Rezension über:

Ben Schoenmaker: Burgerzin en soldatengeest. De relatie tussen volk, leger en vloot 1832-1914, Amsterdam: Boom & Sun 2009, 505 S., 12 Abb., ISBN 978-90-8506-708-5, EUR 40,50
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Rezension von:
Florian Schönfuß
Deutsches Historisches Institut, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Florian Schönfuß: Rezension von: Ben Schoenmaker: Burgerzin en soldatengeest. De relatie tussen volk, leger en vloot 1832-1914, Amsterdam: Boom & Sun 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/09/20010.html


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Ben Schoenmaker: Burgerzin en soldatengeest

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Das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Militär war in nahezu allen Ländern Europas über das "lange" 19. Jahrhundert hinweg beständiger Gegenstand der gesellschaftlichen Debatte. Dies galt in besonderer Weise für das noch junge Königreich der Niederlande, auf dem gerade mit Blick auf die Heeresverfassung noch der lange Schatten des vergangenen napoleonischen Empire lag. Denn die von Wilhelm I. aus der Taufe gehobene "Nationalmiliz" (Nationale Militie) war als erste bewaffnete Macht im Staate im Grunde nichts anderes als eine stehende Kaderarmee, die ihre Mannschaften durch das in den Niederlanden während der französischen Okkupation so leidvoll erfahrene Konskriptionssystem ergänzte, geführt von einem zunächst höchst restaurativ gesinnten Offizierskorps, das allein in der Person des Monarchen seine verpflichtende Instanz erblickte. Dem Ausscheren des sich 1830 konstituierenden Belgien aus dem gemeinsamen Staatsverband hatte man rein militärisch allerdings genauso wenig entgegenzusetzen wie der beißenden Kritik aus den Reihen eines mächtigen liberalen Bürgertums, das seine Söhne dank des zäh verteidigten Einsteherwesens nahezu vollständig von den Kasernenhöfen fernzuhalten vermochte.

An eben dieser nur schwer überbrückbar erscheinenden Kluft zwischen Armee und Bürgergesellschaft setzt die Leidener Dissertation von Ben Schoenmaker an, der sich zum Ziel setzt, den diesbezüglichen Diskurs innerhalb des niederländischen Offizierskorps zu analysieren. Hierzu wählt er einen dezidiert kulturgeschichtlichen Ansatz, der, wie es in der Einleitung heißt, "die Wechselwirkung zwischen den in der zivilen und der militärischen Welt existierenden Vorstellungen" (de wisselwerking tussen de in de civiele en militaire sfeer levende denkbeelden, 17) fokussiert. Als Quellengrundlage nutzt Schoenmaker die zumeist unter Verwendung von Pseudonymen verfassten Publikationen niederländischer Militärpersonen in einem recht breiten Spektrum zeitgenössischer Periodika, wobei er - etwas grob - zwischen rein "militärischen" und "bürgerlichen" Zeitschriften unterscheidet. Dazu gesellen sich etliche Themenbroschüren und Denkschriften aus der Feder verschiedener Offiziere; Ego-Dokumente jeglicher Art werden jedoch bewusst nicht ausgewertet.

Jenem Quellenkorpus trägt auch der Untersuchungszeitraum der Studie Rechnung, der sich vom Gründungsjahr (1832) der ersten wirklichen Offizierszeitschrift (De Militaire Spectator) bis zur Generalmobilmachung der niederländischen Streitkräfte im August 1914 erstreckt. Einschneidende Zäsuren innerhalb dieser Periode macht Schoenmaker zum einen im Sieg Preußen-Deutschlands über Frankreich 1871 aus, der die militärische Debatte in den Niederlanden zugunsten eines nunmehr preußischen Vorbilds völlig umkrempelte. Ferner sieht er im Jahr 1891 einen weiteren Wendepunkt, habe sich der Schwerpunkt der Diskussion doch seither von der Frage der persönlichen Dienstpflicht hin zum Volksheerdiskurs unter dem Topos der wehrhaften Nation entwickelt. Folgerichtig gliedert sich der Band in drei chronologisch aufeinanderfolgende Teile, die jeweils von einem resümierenden Kapitel beschlossen werden.

Wie ein roter Faden zieht sich durch sämtliche Kapitel die, wenn auch je unterschiedlich stark ausgeprägte, Unzufriedenheit des Offizierskorps von Heer und Marine über die mangelnde Unterstützung und Wertschätzung seitens Bevölkerung und Parlament. Das in den Augen zahlreicher Offiziere durch gegenseitiges Misstrauen und bürgerlicherseits durch Gleichgültigkeit, Eigensinn und Defaitismus gekennzeichnete Verhältnis zwischen Armee und Gesellschaft wurde, so vermag Schoenmaker zu zeigen, als wesentliche Ursache für die mangelnde Schlagkraft und Einsatzbereitschaft der niederländischen Truppen, ja für eine tief empfundene Inferiorität gegenüber anderen europäischen Streitkräften ausgemacht. Als größtes Übel betrachtete man - hierüber herrschte im Offizierskorps nahezu vollständige Eintracht - bis zu dessen gesetzlicher Abschaffung 1898 das Einsteherwesen, welches den Zugriff auf Rekruten aus den gebildeten, begüterten und politisch einflussreichen Gesellschaftsschichten blockierte, auf die man insbesondere zur Gewinnung geeigneten Offiziersnachwuchses, zur Hebung des Ansehens der Armee und nicht zuletzt zur wirksameren Interessenvertretung gegenüber Regierung und Parlament angewiesen zu sein glaubte.

