Rezension über:

Frank Bezner / Kirsten Mahlke (Hg.): Zwischen Wissen und Politik. Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktionen (= Akademiekonferenzen; Bd. 6), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, 431 S., 31 s/w-Abb., ISBN 978-3-8253-5631-6, EUR 48,00
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Rezension von:
Georg Eckert
Historisches Seminar, Bergische Universität, Wuppertal
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Georg Eckert: Rezension von: Frank Bezner / Kirsten Mahlke (Hg.): Zwischen Wissen und Politik. Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktionen, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/20008.html


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Frank Bezner / Kirsten Mahlke (Hg.): Zwischen Wissen und Politik

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Der aus einer interdisziplinären Tagung in Heidelberg hervorgegangene Sammelband widmet sich der "Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktionen". "Zwischen Wissen und Politik" stehen sie. Nicht eine generelle Auffassung der Geschichte soll hier erforscht werden. Frank Bezners Einleitung formuliert vielmehr den Anspruch, "möglichst viele Aspekte einer symbolischen Ressource 'Vergangenheit'" (10) darzustellen. Dieses Ziel wird zweifellos erreicht. Denn der Band fragt nach Funktionen und Motivationen, die diversen Formen der Auseinandersetzung mit je spezifischen Vergangenheiten zugrundelagen - und er gibt wertvolle Denkanstöße. Zahlreiche Einzeldarstellungen, deren Schwerpunkte in Westeuropa (samt erobertem Südamerika) und im 16. sowie 17. Jahrhundert liegen, untersuchen die jeweiligen Rahmenbedingungen des Schreibens. Sie wenden sich Formen sowie Gehalten der konstruierten Vergangenheiten, nicht zuletzt auch deren Urhebern zu.

Der erste Teil des Bandes thematisiert politische Legitimationsstrategien, die sich der Vergangenheit bedienten. Wie lohnend es ist, die konkreten Interessen der Beteiligten zu betrachten, belegt Hillard von Thiessens präzise Studie zu italienischen Dynastien im frühen 17. Jahrhundert. Erwiesene Anciennität adeliger Klienten wie der Colonna veranlasste den spanischen König zu weiteren Gunsterweisen. Wie die Vergangenheitskonstruktion zum Mittel der Politik, zugleich die Politik zum Mittel der Vergangenheitskonstruktion wurde, belegt Frank Bezner für die Historiographie Ferraras im 16. Jahrhundert. Um die unsichere Herrschaft der Este zu festigen, wurde die Verwaltung mit der Recherche nach Urkunden und anderen Schriftstücken beauftragt. Sodann beschreibt Christian Schmitt-Kilb diejenigen Wechselwirkungen, die im spätelisabethanischen England zwischen Poetik und Erfindung der Nation zu beobachten sind; im englischen Reim sollte englische Freiheit verteidigt werden. Welche und wessen politische Zwecke diese Begründungsstrategie erfüllen sollte, bleibt hingegen wenig konturiert. Wie Deutungsunterschiede politische Differenzen anschaulich machen, erkundet sodann Cornel Zwierlein. Er kennzeichnet die Bartholomäusnacht als "europäischen Erinnerungsort" (92), der von konfessionellen und regionalen Parteien besetzt, mehrfach umgewidmet und in der Aufklärung als mahnendes Negativexempel religiöser Gewalt ausgewiesen wurde.

Mit verschiedenen Medien und Darstellungsweisen der Vergangenheit befasst sich der zweite Teil. Florian Kläger fragt nach der Bedeutung des Dialoges im elisabethanischen Irland-Diskurs und gelangt zur Antwort, dass dieser Erzählmodus auf besondere Weise der Konstruktion kollektiver Identitäten gedient, ja gleichsam eine Kommunikationsbasis hergestellt habe. Wer kommunizierte und wessen Interessen hier verhandelt wurden, werden weitere Forschungen nun zu erarbeiten haben. Politische Aspirationen deutet auch Gabriela Schmidts Beitrag über die Darstellung Richards III. durch Thomas Morus an: Als "selbstkritische Hinterfragung der Konstitutionsbedingungen frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktion" (173) habe sie dem Leser vorgeführt, wie sehr Historiographie schon ihrem sprachlichen Wesen nach Manipulation bedeute. Mit der Kreuzdevotion in franziskanischen Monumentalgemälden nimmt Claudia Wedepohl ein ganz anderes Medium in den Blick; erzählende, handlungsleitende Darstellungen des Kreuzes ersetzten im 14./15. Jahrhundert die Lebensallegorien - nach dem Armutsstreit wandte sich der Orden historischen Exempla zu.

