Rezension über:

Christoph Daxelmüller / Stefan Kummer / Wolfgang Reinicke (Hgg.): Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Aufsätze zur bayerischen Landesausstellung 2009, Augsburg: Haus der Bayerischen Geschichte 2009, 264 S., ISBN 978-3-937974-24-8, EUR 25,00
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Jürgen Kniep: Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Bildband zur Bayerischen Landesausstellung 2009, Residenz Würzburg, 7. Mai bis 4. Oktober 2009 (= Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur; 56), Augsburg: Haus der Bayerischen Geschichte 2009, 245 S., ISBN 978-3-937974-23-1, EUR 20,00
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Rezension von:
Thomas Schlemmer
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Schlemmer: Wiederaufbau und Wirtschaftswunder (Rezension), in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 6 [15.06.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/06/16346.html


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Wiederaufbau und Wirtschaftswunder

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Für die Historiografie gelten die Besatzungszeit und die Ära Adenauer als mehr oder weniger "abgefrühstückt", ja sogar als totes Gleis. Man wisse fast alles darüber, so hört man nicht selten, und wenn überhaupt, sei nur noch wenig innovative Ergänzungsforschung möglich. Die Geschichtswissenschaft, die längst schon die 1960er Jahre hinter sich gelassen hat, konzentriert sich dagegen immer mehr auf das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts und den Strukturbruch "nach dem Boom". Was Geschichtsvermittlung und -kultur angeht, so ist das Interesse an der Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik freilich ungebrochen; Kriegsende, Flucht, Vertreibung, Nachkriegsnot und Neubeginn sind bevorzugte Sujets von Fernsehfilmen, Büchern für das breite Publikum oder Ausstellungen - Sujets, die vor allem durch die zyklische Konjunktur von Jahrestagen immer neu befeuert werden. Und während die Zeitzeugen, die 1945 bereits erwachsen waren, von Tag zu Tag weniger werden, so herrscht kein Mangel an Männern und Frauen, die Kriegsende und Besatzungszeit als Kinder oder Jugendliche erlebt und als formative Jahre erfahren haben. So ist es kein Wunder, dass die Landesausstellung "Wiederaufbau und Wirtschaftswunder", die das Haus der Bayerischen Geschichte 2009 zum 60. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland organisierte, mit 365.000 Besuchern die erfolgreichste aller bisherigen Landesausstellungen gewesen ist. Zu viele erkannten in den "Leitfossilien" der Ausstellung Gebrauchsgegenstände von einst, die wiederum eine ganze Kette von Assoziationen auslösten: Haushaltswaren aus Kriegsmaterial, Kleidungsstücke aus Uniformstoffen und Spielsachen, die ihren Namen nur mit größtem Wohlwollen verdienten oder für die meisten Kinder unerreichbar waren.

Die Landesausstellung fand in Würzburg statt - einer Stadt, die man geschickter kaum hätte wählen können. Ein Luftangriff hatte den alten Bischofssitz am 16. März 1945 weitgehend verheert; die Innenstadt wurde dabei zu 90 Prozent zerstört, die städtische Peripherie zu 68 Prozent, 5000 Tote waren zu beklagen. Würzburg galt als eine der am schwersten getroffenen Städte Deutschlands, und obwohl bei Kriegsende sogar die Aufgabe der Stadt erwogen worden war, gingen die Überlebenden schon unmittelbar nach der Kapitulation an den Wiederaufbau. Würzburg war also gleichermaßen ein Symbol der Zerstörung und des Neubeginns - Phönix aus der Asche.

Die Landesausstellung wurde von einem Katalog und einem Aufsatzband begleitet, wobei letzterer unter dem dreifachen Leitmotiv Wiederaufbau, Wirtschaft und Alltag stand. Von den insgesamt 17 Aufsätzen befassen sich sieben mit dem Themenkomplex Wiederaufbau und je fünf mit den Themen Wirtschaft und Alltag. Dabei erweist es sich als ernsthaftes Problem, dass die Herausgeber auf eine zusammenfassende Einleitung verzichtet und es lediglich bei einem unverbindlichen Vorwort belassen haben. Ein problemorientierter Einstieg fehlt damit ebenso wie eine Erläuterung des Konzepts von Ausstellung und Katalog, die Einordnung in die Forschungslandschaft oder ein vergleichender Blick auf die Entwicklung Bayerns im Konzert der deutschen Länder. Auch eine klärende Erörterung leitender Begriffe wie Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Alltag gibt es nicht, ganz zu schweigen von einer Begründung des gewählten Zeithorizonts zwischen 1945 und 1959/60. Eine kausale Verknüpfung zwischen NS-Diktatur, 'totalem Krieg' und der Vernichtungsorgie der Jahre 1944/45 sucht man ebenfalls vergeblich (hier findet erst der Katalog klärende Worte); der Leser wird mitten in das Jahr 1945 hineingeworfen und bleibt mit seinen Fragen nach Ursachen und Verantwortlichkeiten allein.

