Rezension über:

Stephanie Hellekamps / Hans-Ulrich Musolff (Hgg.): Zwischen Schulhumanismus und Frühaufklärung. Zum Unterricht an westfälischen Gymnasien 1600-1750 (= Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte; Bd. 3), Münster: Aschendorff 2009, 316 S., ISBN 978-3-402-15042-9, EUR 44,00
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Rezension von:
Norbert Grube
Pädagogische Hochschule, Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Norbert Grube: Rezension von: Stephanie Hellekamps / Hans-Ulrich Musolff (Hgg.): Zwischen Schulhumanismus und Frühaufklärung. Zum Unterricht an westfälischen Gymnasien 1600-1750, Münster: Aschendorff 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 12 [15.12.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/12/17335.html


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Stephanie Hellekamps / Hans-Ulrich Musolff (Hgg.): Zwischen Schulhumanismus und Frühaufklärung

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Der von Hans-Ulrich Musolff und Stephanie Hellekamps herausgegebene, sechs Kapitel umfassende Sammelband geht der Frage nach, ob und inwiefern in der Phase von 1600 bis 1750 und im Erfahrungskontext des Dreißigjährigen Krieges ein curricularer Wandel an westfälischen Gymnasien eingesetzt habe. Dabei gehen sie von der These aus, dass der Schulhumanismus zugunsten von Metaphysik, Logik, Physik und (prä)cartesianischer Lehre an Bedeutung verloren habe (15f.). Um die überkonfessionelle Tiefe dieses Wandels aufzuzeigen, werden katholische, lutherische und reformierte Gymnasien in Münster, Dortmund, Soest, Steinfurt und Hamm untersucht.

Als Quellen haben die Autorinnen und Autoren in den ersten drei Kapiteln eine beeindruckende Fülle von lateinischen Disputationen ausgewertet, die allerdings je nach Schule unterschiedlich umfangreich ausfallen. Disputationen bildeten den Abschluss der Gymnasiallaufbahnen der Schüler. Sie weisen, so Susanne Denningmann, mit ihren Thesen auf zuvor behandelte Themen im Unterricht hin (44) und somit auf inhaltliche Kontroversen und curriculare (Neu-)Akzentuierungen. Der Zusammenhang zwischen Prüfungsthemen und Unterricht muss allerdings ebenso wenig zwingend sein (103f.) wie der zwischen Lehrplan oder Lehrbüchern und Unterrichtsinhalten. Darauf verweisen auch Musolff (182, 202) und Hellekamps (70). Insbesondere Musolff greift dann im vierten Kapitel über gymnasiale "Ausbildung für Beruf und Studium" um 1700 und im fünften Kapitel über die "Professionalisierung der Lehrer 1625-1724" auf quantitativ ausgewertete Schülerlisten des Gymnasiums Soest und Lehrerbiographien zurück, um Schulbesuch als Nachfrage und Lehrerbildungs- und -berufsverläufe als Indiz der Verfestigung des curricularen Wandels zu deuten.

Im ersten Kapitel betrachtet Musolff die Wiederkehr der teilweise präcartesianischen Metaphysik im Unterricht am Münsteraner Paulinum gleichsam als Ausgangspunkt für den curricularen Wandel nach dem Westfälischen Frieden von 1648. Metaphysik als Wissenschaft des immateriellen Seins erfahre ihre große Bedeutung durch ihre transkonfessionell angelegte Theorie- und Wissensorientierung in Bezug auf die Welt und Gott. Dadurch bringe sie den Menschen zur Kontemplation über sich selbst, was zugleich einer angemessenen Lebensführung entspreche (32, 38).