Der dritte Teil des Sammelbandes erkundet das Wissen um die Vergangenheit. Benjamin Steiner untersucht frühneuzeitliche Tabellenwerke als Klassifikationsmuster. Sie strukturierten bzw. konstruierten die Vergangenheit in spezifischen, meist heilsgeschichtlichen Kategorien - zunächst einer chiliastischen Weltdeutung dienend, ermöglichten sie erst einen chronologischen Überblick zu didaktisch-pädagogischen Zwecken. Helga Penz widmet sich einer anderen Rahmenbedingung des Wissens um die Vergangenheit, dem klösterlichen Archiv. Sie stellt dar, wie gewandelte politische Bedürfnisse zunächst Dokumente und deren Aufbewahrung, just dadurch aber auch die Erschließung der Vergangenheit formten und der Selbstvergewisserung dienten. Mit der wirkungsmächtigen, gegen Luthers Werke gerichteten Kirchengeschichtsschreibung Cochlaeus' setzt sich Kai Bremer auseinander. Er untersucht, warum dessen "Commentarii" ab der zweiten Auflage umbenannt wurden. Das Gewand der "Historia", die zur "Exemplalieferantin für die Polemik" (295) in der konfessionellen Auseinandersetzung geriet, schien einem breiteren Publikum angemessen. Den Beginn moderner Geschichtlichkeit wiederum erblickt Philipp Jeserich in der französischen Renaissancepoetik, die eine "linear-progressive [...] Temporalstruktur" (336) ausgebildet habe. Gleichwohl bliebe der untersuchte "Umbau der Geschichte der Dichtkunst zum Effekt einer im Vorhistorisch-Diffusen ansetzenden, durch eine mit diesem historisch fernen Ursprung durch selbstmächtige Kumulation verbundene Gegenwart hindurch in eine offene Zukunft reichenden Praxis" in seinen unmittelbaren politischen Kontexten zu schildern (ebenda). Zur Suche nach den Interessen hinter den Narrativen regt auch Andreas Urs Sommers konzise Typologisierung der französischen Geschichtstheologie im späten 17. Jahrhundert an. Sie legt dar, wie Tillemont, Fleury und Bossuet die profane Geschichte jeweils als bloße Propädeutik, als Medium der Dogmatik und als Teil des Gesamtsinnes der Geschichte in theologische Deutungshorizonte einzupassen bestrebt waren.

Der Neuen Welt gilt der vierte und letzte Teil der Tagungsakten. Arndt Brendecke schildert den letztlich gescheiterten Versuch der spanischen Könige, die Historiographie der überseeischen Gebiete über den Indienrat zu steuern. Die dortigen Hofchronisten nutzten Augenzeugenberichte und offizielle Dokumente, die sie sogar von Amts wegen anfordern konnten. Statt Taten der Konquistadoren erzählten sie jedoch am Ende des 16. Jahrhunderts vor allem die Naturgeschichte Amerikas. Von der Begegnung mit dem Fremden handelt auch Roswitha Luchts Aufsatz über die Rekonstruktion der Inka-Herrschaft durch die Eroberer, die ihre Wahrnehmungen der Inka - wenig überraschend - nach bekannten abendländischen Mustern gestalteten: Die Autoren unterstellten identische Rechtsauffassungen, wenn sie etwa die Legitimität eines durch Pizarro erzwungenen Herrscherwechsels bei den Inka darstellten. Schließlich wendet sich Franz Obermeier einer kolonialen Zeitgeschichte des 16. Jahrhunderts zu: Das Reisebuch des Söldners Ulrich Schneider belegt nicht minder, wie südamerikanische Begebenheiten in ein "europäisches Wissenssystem integriert werden" (418) mussten.

Die Beiträge wenden sich also sehr unterschiedlichen Gegenständen zu, für deren detaillierte Erforschung sie dem jeweiligen Experten mitunter pointierte Anregungen geben; Register der Personen, der Orte, der Begriffe wären gleichwohl wünschenswert gewesen. Nicht trotz, sondern gerade wegen der heterogenen Erkenntnisinteressen addieren sich die Teile des Bandes aber zu einer runden Summe. Sie bildet erstens den Erkenntnisgewinn ab, den ein politischer Sehepunkt auf die jeweiligen Darstellungsformen und Darstellungen verspricht. Wenn Vergangenheit als Praxis untersucht werden soll, kann zweitens nicht praktisch genug, nämlich: konkret und im politisch-sozialen Kontext argumentiert werden. Wissen ist zumal am Beginn der Neuzeit eine eminent politische Kategorie und beileibe kein Gegensatz zur Politik gewesen.

Georg Eckert