Dem Genius Loci folgend, gehen Katalog und Aufsatzband von der Situation in Würzburg aus. Dieses Strukturprinzip hat den doppelten Vorteil, durch den regionalen Bezug eine größere Anschaulichkeit herstellen und die Menschen am Sitz der Ausstellung in besonderer Weise ansprechen zu können - aber auch den gravierenden Nachteil, allzu kleinteiligen Betrachtungen Vorschub zu leisten und darüber die übergeordneten Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren. Der Beitrag des Würzburger Kunsthistorikers Stefan Kummer über die Zerstörung und den Wiederaufbau der Stadt am Main, dessen detaillierte Schilderungen sich hauptsächlich an die ortskundigen Leser richten, ist nur ein Beispiel dafür. Wiederaufbau heißt für die Herausgeber des Aufsatzbands vor allem baulicher Wiederaufbau, folglich ist in den Beiträgen dieses Abschnitts insbesondere von Städtebau, dem Schicksal bedeutender Baudenkmäler und von Infrastruktur die Rede. Die Qualität der einzelnen Aufsätze ist dabei - wie so oft in Sammelbänden - recht unterschiedlich und reicht von der trockenen Leistungsbilanz des Chefs der Obersten Baubehörde im bayerischen Innenministerium, Josef Poxleitner, über den Beitrag seines Hauses zum Wiederaufbau bis zu den ebenso kundigen wie streitbaren, von persönlichen Erinnerungen an die eigene Jugend begleiteten Ausführungen des bayerischen Generalkonservators Egon Johannes Greipl. Deutlich wird dabei vor allem dreierlei: Die vor 1945 liegenden Wurzeln des Wiederaufbaus, über die man gerne mehr gewusst hätte, das pragmatische Nebeneinander moderner und traditioneller Konzepte, die ohne ein allgemein akzeptiertes Leitbild auskommen mussten, und die Tatsache, dass vieles von dem, was in den ersten Nachkriegsjahren wieder- oder neu gebaut wurde, heute allen Anfeindungen zum Trotz selbst den Status eines Baudenkmals erreicht hat.

Der zweite Teil des Aufsatzbands ist der Wirtschaft gewidmet, wobei die Industrie beziehungsweise der Strukturwandel Bayerns vom Agrar- zum Industrieland im Vordergrund stehen, während die Landwirtschaft oder das Handwerk und das aufstrebende Dienstleistungswesen nicht eingehender thematisiert werden. Angesichts ihrer Bedeutung für den Freistaat und angesichts der geradezu revolutionären Veränderungen in einem Sektor, der nie nur Wirtschaftszweig, sondern immer auch Lebensform gewesen ist, muss man das Fehlen eines eigenen Beitrags zur Landwirtschaft besonders bedauern. Ein kontrastierender Blick auf die Entwicklungen hier hätte es erlaubt, die Perspektive zu weiten und das immer wieder durchscheinende Paradigma von Modernisierung, Fortschritt und Erfolg kritisch zu hinterfragen. Im Einzelnen gibt Ferdinand Kramer einen lesenswerten Überblick über das "Wirtschaftswunder in Bayern", er zeigt ebenso wie Dirk Götschmann ("Die bayerische Wirtschaft in der unmittelbaren Nachkriegszeit"), dass eine der wichtigsten Wurzeln für den Durchbruch der Industrie in der nationalsozialistischen Kriegs- und Rüstungspolitik zu suchen ist. Hauptsächlich mit der Entwicklung von Industrie und Gewerbe beschäftigt sich auch Richard Winkler in seinem Beitrag über die Bayerische Landesanstalt für Aufbaufinanzierung, deren Rolle als Scharnier zwischen Politik und Wirtschaft freilich noch längst nicht ausreichend erforscht ist. Stephan Deutinger hingegen zeichnet - die Ergebnisse seiner 2001 erschienenen Dissertation aufgreifend - die ersten Schritte auf dem Weg Bayerns zu einem herausgehobenen Forschungsstandort nach. Er betont dabei die Bedeutung der "Weichenstellungen des ersten Nachkriegsjahrzehnts", lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass diese keiner "zielgerichteten Gesamtstrategie" entsprungen seien (181). Etwas aus dem Rahmen fällt Walter Zieglers Aufsatz über den "Beitrag der Vertriebenen zu Wiederaufbau und Wirtschaftswunder", denn hier geht es weniger um ökonomische Fragen im engeren Sinne als um die Integration von rund zwei Millionen Menschen und deren Auswirkungen auf die bayerische Gesellschaft.

Der letzte Teil des Aufsatzbands, der unter der Überschrift Alltag steht, ist auch der schwächste. Das liegt weniger an den einzelnen Beiträgen als an den gewählten Themen und am Fehlen eines roten Fadens. So stehen Reinhild Kreis' instruktiver Aufsatz über die Amerikahäuser, Christoph Daxelmüllers Aufsatz über jüdisches Leben in Bayern nach 1945, Wolfgang Weiß' Ausführungen über die "Position(en) der Kirchen im Wiederaufbau" und Werner K. Blessings Beitrag zum mentalen Wandel (über den man gleichwohl wenig erfährt) so unverbunden nebeneinander, dass sich noch einmal Christoph Daxelmüller an einer Zusammenfassung zum "Alltag nach 1945" versuchte.

Alles in allem hinterlässt der Aufsatzband einen zwiespältigen Eindruck - lesenswerte Einzelbeiträge auf der einen Seite, ein unausgewogenes Gesamtkonzept auf der anderen Seite, das den Wiederaufbau einseitig materiell-ökonomisch versteht und die Rolle der Besatzungsmacht ebenso marginalisiert wie die Schattenseiten des "Wirtschaftswunders". Dagegen überzeugt der Katalog mit informativen Texten, interessanten Quellen und zahlreichen Abbildungen zu den Themen "Krieg und Zerstörung", "Leben in Trümmern", "Wiederaufbau", "Wirtschaftswunder" und "Leben in den fünfziger Jahren". Beim Durchblättern bleibt man immer wieder an Fotos von Trümmerlandschaften, geschickten Vorher-Nachher-Arrangements oder an vergessenen Skurrilitäten wie dem "Milchpilz als Milchverbrauchswerber" hängen. Vor allem dieser Katalog hat zahlreiche Leser verdient.

Thomas Schlemmer