Rezension über:

Lawrence Black: Redefining British Politics. Culture, Consumerism and Participation, 1954-1970, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, IX + 279 S., ISBN 978-0-230-55124-4, GBP 55,00
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Rezension von:
Martina Steber
Deutsches Historisches Institut, London
Empfohlene Zitierweise:
Martina Steber: Rezension von: Lawrence Black: Redefining British Politics. Culture, Consumerism and Participation, 1954-1970, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/10/18896.html


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Lawrence Black: Redefining British Politics

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"But a discussion of political culture without party is like a party without fun - not uncommon but unfortunate" (4-5), schreibt Lawrence Black in seinem neuesten Buch, "Redefining British Politics. Culture, Consumerism and Participation, 1954-1970" - und genauso wie eine Party ohne Spaß wäre die derzeitige britische Politikgeschichtsschreibung ohne die Beiträge Lawrence Blacks um einiges langweiliger. Der britische Zeithistoriker gehört zu jenen, die sich die methodische Neuformulierung der Politikgeschichte im Sinne einer "new political history" auf die Fahnen geschrieben haben und dieses Projekt mit viel Energie und gewaltiger Abgrenzungsrhetorik verfolgen. [1] In der Begrifflichkeit der deutschen kulturgeschichtlich inspirierten Politikgeschichte gesprochen geht es ihm in "Redefining British Politics" darum, dem Formwandel des Politischen im Großbritannien der 1950er und 1960er Jahre auf die Spur zu kommen. In fünf Fallstudien möchte er die Diversität und Widersprüchlichkeit der politischen Kultur vorführen, davon ausgehend dass eindimensionale Modelle von Politik in die Irre führen müssen - und dies zumal für eine Epoche, die von der Weitung und Ausdifferenzierung des politischen Raumes geprägt war. Als "socio-cultural history of politics" (206) bezeichnet Black seinen Ansatz, was im britischen Forschungskontext die Abgrenzung gegenüber einer Konzentration auf "high politics" einerseits und gegenüber materialistisch orientierten Konzepten andererseits bedeutet. Dieser doppelten Abgrenzung der britischen Variante der neuen Politikgeschichte entsprechen auch die Interessenschwerpunkte und Fragestellungen des Buches: Die Rolle der Parteien, die komplexen Verbindungsgeflechte von politischen Institutionen und Bürgern ("politics and the people"), die Ursachen politischen Wandels und in diesem Kontext besonders die Bedeutung materieller Faktoren stehen im Mittelpunkt der Fallstudien und leiten ihre Auswahl. Black untersucht die "Consumers' Association", das "Co-operative Movement", die "Young Conservatives", die "National Viewers' and Listeners' Organisation", Arnold Weskers neu-linkes Kulturzentrum "Centre 42" und beschäftigt sich in einem letzten Kapitel mit dem Umgang der etablierten politischen Spieler, allen voran der Parteien, mit neuen Techniken wie Fernsehen und Meinungsforschung.

In erster Linie sind Blacks Überlegungen inspiriert von Ronald Ingleharts Postmaterialismus-These, der bekanntermaßen für diese Jahrzehnte in der westlichen Welt den Übergang von "materiellen" zu "post-materiellen" Wertorientierungen postulierte. Die neuen Inhalte und Formen politischen Handelns, die seit den 1950er Jahren in Großbritannien sichtbar wurden, folgten, so Black, post-materialistischen Logiken - mit dem Einzug breiten Wohlstandes und des Massenkonsums veränderte sich auch das, was als politisch gedacht und verhandelt wurde. Vormals dem Privaten vorbehaltene Themen wurden Gegenstand öffentlicher Debatte und damit politisiert; in der Folge verschob sich der politische Blick auf das Individuum; kulturelle Fragen rückten an die Spitze politischer Agenden; erbittert wurde über Moral gestritten; und der einzelne erhielt in seiner Funktion als Konsument politisches Gewicht zugeschrieben. Zugleich wurde politisches Handeln individueller und löste sich aus etablierten Bahnen: Pressure groups und Interessenverbände begannen die politische Landschaft zu bevölkern.

