Rezension über:

Henning Wrage: Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fernsehen in der DDR der 1960er Jahre. Eine Kulturgeschichte in Beispielen (= Probleme der Dichtung; Bd. 41), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008, IX + 417 S., ISBN 978-3-8253-5502-9, EUR 58,00
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Rezension von:
Anne Barnert
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Anne Barnert: Rezension von: Henning Wrage: Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fernsehen in der DDR der 1960er Jahre. Eine Kulturgeschichte in Beispielen, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/15772.html


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Henning Wrage: Die Zeit der Kunst

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Henning Wrages Dissertation versteht sich als eine Kulturgeschichte in Beispielen. Das Buch will ein "ordnungstheoretisches Modell" (372) der Jahre nach dem Mauerbau entwerfen. Seine Eckpunkte sind die Entwicklung des Fernsehens zum Massenmedium, der Modernisierungsdruck, unter dem das Kino stand und das Auftreten einer neuen Generation von Schriftstellern im Umfeld des Bitterfelder Weges. Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich - anders als im Titel angekündigt - auf die Zeit zwischen Mauerbau 1961 und 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965. Wrage bewegt sich damit in einem vergleichsweise gut erforschten Gebiet der DDR-Kulturgeschichte. Seine Herangehensweise ist umso ambitionierter: Literatur, Film und Fernsehen dieser Jahre sollen einer vergleichenden Gesamtschau unterzogen werden. Solche Untersuchungen zu Konkurrenz- und Austauschprozessen zwischen Medien sind noch selten. Der hohe Anspruch der vorliegenden Publikation ist es, "das aufeinander bezogene Funktionieren kultureller Teilbereiche in der DDR zu erfassen und die Fraktionierungen innerhalb dieser Bereiche aufeinander zu beziehen." (29) Ein Vergleich diesen Umfangs erfordert den Überblick über eine Fülle von Details, die das Buch großenteils auch bietet. Zwar findet sich hierunter vieles, was bereits anderenorts publiziert worden ist. In der Aussicht auf neue Erkenntnisse aus dem Medienvergleich folgt man den ausführlichen Einzelanalysen dennoch gern. Insbesondere das Fernsehkapitel ist fundiert und interessant geschrieben.

Den Kern der Untersuchung bilden drei umfangreiche Kapitel jeweils zu Literatur, Film und Fernsehen mit Einzelanalysen und einführenden Bemerkungen über Kontexte. Ein Register einschließlich Titel- und Personenverzeichnis beschließt den Band. Der Autor untersucht eine Zeit, die als kulturpolitisch liberale Phase gilt und in der wichtige Referenzwerke der DDR-Kultur entstanden. Insofern diese als "Statements" zur Gegenwart der 1960er Jahre verstanden werden können, werden sie in Wrages Publikation behandelt (12). Weitere Kriterien seiner Auswahl sind: Eine große Publikumsresonanz (so auf den DEFA-Film "Beschreibung eines Sommers"), kulturpolitische Debatten im Umfeld (wie zum Buch "Der geteilte Himmel") oder Verbote (wie die des Fernsehfilms "Monolog für einen Taxifahrer"). Die genannten Kriterien verdeutlichen, dass überwiegend Ausnahmeproduktionen analysiert werden. Die alltägliche Realität von Literatur, Film und Fernsehen gerät damit etwas aus dem Blick. Zu Recht weist Wrage eingangs darauf hin (2), dass eine Bewertung der herausragenden Publikationen und Filme aus den Jahren vor dem "Kahlschlagplenum" noch aussteht: Handelt es sich hierbei um hoffnungsvolle Ansätze einer möglichen weiteren Entwicklung oder um machttaktische Zugeständnisse? In jedem Fall bildete das 11. Plenum deren Endpunkt. Der Autor zumindest scheint ersterer Deutung zuzuneigen.

