Rezension über:

Joachim Bahlcke (Hg.): Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa (= Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa; Bd. 4), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2008, IX + 423 S., ISBN 978-3-8258-6668-6, EUR 59,90
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Rezension von:
Sünne Juterczenka
Historisches Institut, Universität Rostock
Redaktionelle Betreuung:
Susanne Lachenicht
Empfohlene Zitierweise:
Sünne Juterczenka: Rezension von: Joachim Bahlcke (Hg.): Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 7/8 [15.07.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/07/4353.html


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Joachim Bahlcke (Hg.): Glaubensflüchtlinge

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Die Erforschung konfessionell bedingter Migrationen hat seit einiger Zeit an Dynamik gewonnen, und zunehmend geraten auch kleinere konfessionelle Gruppen in den Blick. So behandelt der vorliegende Band neben beiden protestantischen Konfessionen auch Brüder des Deutschen Ordens, Mennoniten, Unitarier, Böhmische Brüder und Hutterer. Die siebzehn Beiträge sind aus einer Tagung der Fachkommission Religions- und Kirchengeschichte im Johann Gottfried Herder-Forschungsrat und des Erfurter Lehrstuhls für die Geschichte Ostmitteleuropas hervorgegangen. Sie konzentrieren sich geographisch auf Mittel- und Osteuropa; chronologisch bewegen sie sich zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert - mit jeweils einer Ausnahme: Barbara Dölemeyer behandelt die rechtliche Situation französischer Hugenotten nicht nur in Preußen und Rußland, sondern auch in den Niederlanden, England und Dänemark, und Juliane Brandt greift mit ihrer Untersuchung der Identitätsbildung ungarischer Protestanten bis weit ins 19. Jahrhundert aus.

Die meisten Beiträge zeigen jeweils enge Zusammenhänge zwischen konfessioneller Migration und politischen oder ökonomischen Rahmenbedingungen. So legt Regina Pörtners Studie dar, wie die Bestrebungen der habsburgischen Monarchen, eine Herrschaftsverdichtung, Disziplinierung und damit bessere Verfügbarkeit ihrer aus Erwerbsgründen ohnehin mobilen Untertanen als "militärische und wirtschaftliche Ressource" (353) zu erreichen, immer wieder zu Konflikten führten. Joachim Bahlcke verdeutlicht anhand des slowakischen "politischen Geistlichen" (322) Mateij Bahil, der erfolgreich mit den preußischen Obrigkeiten kooperierte, wie es umgekehrt einzelne Migranten geschickt verstanden, eine politisch interessierte Öffentlichkeit für ihre Anliegen zu gewinnen.

Ein weiteres Beispiel für dieses enge Zusammenspiel analysiert Arno Strohmeyer mit den Bemühungen niederösterreichischer Protestanten, während der Aushandlung des Westfälischen Friedens entgegen den Konfessionalisierungsbestrebungen des katholischen Herrscherhauses Religionsfreiheit für die evangelischen Stände zu erwirken. Die 'Lobbyisten' hätten zugleich die Herrschaftsordnung zugunsten ständischer Partizipation zu modifizieren gesucht, wogegen sich Ferdinand III. jedoch angesichts der verfassungsrechtlichen Implikationen wehren musste. Im Fall der von Rudolf Leeb untersuchten Salzburger erweist sich das demographisch-ökonomische Kalkül des Herrschers im Aufnahmeland für den Erfolg der Umsiedelung als letztlich ebenso bestimmend wie Alter, Gesundheitszustand oder mitgebrachtes Kapital der Flüchtlinge.

Angesichts dieser Gemengelage scheint es ratsam, den Gebrauch der Begriffe "Glaubensflüchtlinge" bzw. "konfessionelle Migration" kritisch zu prüfen, da sie einen von mehreren Faktoren priorisieren und neben der Auswanderung andere Strategien des Umgangs mit konfessioneller Benachteiligung vernachlässigen. So blieben einige von Bernhard Jähnig untersuchte Ordensbrüder, die sich zunächst weigerten, mit ihrem Hochmeister zu konvertieren und dem neuen Herzog zu huldigen, in Preußen und begaben sich in eine Art "innere Emigration" (66). Manche Gruppierungen (etwa die von Jörg Deventer erforschten evangelischen Schlesier) besuchten im Rahmen eines 'kleinen Grenzverkehrs' regelmäßig Gottesdienste in Nachbarterritorien. Anderen gelang es, durch vorgetäuschte Konversionen oder zeitweilige Rückkehr die Ausweisung aufzuschieben oder zumindest abzumildern, wie Jiří Mikulec mit Blick auf das Königreich Böhmen feststellt.

