Rezension über:

Martin Kohlrausch / Katrin Steffen / Stefan Wiederkehr (eds.): Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; 23), Osnabrück: fibre Verlag 2010, 272 S., ISBN 978-3-938400-58-6, EUR 48,00
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Rezension von:
Guido Hausmann
Imre Kertész Kolleg, Jena
Empfohlene Zitierweise:
Guido Hausmann: Rezension von: Martin Kohlrausch / Katrin Steffen / Stefan Wiederkehr (eds.): Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I, Osnabrück: fibre Verlag 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/10/19214.html


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Martin Kohlrausch / Katrin Steffen / Stefan Wiederkehr (eds.): Expert Cultures in Central Eastern Europe

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Die vorliegende Publikation fragt nach dem sozialen Status und der sozialen Reputation der Experten im 20. Jahrhundert in Ostmitteleuropa. Sie geht dabei von den beiden Grundannahmen aus, dass Experten im 20. Jahrhundert erstens eine deutlich höhere Wertschätzung erhielten als zuvor und dass sie diese zweitens durch die Gesellschaft und den Staat erhielten. Die Herausgeber sprechen von der Herausbildung einer spezifischen ostmitteleuropäischen Expertenkultur, weil es ähnliche politische und gesellschaftliche Kontexte in den ostmitteleuropäischen Ländern im 20. Jahrhundert gab.

Die Beiträge des Sammelbandes, der auf eine Konferenz des DHI Warschau im Herbst 2008 zurückgeht, erforschen diese Expertenkultur in drei Dimensionen, die in Ostmitteleuropa spezifisch ausgeprägt waren: da ist einmal der Bedeutungsgewinn von technokratischem Denken und technologischer Expertise nach dem Ersten Weltkrieg, zum zweiten sind dies Expertennetzwerke zwischen nationaler Loyalität und Internationalismus sowie drittens die durch das Kriegsende nach 1945 geschaffenen Handlungsbedingungen und -möglichkeiten für Experten. Das sind gut gewählte thematische Schneisen, die den Inhalt sinnvoll strukturieren und die Beiträge ordnen. Die Herausgeber definieren den Expertenbegriff über berufliche Funktionen und Qualifikationen sowie soziale Wertschätzung, Eva Horn (Wien) fügt ergänzend einige Gedanken über die Exklusivität des Agentenwissens an. Doch bleibt etwas unklar, ob Geisteswissenschaftler, Juristen und andere Gruppen prinzipiell ausgeschlossen sind oder eher zufällig bzw. bewusst in dieser Veröffentlichung nicht vertreten sind, denn die Beiträge konzentrieren sich mehr oder weniger auf Technologieexperten.

Wie sah diese ostmitteleuropäische Expertenkultur nun aus? Was unterschied sie von der gemeineuropäischen Expertenkultur, was verband sie mit dieser?

Vier Beiträge widmen sich dem Bereich technokratisches Denken und technologische Expertise. Elisabeth van Meer (Charleston) hat dabei den einzigen Beitrag über die Zeit vor 1918 beigesteuert. Sie stellt sehr differenziert Nationalisierungsprozesse sich tschechisch nationalisierender böhmischer Ingenieure in der Habsburgermonarchie dar. Diese gewannen nationale Anerkennung durch Abgrenzung gegenüber deutschen Ingenieuren und Ausbildungsanstalten und - vor dem Ersten Weltkrieg - besonders durch öffentliches Engagement für wissenschaftliches Management in Wirtschaft und Gesellschaft, dessen nationalen Nutzen sie betonten. Kenneth Bertrams (Brüssel) vergleicht die USA und Belgien in der Zwischenkriegszeit mit Blick auf die Institutionalisierung von nützlichem sozialem und wirtschaftlichem Wissen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. Er stellt erstaunliche Ähnlichkeiten im Glauben an wissenschaftliche Planung zur Lösung sozialer und wirtschaftlicher Krisen fest. Stefan Rohdewald (Passau) knüpft daran mit einem Beitrag über Netzwerke der Technokratie und des wissenschaftlichen Managements in Polen nach 1918 an. Technokratische Konzepte gelangten seiner Darstellung nach aus den USA über die Tschechoslowakei nach Polen, wo er ihre Entfaltungskraft am Beispiel des Wissenschaftlers und konservativen Publizisten Tadeusz Dzieduszycki kontextualisiert und aus einer postkolonialen Perspektive analysiert. Valentina Fava (Helsinki) schließt diesen ersten und thematisch sehr geschlossenen Teil mit einer Untersuchung über tschechische und italienische Experten der Autoindustrie ab, die sich den Herausforderungen der amerikanischen Autoindustrie stellten. Sie vergleicht dabei die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg mit den ersten Nachkriegsjahren nach 1945 und verdeutlicht das kontinuierliche Interesse am amerikanischen Modell, aber auch dessen nur selektiven Übernahmen in den beiden europäischen Ländern, die nach 1945 in gänzlich anderen politischen Kontexten erfolgte.

