Rezension über:

Sophie Glansdorff (éd.): Comites in regno Hludouici regis constituti. Prosopographie des détenteurs d'offices séculiersen Francie orientale, de Louis le Germanique à Charles le Gros 826-887 (= Instrumenta; Bd. 20), Ostfildern: Thorbecke 2011, 327 S., 11 Abb., ISBN 978-3-7995-7920-9, EUR 46,00
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Rezension von:
Johannes Bernwieser
Regesta Imperii, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Georg Vogeler
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bernwieser: Rezension von: Sophie Glansdorff (éd.): Comites in regno Hludouici regis constituti. Prosopographie des détenteurs d'offices séculiersen Francie orientale, de Louis le Germanique à Charles le Gros 826-887, Ostfildern: Thorbecke 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 3 [15.03.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/03/19996.html


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Sophie Glansdorff (éd.): Comites in regno Hludouici regis constituti

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Bei der Erforschung der karolingischen Herrscher ergibt sich ein deutliches Ungleichgewicht: Während die historische Mediävistik Karl den Großen und Ludwig den Frommen besonders intensiv untersuchte und ihre Leistungen um Bildung und Kultur sowie um die innere Festigung und die rechtliche Verankerung der erworbenen Reichsteile immer wieder betonte, widmete sie Ludwigs Söhnen und deren jeweiligen Nachkommen weit weniger Aufmerksamkeit. Dieses Missverhältnis hängt mit dem traditionell eher entwicklungsgeschichtlich ausgerichteten Interesse der Forschung zusammen, der es seit dem 19. Jahrhundert vor allem darauf ankam, die Ursprünge der zu dieser Zeit entstehenden Staaten Deutschland und Frankreich zu erhellen. Vor diesem "nationalen" Hintergrund gerieten die späteren Karolinger vor allem deswegen aus dem Blick, weil ihre Herrschaft infolge des weiteren konfliktbedingten Auseinanderbrechens der Reiche als eine die "Nationsbildung" verhindernde Krisenzeit betrachtet wurde. Diese Einschätzung galt lange Zeit auch für den dritten Sohn Ludwigs des Frommen, Ludwig den Deutschen, und dessen Nachkommen Karlmann und Karl den Dicken (826-888). In den letzten Jahren wurde dieses Bild allerdings korrigiert: Insbesondere die Einsicht in die Grundlagen einer im Wesentlichen auf Personenbindungen fußenden Herrschaftspraxis ließ die wirkmächtige Vorstellung von den schwachen, an der langfristigen Etablierung ihrer Reiche ebenso wie an der Aufrechterhaltung ihrer "Zentralmacht" gescheiterten "Epigonen" Karls des Großen als fragwürdig erscheinen.

Vor diesem Hintergrund ist eine Studie hoch willkommen, die nach dem Einfluss der an Ludwigs, Karlmanns und Karls Höfen versammelten Fürsten fragt und diejenigen Personen namhaft zu machen versucht, "qui, auprès du roi, participaient à la conduite des affaires du royaume" (9). Angesichts des für diese drei Könige ziemlich umfangreichen und disparaten Quellenmaterials schränkt Glansdorff ihre Untersuchung zweifach ein: Erstens konzentriert sie sich ausschließlich auf die weltlichen Großen, genauer: auf die comites sowie auf die mit Hofämtern ausgestatteten Adligen (comites palatii, venatores, dapiferi). Zweitens klammert sie die Lombardei (seit 877 Teil Ostfrankens), das westliche Lotharingien (seit 880 Teil Ostfrankens) und das westfränkische Reich (885 von Karl dem Dicken ererbt) aus ihrer Analyse aus.