In zwei Aufsätzen des zweiten Kapitels zeigt Susanne Denningmann auf, dass der Logikunterricht am lutherischen Soester und am reformierten Steinfurter Gymnasium metaphysische Akzentuierungen erst erhielt, nachdem die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sonst vielfach verbotenen Einflüsse des Zwinglianers Philippe de la Ramée zurückgedrängt worden waren (49, 60, 96, 101). Ramistische Formen, auf Basis des sicheren Wissens zu weiteren Erkenntnissen zu kommen, wurden im Soester Logikunterricht Johannes Sybels mit aristotelischem Inhalt kombiniert (50). In Steinfurt enthielt der Logikunterricht zugleich insofern frühaufklärerische Tendenzen, indem Zustimmung zu einem Sachverhalt als vom erworbenen Wissen und Nachdenken abhängig gedacht wurde (86, 90). Durch Sybel prägten metaphysische Einflüsse auch den von Stephanie Hellekamps analysierten Physikunterricht in Soest im 17. Jahrhundert. Dabei leitete Sybel ein Metaphysikverständnis, das von universaler "Verstehbarkeit und Vernunftgemäßheit des Glaubens" (65) ausging. Im Verhältnis zu Gott erhielt Natur hier wie auch im Steinfurter Logikunterricht eine eigene Wirkmächtigkeit zugeteilt (67, 84). Diane Zekls Beitrag über den Logik-Unterricht in Hamm zeigt Bildungsnetzwerke zwischen deutschen und niederländischen Lehrern auf. Sie trugen zu dem frühen cartesianischen Einfluss am Gymnasium in Hamm um 1657 bei (105), der hier bis 1679 durch Professor Abraham Gulich verstärkt (111) wurde. Hellekamps und Musolff weisen im dritten Kapitel über die Descartes-Rezeption nach, wie Gulich die Anleitung zum Selberdenken, zur reflektierten, vernünftigen Lebensführung und zur Theorieorientierung präferierte (130). Die Neuausrichtung zur säkularen Anwendung des Wissens wird auch in der Affektenlehre von Johann Gottfried Marci in Soest deutlich, die auf einer Neubewertung der lediglich zu balancierenden, jedoch unbeherrschbaren Leidenschaften als Stimuli für das Denken beruhte (158, 165). Doch die cartesianischen Lehransätze richteten sich letztlich nur an die Elite der Denkenden und Wissenden, da nur diese Reflexion, Erkenntnis und Sein miteinander vereinbaren könnten (140, 173).

Den gleichwohl breiten curricularen Wandel im 17. Jahrhundert untersucht Musolff anhand von Auswertungen der Schülerlisten (177, 211) und Lehrerbiographien (247) im vierten und fünften Kapitel. Das Gymnasium in Soest sei eine "Stätte gemeinsamen Lernens für alle" (208), betont er in nicht explizierter Nähe zur Gesamtschulthese von Detlef K. Müller. Um 1700 besuchten in Soest Schüler mit späterem kaufmännischem oder handwerklichem Beruf kontinuierlich das Gymnasium bis zum Ende der Unterstufe, mehrheitlich wechselten jedoch nur die späteren Kaufleute in die gymnasiale Quinta (187). Ab der Quarta waren dann die späteren Akademiker, Beamten und Lehrer unter sich (204). Sie verließen jedoch häufig nach der Tertia, wie zuvor schon spätere Kaufleute, das Soester Gymnasium (227), da das Lehrangebot nicht immer den universitären Anforderungen und Erwartungen an beruflich nützliche Bildung entsprach. Musolff (243) spricht von einer Säkularisierungskrise des Soester Gymnasiums um 1700, einer schwindenden Akzeptanz des theologisch dominierten Unterrichts und einer stärkeren Nachfrage nach einem säkularen Curriculum.

Dieser curriculare Wandel entsprach, so Musolff, einer der Säkularisierung und Verstaatlichung der Gymnasien vorausgehenden frühen Professionalisierung westfälischer Gymnasiallehrer bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert, die zumeist haupt- und vollberuflich tätig und zu annähernd zwei Drittel akademisch gebildet waren (258).

Indem sie den frühen "Aufbruch in die Moderne" (260) betonen, wenden sich insbesondere Musolff und Hellekamps gegen eine von der Spätaufklärung ausgehende bildungshistorische Fortschrittsgeschichtsschreibung, etwa bei Karl-Ernst Jeismann (43, 176), sowie gegen die von Notker Hammerstein oder Anton Schindling vertretene Stabilität des Schulhumanismus im 17. Jahrhundert (62). Wünschenswert wäre jedoch statt mitunter redundanter oder sporadischer Hinweise eine zusammenhängende einleitende Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand und auch eine vorab präsentierte Diskussion und Erläuterung der benutzten Quellen gewesen. Ebenso hilfreich wären stärkere konzeptionelle Reflexionen über den Erklärungswert historischer Großtheorien der Konfessionalisierung und Modernisierung gewesen (77, 102), um den Schlussbefund zu präzisieren, wonach sich an westfälischen Gymnasien im 17. Jahrhundert Säkularisierungs- mit Konfessionalisierungsphasen abgewechselt hätten und sich im frühen 18. Jahrhundert der Unterricht retheologisiert habe (261).

Doch zeugt das ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnis von einer enormen und profunden Erschließung unbekannter Quellenbestände, die als großer Ertrag dieser mit Orts-, Personen- und Sachregistern erschlossenen Untersuchung anzusehen ist. So stellt das Buch nicht nur Material zum eingangs angemahnten "Erinnern" (7) bereit, sondern regt zu einer kritischen Reflexion allzu schematisierter schulhistorischer Erklärungsmuster an.

Norbert Grube