Der Teil über Expertennetzwerke zwischen nationaler Loyalität und Internationalismus stellt das neu erstandene Polen nach dem Ersten Weltkrieg in den Mittelpunkt. Dagmara Jajeśniak-Quast (Erfurt) zeigt die europäisch-internationale Orientierung einiger polnischer Wirtschaftskreise in den 1920er Jahren und untersucht die Idee einer paneuropäischen Union bei Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi (1894-1972) sowie die Organisation ihrer polnischen Sektion. Viele Anhänger gehörten zur relativ kleinen Gruppe der polnischen Freimaurer, die schnell des nationalen Verrats und der Unterstützung der feindlichen Nachbarn Deutschland und Sowjetunion bezichtigt wurden. Ingo Loose (Berlin) greift die Frage nach der Rekrutierung neuer Eliten für die öffentliche Verwaltung in Polen nach 1918 auf und zeigt am Beispiel des ehemaligen preußischen Teilungsgebietes die sich über Jahre hinziehende Transformation eines so genannten funktionalen Systems. Politische Ziele und Vorgaben des Zentrums standen dabei häufig einer pragmatischen Politik vor Ort gegenüber, auch was das ehemalige deutsche Fachpersonal angeht. Roswitha Reinbothe (Duisburg-Essen) zeigt den Bedeutungsverlust des Deutschen als internationaler Wissenschaftssprache nach dem Ersten Weltkrieg in den neu gegründeten internationalen Wissenschaftsorganisationen, auf internationalen Kongressen und in Zeitschriften. Die ostmitteleuropäischen Wissenschaftler wandten sich dem Französischen und dem Englischen zu, was sich auch seit Ende der 1920er Jahre nur leicht änderte.

Der letzte Teil versammelt vier Beiträge, die sich mit der Zeit nach 1945 beschäftigen und sowohl Internationalisierungsprozesse innerhalb des sich formierenden Ostblocks als auch über den Eisernen Vorhang hinweg thematisieren. Christoph Mick (Warwick) stellt die 3.000 deutschen Wissenschaftler (etwa aus dem Bereich der Raketen- und Nukleartechnik), Ingenieure und Techniker dar, die nach 1945 zwangsweise aus der SBZ in die Sowjetunion gebracht wurden, um ihr Fachwissen zu nutzen. Weltanschaulich hingen sie zu einem erheblichen Teil weiterhin nazistischem Gedankengut an, verhielten sich in der UdSSR apolitisch und wollten vor allem nach Deutschland zurückkehren. Pál Germuska (Budapest) untersucht die Funktion sowjetischer militärischer Berater in Ungarn zwischen 1945 und 1956 und weist ihnen eine primär politische Funktion im Prozess der Sowjetisierung und besonders der technologischen Unterordnung Ungarns zu, von dem sich Ungarn sukzessive und partiell nach 1953 emanzipierte, bis ein großer Teil der sowjetischen Berater Ungarn 1956 verließ. Sari Autio-Sarasmo (Helsinki) skizziert sowjetischen Technologie- und Wissenstransfer aus Westdeutschland in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren im Kontext des Kalten Krieges. Das US-Embargo von Technologieexport gegenüber dem Ostblock nach 1949 führte auf der einen Seite zu einer Intensivierung der wissenschaftlich-technischen Kooperation und Arbeitsteilung innerhalb der Ostblockländer. Auf der anderen Seite sammelten Technologieberater sowjetischer Botschaften und Handelskommissionen in ausgewählten Ländern wie in Westdeutschland neues technologisches Wissen, bevor seit 1962 Industriespionagevorwürfe zu einer Abkühlung der Handelsbeziehungen beitrugen. Małgorzata Mazurek (Potsdam) diskutiert den Aufstieg von Experten im Bereich des Konsums und besonders der Produktqualität in Polen in den 1980er Jahren. Die Frage von Konsumentenschutz und -rechten erlebte seit 1980/81 eine Belebung, ohne Zweifel im Kontext der allgemeinen politischen Entwicklung des Landes, und sowohl innerhalb staatlicher Institutionen als auch in der demokratischen Opposition Polens. Konsumentenschutz und -rechte blieben aber in den folgenden Jahren ein Expertenanliegen und eine Expertendiskussion.

Der Sammelband zeichnet sich durch eine durchweg hohe Qualität der Beiträge und seine thematische Geschlossenheit aus; nur der Beitrag über Belgien und die USA fügt sich nicht ohne weiteres ein. Der Band bietet eher Ein- als Überblicke, er betont Integration und Kooperation über politische Grenzen und Blockbildung statt Ausgrenzung und Marginalisierung, er zeigt sowohl die Abhängigkeit der Macht von den Experten als auch der Experten von der Macht. Erschöpft ist das Thema Expertenkulturen für Ostmitteleuropa und Osteuropa mit dieser Veröffentlichung bei weitem nicht. Die Herausgeber haben mit ihr aber einige sehr wichtige Schneisen geschlagen. Nötig sind jetzt umfassendere Spezialstudien.

Guido Hausmann