Rezension über:

Andreas Oberhofer: Weltbild eines "Helden". Andreas Hofers schriftliche Hinterlassenschaft (= Schlern-Schriften; 342), Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2008, 646 S., ISBN 978-3-7030-0448-3, EUR 57,00
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Rezension von:
Birgit Bublies-Godau
Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Birgit Bublies-Godau: Rezension von: Andreas Oberhofer: Weltbild eines "Helden". Andreas Hofers schriftliche Hinterlassenschaft, Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/07/15900.html


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Andreas Oberhofer: Weltbild eines "Helden"

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"Vom Geist der Freiheit angeweht,/ Erhob sich ganz Tyrol,-/ Doch Mancher auch, wie's eben geht,/ Für seiner Herrscher Wohl. [...] Und Hofer war der rechte Mann/ Zu dieses Volkes Sinn./ Der führt Tyrol zum Kampfe an/ Zu Schlacht und Siegsgewinn." [1] Der Mythos von der Erhebung Tirols gegen die bayerische Regierung 1809 und von seinem Oberkommandanten und 'Landesvater' Andreas Hofer (1767-1810) als Freiheitskämpfer und Volksheld bestimmte lange Zeit die Auseinandersetzung mit diesem Ereignis in der europäischen Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit und verhinderte in der Folge eine ausgewogene Beschäftigung damit. Je nach politischem Standpunkt, nationalem Blickwinkel, historischer Deutungsmacht und zeitlicher Distanz fiel die Haltung gegenüber dem Tiroler Aufstand, die Darstellung und Beurteilung des Geschehens von 1809 wie der Figur Hofers in den zeitgenössischen Berichten und späteren historiographischen Werken höchst unterschiedlich aus: Bereits die Gegner, Bayern und Franzosen, hatten einen anderen Blick auf die Ereignisse in Tirol als die Tiroler selbst. Für die Ersteren ging es um die Errichtung eines zentralistischen, aufgeklärten und absolutistischen Staates und die Unterwerfung der Kirche unter den Staat, für die Letzteren hingegen stellte die Region nur einen relativ unwichtigen Nebenkriegsschauplatz bei der Durchsetzung der napoleonischen (Besatzungs-) Herrschaft in Mitteleuropa dar. Selbst die verbündeten österreichischen Soldaten und Generäle und nicht zuletzt die verschiedenen sozialen Schichten innerhalb Tirols - die den Aufstand maßgeblich tragenden Bauern, Wirte und katholischen Geistlichen und die jenen eher ablehnenden Stadtbürger und Beamte - pflegten jeweils andere Sichtweisen auf die einzelnen Vorgänge von "Anno Neun".

Diese divergierenden Einstellungen der Anhänger und Gegner des Aufstands setzten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts fort; zusätzlich wurde das Ereignis mit zunehmendem Abstand aber auch erinnerungsgeschichtlich aufgeladen und geschichtspolitisch instrumentalisiert: Sei es durch die Entstehung "einer transnationalen Erinnerungskultur der napoleonischen Kriege" (Laurence Cole), wie sie von Vertretern der Freiheits- und Einheitsbewegungen in Europa geprägt wurde - im obigen Falle von dem deutschen Demokraten Jakob Venedey in seinem Gedicht "Andreas Hofer" von 1857 -, oder sei es durch die Schaffung nationaler Ursprungserzählungen, wie sie von Führungsschichten in der Gesellschaft entwickelt, von der Historiographie retrospektiv fortgeschrieben und im Zuge von Geschichtsjubiläen inszeniert wurden. So konnte 1809 allmählich zum "bedeutungsschwersten Jahr im kollektiven historischen Bewusstsein der Tiroler Bevölkerung" (7) werden.

Denn das Ereignis hatte die Tiroler in ihrem Selbstverständnis "als eigene, als 'tirolische' Nation" bestärkt und ihren Anspruch auf eine "markante Sonderrolle" in der habsburgischen Gesamtmonarchie gestützt. Von diesem "tirolischen Landesbewusstsein", zu deren Merkmalen eine tiefe Religiosität, Kaisertreue und Vaterlandsliebe sowie ein starker Sinn für die eigenen Landesrechte und die Verteidigung der Heimat zählte, waren 1809 auch Andreas Hofer und seine Gefolgsleute erfüllt. Jetzt bei der Abwehr äußerer Feinde kämpften sie für die Erhaltung der bestehenden Religionspraxis und politischen Sonderrechte Tirols und legten damit ein Verständnis von Freiheit an den Tag, das in völligem Gegensatz zu dem heutigen "nicht die Freiheit von alten Werten, sondern die Freiheit für Religion und Herrscherhaus, für patriarchalische Ordnung und unverrückbare Werte" und die Rückkehr zu den gewohnten Verhältnissen meinte (13, 49-51).

Nicht nur das Freiheitsverständnis des Sandwirts aus dem Passeiertal und Anführers der Tiroler Aufständischen wird in der profunden Studie von Andreas Oberhofer über das "Weltbild eines 'Helden'. Andreas Hofers schriftliche Hinterlassenschaft" aus dem Jahr 2008 zurechtgerückt. Mit diesem Buch, einer erweiterten Fassung seiner Dissertation an der Universität Innsbruck, legt der Historiker erstmals eine Edition aller greifbaren Briefe und Schreiben Andreas Hofers, die von ihm selbst geschrieben bzw. von Sekretären seiner Kanzlei abgefasst und von ihm unterzeichnet wurden, in chronologischer Reihenfolge vor. Hofer hat zahlreiche handschriftliche Zeugnisse seines Wirkens hinterlassen, die jedoch bisher noch nie systematisch zusammengestellt worden sind und die in dieser Arbeit in einem 684 Ego-Dokumente umfassenden Corpus präsentiert werden. Dabei handelt es sich um inhaltlich wie formal sehr unterschiedliche Schriftstücke, darunter Briefe, Geschäftsaufzeichnungen, Gerichtsakten, gedruckte Kundmachungen und die berühmten "Laufzettel" aus der Kanzlei, die heute über ganz Österreich, Deutschland und Norditalien verstreut sind und sich vielfach in privater Hand, zum Teil aber auch in speziellen "Hoferiana"-Sammlungen befinden. Diese Schreiben gibt der Autor im Editionsteil des Werkes "so originalgetreu wie möglich", im Falle der eigenhändig von Hofer geschriebenen Textpassagen sogar "buchstaben- und satzzeichengetreu" wieder (114), versieht sie jeweils mit einem Kurzregest, einer Quellen- oder Formalbeschreibung und stellt ihnen eine sachkundige Darstellung zum Editionsgegenstand voran.