Zum Aufbau: Das erste Kapitel (11-17) behandelt die der Studie zugrundeliegenden Quellen; dies sind neben den insgesamt 223 Urkunden der Herrscher vor allem die Annales Fuldenses, die Conversio Bagoariorum sowie die Überlieferung aus Freising, Sankt Gallen und der Reichenau. Es folgen sieben Tabellen, in denen alle im Buch behandelten Personen nach Regionen geordnet aufgelistet werden (17-24). Das dritte Kapitel ist mit der Ämtervergabe, der Absetzung von Grafen und dem Problem der Amtsnachfolge befasst (24-40). Daran anschließend werden die königsnahen Amtsträger sowohl in Bayern (826-840) als auch im ostfränkischen Reich (840-876) beleuchtet, und damit so etwas wie eine Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse geliefert (41-51). Das fünfte und letzte Kapitel bildet mit einer insgesamt 205 Nummern umfassenden Prosopographie den eigentlichen Hauptteil der Arbeit (55-260). Im Anhang finden sich sechs Landkarten, fünf Genealogien, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie die Indices zu Orts- und Personennamen (262-327).

Glansdorff arbeitet sehr gründlich: Sie durchforstet nicht nur die einschlägigen historiographischen, urkundlichen und privaturkundlichen Quellen akribisch, sondern wertet auch systematisch die jeweilige Forschungsliteratur aus, was nicht nur angesichts der derzeit nur als Mikrofiche greifbaren dreibändigen, fast 1.500 Seiten starken und für die hier verfolgte Fragestellung zentralen Arbeit von Nicolas Brousseau zur "Kanzlei" Ludwigs des Deutschen [1] eine immense Leistung darstellt. Kriterium für die Aufnahme einer Person in die Untersuchung ist die mindestens einmalige Nennung in den Quellen; das methodische Problem, inwiefern bloße Anwesenheitsbelege Rückschlüsse auf die tatsächliche Stellung im politischen Gefüge zulassen, diskutiert Glansdorff allerdings kaum. Ihre - leider nur sehr knapp begründete - Entscheidung, die geistlichen Würdenträger aus der Untersuchung auszuklammern, hat weitreichende Konsequenzen: Vor allem ihre Analyse von Ludwigs frühen Herrschaftsjahren als rex Baioariorum macht deutlich, dass Informationen über Laien in den Quellen weitaus seltener zu finden sind als über den am Hof versammelten Klerus. Eine Ausnahme bildet hier vielleicht der zwischen 830 und 837 belegte bayerische Pfalzgraf Timo, der im Gedicht eines Freisinger Klerikers als königlicher Missus vorgestellt und zudem in mehreren Privaturkunden genannt wird. Ihm widmete sich aber bereits Roman Deutinger [2] ausführlich - leider wird dies von der Verfasserin, die Deutingers Arbeit sonst mehrfach zitiert, nicht angemerkt. [3] Auf die in der Einleitung formulierte Hypothese, dass die frühmittelalterliche Königsherrschaft zwingend auf den Konsens mit den Fürsten angewiesen war (25), wird im Verlauf der Studie kaum mehr Bezug genommen. So bleiben weiterführende Fragen wie beispielsweise nach der spezifischen Bindungskraft der jeweiligen Herrscherhöfe oder nach der Funktion der königlichen Missi unbeantwortet, da sich Glansdorff für das differenzierte Instrumentarium, das die "Kulturgeschichte des Politischen" zur Interpretation politischen Handelns im Mittelalter in den vergangenen Jahren erarbeitete, kaum interessiert. Diese für das Verständnis der Herrschaft Ludwigs des Deutschen, Karlmanns und Karls des Dicken so zentralen Aspekte müssen also erst künftig noch gründlicher beleuchtet werden; freilich wird die vorliegende Studie dabei unentbehrlich sein.


Anmerkungen:

[1] Nicolas Brousseau: Recherches sur la diplomatique de Louis le Germanique, étude comparatiste, 3 Microfiches, Atelier national de Reproduction des Thèses, Lille 2006.

[2] Roman Deutinger: Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der Karolingerzeit, Ostfildern 2006, 176-181.

[3] Ebenso unerwähnt bleibt die für Timo grundlegende Studie von Christof Paulus: Das Pfalzgrafenamt in Bayern im Frühen und Hohen Mittelalter, München 2007, 117-151.

Johannes Bernwieser