Rezension über:

Bernhard Chiari / Conrad Schetter (Hgg.): Pakistan (= Wegweiser zur Geschichte), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 276 S., ISBN 978-3-506-76908-4, EUR 15,90
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Rezension von:
Jan Aengenvoort
Köln
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Jan Aengenvoort: Rezension von: Bernhard Chiari / Conrad Schetter (Hgg.): Pakistan, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/10/19923.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 11 (2011), Nr. 10

Bernhard Chiari / Conrad Schetter (Hgg.): Pakistan

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In der bewährten Reihe "Wegweiser zur Geschichte" des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) legen Bernhard Chiari und Conrad Schetter eine weitere Ausgabe vor, diesmal zur Geschichte Pakistans. Und getreu dem Bild, das der gesamten Reihe ihren Titel gibt, weisen sie dem Leser - oder gar dem Bundeswehrsoldaten im Speziellen? - den Weg in ein Land, das dank der "Berichterstattung in den Medien" eigentlich kein allzu beliebtes Reiseziel ist. Dies zu ändern - "den Blick auf Pakistan erweitern", mit "Unkenntnis von Geschichte und Kultur Pakistans" aufräumen - nehmen sich die beiden Herausgeber vor. Zum Glück, denn auch abgesehen von der unbestreitbaren Notwendigkeit, etwas gegen die hiesige Ignoranz gegenüber dem komplexen Themenkreis "Pakistan" zu unternehmen, tut dieser aufklärerische Ansatz der Überblicksdarstellung gut. So holt die Aufsatzsammlung, unbeschwert von Forscherdünkel und augenlidsenkendem akademischen Ballast, den interessierten Leser am Startpunkt der Entdeckungsreise ab, an dem kein Wissen vorausgesetzt wird.

Hinein geht es in Geschichte und Lebenswelten von 173 Millionen Pakistanern. Die Expedition ist in 17 Etappen gegliedert, von den antiken Anfängen des Landes am Indus bis zu heutigen Fragen der Wasserverteilung und Energieproduktion. Als Reiseführer stehen verlässliche Experten aus drei verschiedenen Bereichen bereit: Orientalisten, Entwicklungsforscher und Journalisten.

Nach den ersten Kapiteln schwant dem Leser aber bereits, dass der Titel "Wegweiser zu Geschichte" zumindest in diesem Band ein wenig irreführend ist. Denn das Ziel des Pfades, auf dem der Leser den beiden Herausgebern folgt, ist nicht die Geschichte Pakistans, sondern dessen Gegenwart. Man könnte meinen: Nun gut, historia magistra vitae, warum also nicht? Weil es dem Band programmatisch zwar darum geht, aus der Geschichte Pakistans dessen Probleme in der Gegenwart zu beleuchten, die Abhandlung der pakistanischen Geschichte bis zur Staatsgründung aber lückenhaft ist.

Es ist zwar ein formatbedingtes Charakteristikum von historischen Überblicksdarstellungen, dass viele Ereignisse und Zusammenhänge nicht erwähnt werden können. Allerdings ist es nun doch fraglich, in einer Geschichte Pakistans gut und gerne elf Jahrhunderte schlicht und einfach auszulassen - unmittelbar an das Kapitel zur Gandhara-Kultur schließt die Abhandlung der Mogul-Zeit an. Bedeutsame historische Entwicklungen finden keine oder nur marginale Erwähnung: die Islamisierung des Landes, die Reiche der Ghaznawiden und Ghuriden sowie das Entstehen des Delhi-Sultanats. Überhaupt kommt der afghanisch-persische Einfluss auf die Gebiete des heutigen Pakistans im Vergleich zur Betonung der indischen Einflüsse zu kurz. Auch kann dieses Manko nicht allein durch Platzmangel erklärt werden, findet doch ein vergleichsweise sekundäres Thema wie das Mansab-System der Moguln durchaus seinen Raum in der Darstellung. Vielleicht stammt diese sprunghafte Betrachtung der Geschichte Pakistans auch aus einem methodischen Versäumnis: Beginnt die Geschichtsschreibung Pakistans erst mit der Unabhängigkeit oder sollte sie doch als Ganzes auf die kolonialen und vorkolonialen "Geschichten" zurückgreifen? Die Herausgeber stellen sich diese Frage gar nicht erst. Leidtragender ist der Leser, der bei späteren Verweisen auf historische Entwicklungen in eine Sackgasse läuft (etwa wenn das Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten behandelt wird, jedoch weder die Übernahme des Islams noch die spätere Ankunft der Schia im historischen Überblick erwähnt worden war).

Die partielle Unausgewogenheit des historischen Abrisses kontrastiert stark mit den durchweg hervorragenden zeitgeschichtlichen und soziologischen Kapiteln des Bandes, die einen erhellenden Blick in das heutige Pakistan erlauben. Die Entwicklungen des jungen Staates nach der Unabhängigkeit werden leicht verständlich dargestellt. Auch dem Bild eines nahezu islamistischen Terrorstaates, der zu einem "failed state" zu werden droht, wird hier sehr differenziert und ausgewogen entgegengetreten. Die zahlreichen spezifisch pakistanischen Probleme von Migrationsströmen über ethnische Zersplitterung bis hin zur ungebrochenen Macht der Großgrundbesitzer werden detailliert erläutert und in Kontext zu den medial im Vordergrund stehenden Problematiken wie der Kaschmir-Frage und den Spannungen in den Tribal Areas gesetzt. Auch geben die verschiedenen Autoren dem Leser ein Bündel an Erkenntniswerkzeugen mit auf die Reise, so etwa Conrad Schetter mit der durchaus einprägsamen Einteilung der Einwirkungen auf das paschtunische Selbstverständnis in die Begriffe "Paschtunistan" (national-ethnische Frage der Selbstbestimmung zwischen Pakistan und Afghanistan), "Tribalistan" (lokale Konkurrenz und Interdependenz verschiedener Stämme) und "Talibanistan" (Einfluss des integristischen Islams in Verbindung mit paschtunischen Traditionen). Auch Jorge Scholz bietet mit einem nahezu aristotelischen Verweis auf die "zyklischen Schleifen", in denen sich demokratische und diktatorische Perioden in der jüngeren pakistanischen Geschichte seit 1947 abwechseln, einen pragmatischen Anhaltspunkt für das historische Verständnis. Einblicke in die für Außenstehende schwer zugänglichen Themenkreise der Familienstrukturen, Ethnizitäten und Geschlechterbeziehungen runden den Band ab.

Wenn der Reisende sich also nicht allzu lange in den anfänglichen Sackgassen des historischen Abrisses aufhält, gelangt er bestens informiert in der Gegenwart Pakistans an. Mehr kann man von einem Taschenbuch auf 250 Seiten nicht erwarten.

Jan Aengenvoort