In den einleitenden Abschnitten führt Oberhofer dann nicht nur in den aktuellen Forschungsstand und die bestehende Literaturlage zum Tiroler Aufstand und zu deren Zentralfigur Andreas Hofer ein, sondern schildert auch in einem kurzbiographischen Überblick das Leben und Wirken des "ßant Wirth auß Passeyr" und "ober Comen dant in diroll". Dabei kommt Hofers Kindheit und Jugend genauso zur Sprache wie seine beruflichen Tätigkeiten als Bauer, Wirt und Händler, die militärischen Ereignisse von 1796 bis 1805 und von "Anno Neun", Hofers Regierungszeit als Landesregent in Innsbruck von August bis Oktober 1809 sowie seine Verhaftung und Hinrichtung am 20. Februar 1810 in Mantua. Darüber hinaus wird ein hervorragender Eindruck von Hofers Bildung und Schriftlichkeit vermittelt und ein Einblick in die Arbeitsweise der Kanzlei der Tiroler Landesverteidiger gewährt, die der Sandwirt für den amtlichen Schriftverkehr benötigte, "weil ich überhaupts eine unleserliche Schrift mache" (70). Beschlossen wird der informative und gut geschriebene Einleitungs- und Darstellungsteil von Hinweisen zu den Transkriptions- und Editionsrichtlinien und von Ausführungen zu quellenkundlichen Aspekten.

Ziel der Arbeit ist neben der Sammlung aller Texte, die direkt von Hofer, "aus seiner Feder sozusagen" stammen, einen Zugang zu dem Menschen Andreas Hofer zu finden und sich abseits vom Mythos der historischen Figur anzunähern und diese unverstellten Blickes zu entdecken. Da der Sandwirt wie kaum eine andere Persönlichkeit in der Geschichte Tirols im Zentrum des Bildes stand, das sich die Nachwelt von den Ereignissen von 1809 gemacht hat, und zudem die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem historischen Akteur noch "in den Kinderschuhen" steckt, will der österreichische Historiker mit seiner Edition, wie andere anlässlich des 200. Gedenkjahres des Tiroler Freiheitskampfes publizierte Forschungsbeiträge auch [2], zur Entmythologisierung von "Anno Neun" beitragen und mit der Präsentation eines möglichst vollständigen Quellencorpus "die ausschlaggebende Grundlage" für eine moderne wissenschaftliche Biographie Hofers liefern. Schließlich werde erst durch die Beschäftigung mit dem gesamten vorhandenen Material "das Itinerar [...] der 'geschichtstragenden Persönlichkeit'" und ihre Beziehungen zu Familienangehörigen, Weggefährten und Berufskollegen erhellt, könne der Werdegang "des Menschen Hofer bis zum Höhepunkt seiner 'Karriere' im Jahr 1809" genau betrachtet und "sein 'Weltbild', sein Wirken und Handeln" näher erklärt werden (14, 16-17).

Um es am Ende der Besprechung ganz deutlich zu sagen: Andreas Oberhofer ist mit seiner Studie ein großer Wurf gelungen. Denn diese bewegt sich überwiegend auf hohem wissenschaftlichem Niveau, sie besticht wegen ihres enormen historischen Fachwissens und lässt bei der Aufarbeitung des imposanten, aufschlussreichen und mitunter sogar richtig spannend zu lesenden Textcorpus kaum Wünsche offen. Im Gegenteil, mit diesem Buch, das wegen seines Forschungsertrags und Erkenntnisgewinns nicht nur einen wichtigen Beitrag zu dem für die Historik unentbehrlichen Feld der Historischen Hilfswissenschaften leistet, sondern das sicherlich auch bald zu den Standardwerken auf dem Gebiet der "Anno Neun"-Forschung zählen wird, wird der Historiker auf eine seiner zentralen Aufgabenstellungen, auf die quellenbezogene Geschichtsforschung und die quellenkritische Fachuntersuchung, verwiesen. Ihm wird so auf eindrucksvolle Weise vor Augen geführt, was seine Arbeit eigentlich ausmacht, wofür sie steht und was sie auch im 21. Jahrhundert alles zu leisten im Stande ist. Schon allein aus diesen Gründen sind der Studie zahlreiche Leser innerhalb wie außerhalb der scientific community zu wünschen.


Anmerkungen:

[1] Jakob Venedey: "Andreas Hofer". Gedicht, in: Ders.: "Der Demant". Ein Gedicht- und Liederband zur Herrschaft weltlicher und kirchlicher Machthaber. Hd. Ms., (Heidelberg 1857), 399-403, Zitat 401.

[2] Vgl. hierzu Dieter Langewiesche: Entmythologisierung von "anno neun". Die Tiroler Erhebung 1809 in der gegenwärtigen Forschung, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 3 [15.03.2010], URL: http://www.sehepunkte.de/2010/03/16775.html.

Birgit Bublies-Godau