Rezension über:

Iris Schröder: Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790-1870, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, 411 S., ISBN 978-3-506-77158-2, EUR 49,90
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Rezension von:
Jürgen Osterhammel
Universität Konstanz
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Osterhammel: Rezension von: Iris Schröder: Das Wissen von der ganzen Welt. Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas 1790-1870, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 1 [15.01.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/01/19407.html


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Iris Schröder: Das Wissen von der ganzen Welt

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Das vermehrte Interesse für Raum und Räumlichkeit setzt sich seit einiger Zeit in ideen- und wahrnehmungsgeschichtliche Studien um, die man in drei Typen klassifizieren kann. Erstens werden Versuche unternommen, die Disziplingeschichte der Geographie in einem weiteren sozialen, medialen und politischen Kontext zu schreiben. Zweitens entstehen perzeptionsgeschichtliche Studien, die auf der Grundlage von überwiegend literarischem Material Veränderungen im außerwissenschaftlichen Raumbewusstsein rekonstruieren. Drittens hat die grenzenlose digitale Formbarkeit von Kartenbildern zu einer neuen Geschichte der Kartographie und ihrer Verwendungen geführt. Die Studie von Iris Schröder hat zu allen drei Aspekten Wichtiges zu sagen, gehört aber hauptsächlich zum ersten Typ, einer Geschichte des geographischen Denkens, die neuere Entwicklungen in der Historiographiegeschichte sowie der allgemeinen Wissens- und Wissenschaftsgeschichte auf geographisches Denken überträgt.

Wie die Autorin selbst formuliert, handelt es sich um eine "Geschichte globaler Geographien", wie sie in London, Paris und Berlin entstanden. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahrzehnte zwischen 1790 und 1870, also die lange Zwischenphase zwischen dem Verdämmern der geographischen Staatenkunde der Aufklärung auf der einen, dem (nahezu) europaweiten Durchbruch einer primär naturwissenschaftlich orientierten Hochschulgeographie auf der anderen Seite. Das Adjektiv "global" wird hier weitherzig verwendet. Es bezeichnet nicht ausschließlich Darstellungen, in denen der gesamte Planet behandelt wird, sondern auch großräumige Erfassungen von Kontinenten, die diese in wertende Hierarchien von Räumen einzuordnen versuchen. Dieser besondere Sprachgebrauch ermöglicht es der Autorin, im zweiten Teil des Buches "globale Geographien" Afrikas und Europas zu untersuchen.

Die Einleitung entwickelt aus einer sorgfältigen Diskussion der Forschungslage die These, "dass sich zwischen den späten 1790er und den 1860er-Jahren im westlichen Europa eine spezifische, geographisch begründete Verräumlichung des Denk- und Wahrnehmungshorizontes vollzogen hat" (10). Diese allgemeine Behauptung kann in den folgenden Kapiteln nicht vollständig belegt werden, da das verwendete Quellenmaterial keine hinreichenden Aufschlüsse auf Denken und Wahrnehmen außerhalb der geographischen Fachliteratur zulässt. Weitere Untersuchungen werden nötig sein, um diese " Verräumlichungs"-Hypothese zu testen.

Das ist nicht als Vorwurf an Iris Schröder gemeint, denn sie ist mit den umfangreichen Schriften englischer, französischer und deutsch-preußischer Geographen voll ausgelastet. Aber um das Buch zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass es im Kern nur um den öffentlichen Diskurs derjenigen geht, die sich in einer Zeit allmählicher Verfachlichung und Professionalisierung als "Geographen" zu verstehen begannen. Um das Feld empirisch weiter einzugrenzen, wählt die Autorin den geschickten Kunstgriff, ihre Protagonisten unter den prominenteren Mitgliedern der geographischen Gesellschaften in den drei Metropolen zu suchen.

Das erste der vier Kapitel skizziert die sich zunehmend ausdifferenzierende institutionelle Landschaft geographischen Wissens. London, Paris und Berlin unterschieden sich durch ihre jeweiligen Wissenschaftstraditionen, durch imperiale Kontexte verschiedenartigen Zuschnitts und durch die soziale Rekrutierungsbasis jener "Dilettanten" (im frühen 19. Jahrhundert noch kein abwertender Begriff), die den engsten Kreis der Experten umgaben. Die "Gelehrtenrepublik", die im 18. Jahrhundert nicht nur ein Ideal, sondern durchaus auch gelebte Realität gewesen war, setzte sich während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fort. Geographie blieb ein gesellschaftlich anerkanntes Thema, das grenzüberschreitend diskutiert wurde.

