Rezension über:

Klaus Harpprecht: Arletty und ihr deutscher Offizier. Eine Liebe in Zeiten des Krieges, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2011, 441 S., ISBN 978-3-10-030062-1, EUR 24,95
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Rezension von:
Florian Keisinger
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Florian Keisinger: Rezension von: Klaus Harpprecht: Arletty und ihr deutscher Offizier. Eine Liebe in Zeiten des Krieges, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2011, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/10/20177.html


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Klaus Harpprecht: Arletty und ihr deutscher Offizier

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Arletty hieß mit bürgerlichem Namen Léonie Bathiat und wurde 1898 in Courbevoie am Rande von Paris geboren. Wo heute die Hochhäuser von La Défense und die Grunstückspreise gleichermaßen in den Himmel wachsen, lebte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Pariser Arbeiterschaft, die "kleine Welt der Wäscherinnen und Büglerinnen", wie Arletty selbst im Rückblick auf ihre Kindheit und Jugend berichtete. Mit 16 Jahren trat sie ihre erste Stelle als Sekretärin im Justizministerium unter Aristide Briand an; später arbeitete sie im Büro des Rüstungskonzerns Schneider-Creusot.

Eine Zufallsbegegnung stand am Beginn ihrer Bühnen- und Filmkarriere, in deren Verlauf sie zu einer der bekanntesten französischen Schauspielerinnen des 20. Jahrhunderts avancierte. Mit der Rolle der Garance in Kinder des Olymp, der Film entstand zwischen 1943 und 1945 nach einem Dehbuch von Jacques Prévert und unter der Regie von Marcel Carné, gelang auch international der Durchbruch. An der umjubelten Pariser Premiere des Films konnte die Hauptdarstellerin jedoch nicht teilnehmen; Arletty befand sich zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis, die Anklage lautete "collaboration horizontal". Sie hatte sich, wie zahlreiche andere Frauen auch, während des Krieges auf eine Beziehung mit einem deutschen Soldaten eingelassen; "Vermittlung von Nachrichten an den Feind", nannte das die Staatsanwaltschaft. Auch wenn das Verfahren gegen sie eingestellt wurde (und sie auch nie, wie so viele andere Frauen, der Demütigung der öffentlichen Zurschaustellung ausgesetzt war), bedeutete es das Ende ihrer Karriere; große Rollen wurden ihr in der Folgezeit nicht mehr angeboten.

Wenn nun der Klappentext von Klaus Harpprechts neuem Buch angekündigt, der Autor erzähle eine "glamouröse deutsch-französische Geschichte von Liebe und Krieg", so ist das zwar nicht falsch, ganz zutreffend jedoch ist es auch nicht. Die rund vierjährige Liebesbeziehung zwischen Arletty und dem deutschen SS-Richter Hans-Jürgen Soehring liefert zwar die Rahmenhandlung des Buches; das eigentliche Thema jedoch ist das Leben Arlettys sowie die Zeit der deutschen Besetzung von Paris. Der Grund dafür ist in erster Linie handwerklicher Natur: Die vorhandenen Quellen lassen eine umfassende Rekonstruktion der französischen Jahre Hans-Jürgen Soehrings schlichtweg nicht zu; eigene Dokumente Soehrings aus dieser Zeit sind nicht erhalten, in den offiziellen Akten taucht der Name des SS-Mannes nicht auf. Auch die Tagebücher bekannter Zeitgenossen, die zur selben Zeit in Paris waren, etwa Ernst Jünger, lassen kaum Rückschlüsse auf Soehring zu. Es exisitieren lediglich einige literarische Versuche aus der Feder Soehrings, die dieser Jahre später unternommen hat, und in denen er - bzw. sein literarisches Alter Ego - von der Liebesbeziehung zu einer Französin während des Krieges berichtet. Für eine detaillierte historische Auseinandersetzung mit dem Leben (und Lieben) Soehrings während seiner Pariser Zeit reichen die Informationen jedoch nicht aus.