Wrage entwickelt sein Interesse an den "Denkwirklichkeiten der DDR" über die These, es in den von ihm betrachteten Medien mit "verblüffend kohärenten Geschichten" zu tun zu haben (11). Zu diesem Ergebnis gelangt er, indem er gemeinsame Motive, Plots, Dramaturgien und Handlungselemente zu "Mustern"" zusammenfasst. Aufgrund dieser "medienspezifischen Verallgemeinerungen" identifiziert er schließlich "Groß-Narrative" (14): Der DDR-Film nach dem Mauerbau habe sich durch die Thematisierung von Generationenkonflikten, Kritik an Bürokratie und offiziellem Antifaschismus zu einem "Medium der Söhne" entwickelt. Das Fernsehen charakterisiert er demgegenüber als "Medium der Väter". Denn dessen Großerzählung habe die Geschichten aus den 1950er Jahren über heimkehrende Väter und deren Entscheidung für den Sozialismus weitergeführt. Die Literatur nahm nach Wrage zwischen diesen beiden Narrativen eine mittlere Position ein: An der "radikal individuierten Perspektive der späteren Texte" (373) sei eine fortschreitende Desillusionierung der DDR-Autoren abzulesen. Das Beispiel der Literatur illustriert das Problem von Wrages Herangehensweise: Sein Ergebnis ist hier, dass mit dem Auftreten von "Wandlungsgestalten" eine "verblüffende Ähnlichkeit in der Figurengestaltung" der betrachteten Texte (54) zu beobachten sei; Liebesgeschichten fungierten als "Metonymien auf den Glücksanspruch des Individuums" (55). Wandlungsgestalten und Liebesgeschichten: Wann wäre das jemals anders gewesen seit es Literatur gibt? Wie auch im Fall des Film- und des Fernsehkapitels verwischt der angestrebte Grad an Allgemeinheit hier die Aussagekraft der Einzelanalyse, zumal für Abstraktionen dieser Art der Untersuchungszeitraum von fünf Jahren deutlich zu kurz gewählt wurde.

Wrage überwölbt seine These von der Existenz medienspezifischer Groß-Narrative mit einer "Metaerklärung": Die dargestellten drei "großen Erzählungen" seien von einem DDR-spezifischen Versuch der Synthese zwischen Kunst und Gesellschaft zusammengehalten worden. Der Vorzug dieser Perspektive ist es, dass sie im Buch regelmäßig Anlass zu Reflexionen über das Selbstverständnis des DDR-Kulturbetriebs bietet. Politiker wie auch Künstler gingen von einem grundsätzlichen Auftrag der Kunst aus, gesellschaftlich wirksam zu werden. Diese Sichtweise prägte nicht nur die Kulturpolitik, sondern auch die Themen und Erzählweisen in Film, Fernsehen und Literatur: Der dogmatische Wahrheitsanspruch führte zu einer problematischen Wahrnehmung des DDR-Rezipienten als Objekt von Aufklärung durch die Kunst. Wrage macht diese Befunde anhand seiner Beispiele sehr anschaulich. Er bietet damit eine wesentlich differenziertere Sicht auf die Akteure jener Zeit, als es in vielen anderen Publikationen zum Thema geschieht. Gemessen an solchen oft sehr interessanten Überlegungen zur politischen Funktion der Kunst der DDR erscheint Wrages Aufwand, sich in seiner Arbeit von "'traditionellen' instrumentalisierungstheoretischen Positionen" (18) der DDR-Forschung abzusetzen, zu groß. Seine Kritik an einer "nur politisch motivierten" Kulturgeschichte (Rückentext) übergeht zudem, dass heutzutage wohl kaum eine Publikation DDR-Kultur auf Instrumentalisierung reduzieren würde (25). Und wer würde bestreiten, dass auch diese Kunst ihre Ambivalenzen besaß - also Spuren von Indoktrination aufwies und zugleich nichtintentionale Effekte zeitigte (276)? In diesem Zusammenhang fällt des Autors Tendenz zur Polemik auf: Von "weißen Flecken" und "innigem Schweigen" der westlichen Germanistik gegenüber DDR-Literatur ist die Rede (60/61) oder von "politischer Instrumentalisierung der DDR-Flüchtlinge in der bundesdeutschen Presse" (336). Hier stimmen die Relationen der Bewertung nicht.

Henning Wrages Mediengeschichte ist ein wichtiger Beitrag zur Kulturgeschichtsforschung der DDR. Die Stärke des Buches liegt in seiner analytischen Sorgfalt und Breite. Die Generalisierungen aus den Einzelanalysen wiederholen sich allerdings häufig und werden zu weit in die Abstraktion geführt. Methodisch hätte man sich dagegen etwas mehr Verallgemeinerung gewünscht, da der angekündigte Medienvergleich in einzelnen Beobachtungen stecken bleibt. Die Studie wird durch ihren Detailreichtum aber zu einer Fundgrube für jeden, der sich über Produktions-, Zensur- und Rezeptionsgeschichte von Texten und Filmen aus den Jahren nach dem Mauerbau informieren möchte.

Anne Barnert