So sehr Ingleharts Modell Blacks Argumentation leitet (und nicht von ungefähr setzt das Buch mit dem Ende der Rationierung 1954 ein), so sehr differenziert Black dieses aber auch aus - letztlich ist ihm der postulierte Einzug des Postmaterialismus in die britische Politik nurmehr "trend" und "qualitative shift" (11), mithin wohl mehr Beschreibungskategorie und Referenzrahmen als analytisches Konzept. Während die von Inglehart inspirierte deutsche "Wertewandels-Forschung" tatsächlich der Verschiebung des "Wertekanons" nachzugehen versucht [2], fungiert Ingleharts These in Blacks Darstellung als Ausgangsbeobachtung, mit deren Hilfe er den Wandel des politischen Raumes erklärt. Dies ist jedoch nicht möglich ohne Variation des Vorausgesetzten: "Postmaterialistisch" inspirierte Politik musste nicht notgedrungen "postmaterialistischen" Inhalts sein, so Black. Vielmehr konnten sich "postmaterialistische" Politikformen und -anliegen gerade über das Eintreten für "materialistische" Inhalte formen und nicht einmal die Akzeptanz "postmaterialistischer" Werte sei dafür notwendig gewesen - an dieser Stelle kommen die Selbsthilfe- und Verbraucherlobby-Organisationen der Konsumgesellschaft ins Spiel. Während die 1957 gegründete "Consumers' Association" sich erfolgreich als politische Kraft etablieren konnte, indem sie offensiv für die Anliegen des Konsumenten - damit für materielle Anliegen - eintrat und den einzelnen über die Bereitstellung von Wissen zu verantwortlichem Handeln zu führen suchte, verlor das traditionelle Co-operative Movement der britischen Linken Ende der 1950er Jahre den Boden unter den Füßen, weil es sich gegen die Expansion des Massenkonsums sperrte und stattdessen nicht-materielle Werte hochhielt.

Ferner, so zeigt Black, wurde der "postmaterialistische" Wertewandel nicht nur von der Linken, sondern auch von der Rechten forciert. Die 1964 von der englischen Lehrerin Mary Whitehouse gegründete "National Viewers' and Listeners' Association" überzog die britische Öffentlichkeit der 1960er und 1970er Jahre mit Protesten gegen die Liberalisierung der Medien und v.a. des Fernsehens und des Hörfunks. Ins Felde geführt wurde der Erhalt der öffentlichen Moral. Diese Prioritätensetzung liest Black als "post-materialistisch" (und eben nicht als "anti-materialistisch"): "Cultural and moral politics seemed then to be post-materialist in form, but neither necessarily radical or progressive in content nor the preserve of the young or better-educated." (138) Die Politisierungswelle der 1960er Jahre, die das Private und Individuelle politisch werden ließ, bedeutete paradoxer Weise das Ende für die breite Verankerung der konservativen Jugendbewegung, der "Young Conservatives", deren Geselligkeitskultur des Unpolitischen und des "common sense" seit der Zwischenkriegszeit die britischen Städte und Gemeinden geprägt hatte. Der Charakter der Young Conservatives änderte sich im Laufe der 1960er Jahre grundlegend: Von nun an handelte es sich um kleine, politisierte Gruppen, die sich in eine emotionalisierte politische Kultur einpassten. Das neu-linke Kulturzentrum "Centre 42" wollte Kultur zur Politik machen - und scheiterte schließlich an den Kräften, die es mit freigesetzt hatte. Gegen die Populär- und Gegenkultur der 1970er Jahre wirkte sein kulturelles Repertoire, das die Macher als "progressiv" verstanden, überholt. Trotz "post-materialistischer" Agenda, so schlussfolgert Black, musste ein "post-materialistisches Projekt" nicht notwendiger Weise erfolgreich sein. Die entscheidende Dekade des Umbruchs sind in dieser Sicht die 1960er Jahre - in ihnen glaubt Black die Wurzeln einer politischen Kultur verborgen, die Großbritannien mit all ihren Ambivalenzen in den folgenden beiden Jahrzehnten prägen sollte.

"Redefining British Politics" ist ein reiches (manchmal zu detailreiches), herausforderndes und ambitioniertes Buch. Gleichzeitig ist es ein sehr britisches Buch: Wie Black sich an der These von der materiellen Determiniertheit von Politik abarbeitet, die den Hintergrund bildet für seine Konzentration auf Inglehart, ist in deutschen Augen erstaunlich. Es lässt sich daran zweifeln, ob dies der Analyse immer nutzt. Welchen Mehrwert hat das Postmaterialismus-Konzept, wenn es nur mehr die Individualisierung von Politik, die Weitung des politischen Raumes und das Auftreten neuer Mitspieler beschreibt? Um diese Prozesse zu erklären stehen weit aussagekräftigere Konzepte und Begriffe bereit. Nichtsdestoweniger ist Blacks britischer Blick auf die Bedeutung von Wohlstand und Massenkonsum für den Wandel der politischen Kultur der 1950er und 1960er Jahre anregend, und sein Gespür für die inhärenten Ambivalenzen, gerade mit Blick auf die Konservativen, ist dies gleichermaßen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Kerstin Brückweh / Martina Steber: Aufregende Zeiten. Ein Forschungsbericht zu Neuansätzen der britischen Zeitgeschichte des Politischen, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), 671-701

[2] Vgl. das DFG-Projekt "Werte und Wertewandel in Moderne und Postmoderne" an der Universität Mainz unter Leitung von Andreas Rödder, http://www.uni-mainz.de/FB/Geschichte/hist4/244.php [abgerufen am 3.9.2011].

Martina Steber