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte eine "Nationalisierung" des geographischen Interesses zu einer stärkeren Fixierung auf die "eigenen" Reisenden, Imperien und nationalstaatlichen Räume, doch auch dann wurden die bestehenden Kommunikationsnetze nicht zerrissen. "Konkurrenz und Zusammenarbeit" (65) bestimmten im ganzen 19. Jahrhundert den Umgang in der europäischen Ökumene der Geographen.

Das zweite Kapitel behandelt die "Neuerfindung der Geographie". Der bisher in der Literatur besonders beachtete Gründervater Alexander von Humboldt tritt dabei in den Hintergrund. Die wichtigsten Autoritäten für Iris Schröder sind der Berliner Geograph Carl Ritter, der dänische, in Frankreich tätige Erdbeschreiber Conrad Malte-Brun, der eher publizistisch und organisatorisch als forschend aktive Edme-François Jomard sowie der Venezianer Adriano Balbi, der wegen seiner engen Beziehungen nach Paris zum dortigen Geographenmilieu gerechnet wird. Vor allem Malte-Brun wird als Verfasser, Kompilator und Systematiker einer "Universalgeographie" zur zentralen Figur der Analyse. Carl Ritter, dessen tiefe Verwurzelung im deutschen Idealismus etwas undeutlich bleibt, steht hinter ihm deshalb ein wenig zurück, weil er seine universalistischen Ambitionen "nur" in einem Werk über Asien realisieren konnte, das aber in seiner Monumentalität nie wieder übertroffen wurde.

Überzeugend werden die konkreten Schwierigkeiten dargestellt, die sich etwa bei der Namensgebung und der Vereinheitlichung von Messgrößen stellten. Etwas anachronistisch ist der Vorwurf, trotz des "postulierten universellen Anspruchs" habe es sich bei den Universalgeographien um "genuin europäische" Projekte der kognitiven Weltordnung gehandelt (111). Die uns heute so sympathische "Provinzialisierung" Europas lag um 1840 schlichtweg außerhalb der Sphäre des Denkbaren. Nur Alexander von Humboldt mochte da eine Ausnahme gewesen sein.

Im dritten Kapitel geht es dann mit großem Detailreichtum um die geographische Erschließung Afrikas. Das Augenmerk auf Reisetechniken, Methoden der Beobachtung und Experimente mit Darstellungsformen eröffnet dabei Perspektiven auf die Afrikaforschung, die in der bisherigen Literatur fehlten. Iris Schröder ignoriert die Äußerungen von Reisenden, die Europa eine "sozialmoralische Mission" (190) oder gar einen kolonialen Auftrag zuwiesen, nicht. Sie sieht aber ebenso einen noch nicht völlig kompromittierten "Willen zur Wissenschaft" (192). Die Tendenzen hin zu einer eindeutig kolonialen Geographie intensivierten sich erst nach 1870.

Das vierte Kapitel stellt ähnliche Fragen an die "globalen Geographien Europas". Um 1870 wusste man über manche Gegenden des europäischen Kontinents, vor allem den Osten und Südosten, weniger als über große Teile Afrikas und Asiens. Diese Räume waren für Reisende weniger attraktiv, für Geographen mit systematisierendem Ehrgeiz weniger herausfordernd. Die geographische Europadebatte "sei fast schon provinziell" (259) gewesen. "Europasynthesen" erscheinen daher im Vergleich zu Werken über Afrika (und auch Asien) als glanzlos. Nur Ausführungen des späten Carl Ritter über Europas Sonderstellung unter den Kontinenten und die Europäisierung der Welt heben sich vom Mittelmaß ab. Ritter ist freilich niemals ein vulgärer Ideologe europäischer Überlegenheit gewesen. Ein "dichotomisierendes Kontrastmodell" (250) zwischen Europa und Asien findet sich bei späteren Autoren in viel krasserer Form.

Das Buch füllt eine wichtige Lücke in der Geschichte geographischen Denkens. Dank seiner breiten empirischen Fundierung, seiner Fülle an neuen Fragestellungen und seines reflektierten Umgangs mit Analysekategorien wird es die Aufmerksamkeit von Historikern für Probleme räumlicher Wahrnehmung schärfen.

Jürgen Osterhammel