Weit weniger einig war man sich indes bei der Frage, wie genau das Wundermittel der persönlichen Dienstpflicht zu erlangen war (137), von der man sich ein sofortiges und grundlegendes Ineinanderwachsen von Armee und Nation erhoffte. Hier sprach sich anfangs lediglich eine streitbare Minderheit meist jüngerer Subalternoffiziere für eine Öffnung gegenüber der Zivilgesellschaft aus. Demgegenüber betrieb das Gros der publizistisch aktiven Offiziere lange Zeit eine - im Grunde widersprüchliche - Aufklärungs- und Werbekampagne für eine Verstärkung des Militärs, die zwischen einem mahnenden Wachrütteln der Bevölkerung durch diverse, teils geradezu phantastische Bedrohungsszenarien einerseits und der Versicherung grundsätzlicher Verteidigungsfähigkeit auch gegen weit überlegene Aggressoren andererseits recht ungeschickt lavierte.

Publizistisch Kritik geübt wurde durch jene aufstrebende jüngere Offiziersgeneration vor allem an der Introvertiertheit und bewussten Abschottung des Militärs gegenüber den zivilen Lebenswelten, die den älteren Führungsoffizieren zumeist per se als unvereinbar mit den militärischen Erfordernissen von Disziplin und Gehorsam galten. Anhand einer Reihe detailliert nachgezeichneter Kontroversen, wie z.B. dem Infragestellen einer unabhängigen Militärgerichtsbarkeit, der Ziele und Methoden des (noch rudimentär ausgebildeten) Militärbildungswesens, der sehr eingeschränkten staatsbürgerlichen Rechte der Mannschaftsdienstgrade, ja selbst der eben auch öffentlich debattierten Frage nach Grenzen und Notwendigkeit militärischer Ehrencodices, gelingt es Schoenmaker im Weiteren, einen fortschreitenden Liberalisierungsprozess innerhalb des Offizierskorps herauszuarbeiten. Leider wird der bemerkenswerte generationelle Aspekt dieser Entwicklung dabei kaum thematisiert, denn dass hier letztlich altersbedingt stark verschiedene Erfahrungsräume und Prägungen innerhalb einer ansonsten recht homogenen Funktionselite miteinander in Konflikt gerieten, bleibt - trotz dem Bemühen um eine kulturgeschichtliche Analyse - in der Erörterung fast völlig außen vor.

Desto stärker hebt der Autor den "elektrischen Schock" (139) von 1871 hervor, der zu einer geradezu ehrfurchtsvollen Bewunderung der preußischen Heeresverfassung durch eben jene liberalen Militärschriftsteller geführt habe. Im Zuge dessen verdeutlicht Schoenmaker die einseitige Rezeption des Ideals vom gebildeten, professionellen, gesellschaftlich in höchstem Ansehen stehenden preußischen Offizier, welche die prinzipielle Unvereinbarkeit des deutschen Vorbilds mit den niederländischen Verhältnissen überstrahlt habe. Letztere waren insbesondere im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts durch eine von breiteren Gesellschaftsschichten vehement vorgetragene Bewegung der nationalen Wehrhaftigkeit (Vereniging Volksweerbaarheid) geprägt, die für ein reines Milizheer nach schweizerischem Vorbild auf der Grundlage der allgemeinen militärischen Übungspflicht jenseits der Kasernen, folglich also auch für einen weitgehenden Verzicht auf Berufssoldaten, eintrat. Die kritische Auseinandersetzung mit diesen nationalistischen Strömungen, das Ringen um das Monopol auf militärische Ausbildung und Truppenformierung und damit die Verteidigung der Militärgesellschaft in einer gewissen Absonderung und Distinktion von der Zivilgesellschaft erforderte denn auch die volle Aufmerksamkeit des Offizierskorps. Letztlich sei jedoch auch dieses Phänomen vor dem Hintergrund eines zunehmenden soziokulturellen und vor allem konfessionellen Partikularismus (Verzuiling) der niederländischen Gesellschaft zu betrachten, der sich eben auch auf die Wehrdebatte erstreckt habe.

Speziell mit Blick auf die Marine liefert Schoenmaker zudem eine eingehende Betrachtung der publizistischen Konfrontation mit sozialistischen Gruppierungen, wie dem der SDAP nahen Matrosenbund, die eine insgesamt überzeugende, sehr lebendig geschriebene Studie abrundet. Diese führt den Leser präzise entlang der verschiedenen Stränge des sehr ausführlich kontextualisierten militärinternen Diskurses - zu ausführlich, ließe sich beinahe konstatieren, denn nicht zuletzt aufgrund der überbordenden Zwischenresümees ergeben sich leider immer wieder unnötige Redundanzen. Demgegenüber vermisst man schmerzlich eine abschließende Synthese, die insbesondere auch die internationale Diskussion zumindest ein Stück weit hätte mit einbeziehen müssen. Denn selbstredend partizipierten auch etliche niederländische Offiziere an einem grenzüberschreitenden Austausch militärischer Denkbilder, was sich auf die hier hell ausgeleuchtete interne Debatte stark ausgewirkt haben muss - man denke allein an solch aufsehenerregende und breit rezipierte Vorfälle wie die Dreyfus-Affäre! Ebenso einschränkend wirkt sich der Verzicht auf die Auswertung von Ego-Dokumenten aus, durch den die vorgestellten Protagonisten in ihrem sozialen Umfeld etwas blass bleiben. Unabhängig davon leistet der vorliegende Band wichtige Pionierarbeit auf einem bisher kaum beackerten Forschungsfeld, indem er die komplexen Beziehungen zwischen Militär- und Zivilgesellschaft in den Niederlanden weiter auslotet und insbesondere für den facettenreichen Wirkungsbereich der Militärpublizistik sensibilisiert. Gerade in dieser Hinsicht kann er auch der einschlägigen deutschen Forschung wichtige Impulse vermitteln.

Florian Schönfuß