Hans-Jürgen Bömelburg konstatiert denn auch in seinem Beitrag über Brandenburg-Preußen und Polen-Litauen im Zeitraum von 1640 bis 1772, angesichts vielfältiger ökonomischer und politischer Interessen sowie propagandistischer Absichten könne man dort "nur in wenigen, klar definierten Fällen" (144) von "Konfessionsmigration" sprechen - zumal auch zwischen Kriegszeiten und Friedensperioden differenziert werden müsse. Eine weitere, grundlegende Schwierigkeit packt Bömelburg an, indem er Beschränkungen der lange von einer konfessionell gebundenen und national geprägten Geschichtsschreibung betriebenen Forschung problematisiert.

Waren die meisten der untersuchten Faktoren durch landesherrliche Interessen oder strukturelle Gegebenheiten bedingt, so versuchen zwei Beiträge auch eine Annäherung an individuelle migrantische Sichtweisen. Norbert Kersken betrachtet zahlreiche Geschichtsschreiber, die sich unter dem Eindruck des Exils der Historiographie zuwandten und deren Texte oft "nach innen eine Identifikations- und nach außen eine Propagandafunktion" erfüllten (59). Alexander Schunka diskutiert, ob die Eingaben der Zuwanderer im Kursachsen des 17. Jahrhunderts als Ego-Dokumente gelesen werden können. Ihm zufolge richteten die Migranten ihre Texte an den Erwartungen der Adressaten aus. Ihr zunehmend funktionalisierender Einsatz konfessioneller Argumente lasse ebenso wie sich wandelnde Selbstbeschreibungen auf eine strategische "Pragmatisierung konfessioneller Autorität" schließen. Trotz der Formelhaftigkeit ihrer Bittschriften träten die Verfasser so als "aktive Teilnehmer und Mitspieler im Kommunikationsfeld der Mächtigen" (256) auf.

Da Konfessionsmigration speziell in Osteuropa bisher eher selten erforscht wurde, postuliert der Band erwartungsgemäß viele Desiderate. So verzeichnet gleich das Vorwort einen Mangel an komparatistischen Studien. Hans-Jürgen Bömelburg verweist auf das Potential für künftige Forschungen über jüdische Migranten, die der Band weitgehend ausklammert. Thomas Winkelbauer spricht sich für eine stärkere Beachtung derjenigen aus, die das Land eben nicht verließen, sondern als nicht dominante Konfession heimlich weiter existierten oder dem konfessionellen Druck nachgaben und konvertierten. Hinzu kommt, dass auch der vorliegende Band - wie die Forschung insgesamt - ihr Augenmerk meist auf die Wanderungen protestantischer Gemeinschaften richtet, während wir über konfessionell benachteiligte Katholiken vergleichsweise wenig wissen.

Lohnen würden außerdem detaillierte prosopographische Untersuchungen der hier lediglich angedeuteten migrantischen Vernetzungsaktivitäten, sowohl mit Kontaktpersonen im Aufnahmeland vor der Übersiedelung als auch mit zurück gebliebenen Glaubensgenossen oder andersgläubigen Verwandten, Nachbarn oder Geschäftspartnern. Interessant wären sicher auch unterwegs entstandene Kontakte - besonders bei Sekundärmigrationen, wie etwa im Fall der Hutterer oder der von Harald Roth behandelten Kärntner, die sich nach ihrer Zwangsansiedelung in Siebenbürgen zeitweise einer Hutterergruppe anschlossen und schließlich unter wachsendem Druck gemeinsam mit diesen in die Ukraine flohen. Dasselbe gilt für die bei Martina Thomsen im Mittelpunkt stehenden Böhmischen Brüder. Erfolgreichen Migranten wie den von Stefan Samerski behandelten Danziger Mennoniten eröffneten Netzwerke oftmals wirtschaftliche Spielräume und wirkten mitunter über den engen Kreis der Betroffenen hinaus. Schließlich begünstigten sie auch die Verbreitung religiöser Erneuerungsanliegen und Schriften, wie die von Eva Kowalská erwähnten Berührungen ungarischer Protestanten mit dem deutschen Pietismus nahe legen.

Wenn der umfangreiche Band die politisch-obrigkeitliche Ebene und die ökonomischen Rahmenbedingungen des Phänomens Glaubensmigration deutlich akzentuiert, so macht er auch weiterführende Angebote. Bleibt zu wünschen, dass etwa das von Jörg Deventer registrierte Defizit an Grundlagenforschungen insbesondere der Hinwendung zu Fragen, welche die "Annäherung der Migrationsgeschichte an Forschungsparadigmen der Neuen Kulturgeschichte aufgeworfen hat" (100), nicht im Wege stehen möge.

Sünne Juterczenka