Harpprecht greift daher in die Trickkiste. Wiederholt zitiert er aus den Aufzeichnungen Ernst Jüngers und zieht Rückschlüsse auf die vermeintliche Gedankenwelt Soehrings. Denn, so die Begründung Harpprechts, "aus den literarischen Versuchen, mit denen sich Hans-Jürgen Soehring nach dem Krieg abmühte, darf man in der Tat den Schluss ziehen, dass er über die Probleme, mit denen die gewissenhaften Mitglieder der Besatzungsmacht in Frankreich konfrontiert waren, kaum anders gedacht hat als Ernst Jünger." Das jedoch ist reine Spekulation. Allzu nachsichtig fällt schließlich das Urteil aus, das Harpprecht über den deutschen Karrierejuristen und dessen Verstrickungen mit dem NS-Apparat fällt. Harpprecht präsentiert Soehring, der nach der Machtübernahme Hitlers der SS beigetreten war und 1937 als Teil der "Legion Condor" am spanischen Bürgerkrieg teilgenommen hatte, als einen im Grunde Unpolitischen, der sich im Krieg nichts habe zu Schulden kommen lassen und aufgrund seiner Bildung und Erziehung der französischen Kultur näher gestanden sei als der Nazi-Barbarei, die er insgeheim abgelehnt habe. Das mag alles sein; Quellen, die dem widersprechen, gibt es nicht; gleichwohl existieren aber auch keine Quellen, die eine solche Lesart bestätigen würden, weswegen an dieser Stelle etwas mehr Zurückhaltung angebracht gewesen wäre. Zumal, wie wir mittlerweile zur Genüge wissen, auch der Umstand, dass Soehring nach dem Krieg Aufnahme in die Reihen des Auswärtigen Amtes fand, kein zwingender Beleg für seine antinazistische Gesinnung ist. Harpprechts Urteil hingegen fällt ebenso eindeutig wie fragwürdig aus. Auf Seite 147 heißt es: "Ein Nazi war Soehring nicht, auch wenn ihm alle Zeugnisse seiner militärischen Laufbahn eine 'einwandfreie nationalsozialistische Gesinnung' attestieren."

Ausführlicher und auch lesenswerter sind die Passagen, in denen sich Harpprecht mit Arletty und dem Pariser Kulturleben während der Zeit der deutschen Besatzung befasst. Arlettys Aufstieg von der einfachen Büroangestellten zum gefeierten Star des Pariser Revue- und Boulevardtheaters der 1920er Jahre und schließlich zur bestbezahlten Filmschauspielerin Frankreichs, die mit Größen wie Jean Gabin vor der Kamera stand und mit Jean Cocteau zusammenarbeitete, wird eingehend beleuchtet, inklusive ihrer zahlreichen Liebschaften und der zeitweisen Drogenabhängigkeit. Anders als Soehring nimmt man Arletty ab, wenn sie zeitlebens darauf bestand, ein "unpolitischer Mensch" zu sein. Doch entging auch ihr nicht, was in Nazi-Deutschland vor sich ging, zumal sie sich in den 1930er Jahren wiederholt zu Dreharbeiten in Berlin aufhielt. Sie habe nichts von den Horrorszenen der antijüdischen Ausschreitungen mit eigenen Augen gesehen, lautete nach dem Krieg ihre nicht ganz eindeutige Erklärung. Angebote der deutschen Besatzer, die sie während des Krieges wiederholt für eine Zusammenarbeit gewinnen wollten, lehnte sie jedoch - obgleich finanziell äußerst lukrativ - kategorisch ab. Arletty war sicher keine Widerständlerin, aber eine Kollaborateurin, wie ihr nach dem Krieg vorgeworfen wurde, war sie auch nicht.

Ihr Metier war der Film, die Bühne und das französische Kulturleben. Letzterem widmet Harpprecht das beste Kapitel seines Buches ("Besatzungskultur: Blüte des Paradoxen"). Er beschreibt darin das Millieu der "gemäßigten Kollaborateure" (Alan Riding) und "vorsichtig Abwartenden", die allenfalls hinter vorgehaltener Hand über die Besatzer klagten, und befasst sich zudem eingehend mit den literarischen Publikationen, die in dieser Zeit entstanden und - das ist das eigentlich bemerkenswerte - auch erschienen sind. Zu ihnen zählt Albert Camus' Sysyphos-Mythos (1942), Der Fremde (1942) und auch Sartres Hauptwerk Das Sein und das Nichts (1943), das, so vermutet Harpprecht, von der Zensurbehörde wohl auch deswegen durchgewunken wurde, weil sich der Autor darin immer wieder auf Martin Heidegger bezog. Von Arletty ist hier kaum die Rede. An anderer Stelle erfährt man, dass auch sie bisweilen gerne in den Salons und bei den illustren Tischgesellschaften auftauchte, bei denen mitunter so bekannte Zeitgenossen wie Pablo Picasso, Paul Valéry oder Maurice Cevalier - um nur eine kleine Auswahl zu nennen - zugegen waren.

Klaus Harpprecht hat mit Arletty und ihr deutscher Ofizier ein eingängiges Buch geschrieben, das über weite Strecken überzeugt. Das gilt insbesondere für die Teile, die sich mit dem Pariser Kulturleben während der Besatzung und mit dem Leben Arlettys befassen. Bei der Bewertung des deutschen Feldrichter Hans-Jürgen Soehring wäre hingegen etwas mehr kritische Distanz angebracht gewesen. Allein die Tatsache, dass ein deutscher Offizier während des Zweiten Weltkrieges eine Beziehung zu einer schönen, begehrenswerten und noch dazu reichen Französin einging, ist noch lange kein Beleg für seine antinazistische Gesinnung.

Florian Keisinger