrhundert wie der deutschbaltische Arzt Traugott von Stackelberg (serbische Edition Voljeni Sibir. Herausgegeben von Milorad Sofronijevic mit einem Vorwort von E.-M. Stolberg, Beograd 2009). Der Kölner Osteuropahistoriker Andreas Renner hat erst kürzlich eine Habilitationsschrift über das Wirken deutscher Ärzte im Russländischen Reich seit dem 18. Jahrhundert vorgelegt. Schließlich beschäftigt sich Jan Kusber mit der Weltumsegelung des Deutschbalten Fedor P. Litke (Lütke) (1797-1882). Kusber deutet hier nur an, was tatsächlich in eine methodische Einführung zu dem Sammelband hineingepasst hätte, die Tatsache nämlich, dass das Russländische Imperium mit der Einverleibung des Baltikums infolge des Nordischen Krieges eine deutschsprachige Elite an Wissenschaftlern (aber auch Militärs) gewann, die zum einen als kultureller Vermittler zwischen Deutschland und Russland (bei gleichzeitiger Loyalität zur russischen Regierung) fungierte, zum anderen den Weg für zahlreiche "Reichsdeutsche" nach Russland, darunter auch nach Sibirien ebnete. Dies hätte die Leitfrage des Sammelbandes sein müssen. Darüber hinaus ist die einseitige Perspektive des Buches zu bemängeln. Es waren nicht nur deutsche Forscher, die sich in den "weiten Osten" Russlands aufmachten, sondern auch zahlreiche Personen, die Karriere im russischen Militär und in der Verwaltung machten, Unternehmen wie z.B. die Firma Kunst & Albers und schließlich bäuerliche Kolonisten. Auch ist der Titel des Buches verwirrend: Ist unter dem "Fernen Osten" der veraltete, im Zeitalter des deutschen Imperialismus geprägte Begriff zu verstehen, oder "Russisch-Fernost", womit tatsächlich nur ein Teil Sibiriens gemeint ist.

Eva-Maria Stolberg