Rezension über:

Matthew P. Romaniello / Charles Lipp (eds.): Contested Spaces of Nobility in Early Modern Europe, Aldershot: Ashgate 2011, XI + 298 S., ISBN 978-1-4094-0551-1, GBP 70,00
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Rezension von:
Kolja Lichy
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Kolja Lichy: Rezension von: Matthew P. Romaniello / Charles Lipp (eds.): Contested Spaces of Nobility in Early Modern Europe, Aldershot: Ashgate 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 6 [15.06.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/06/19754.html


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Matthew P. Romaniello / Charles Lipp (eds.): Contested Spaces of Nobility in Early Modern Europe

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Über einen Mangel an neuen Publikationen zur Adelsgeschichte kann man sicherlich nicht klagen. Dass in den letzten Jahren zahlreiche Detailstudien zu verschiedenen europäischen Adelsgesellschaften entstanden sind, hat etwa die beiden wichtigen Überblickswerke zum europäischen Adel in der Frühen Neuzeit von Jonathan Dewald und von Ronald G. Asch ermöglicht. [1] Im Ergebnis dieser Entwicklung darf für die Adelsforschung als breiter Konsens eine Abkehr von der Annahme einer strukturellen Krise des 17. Jahrhunderts und einer sukzessiven Niedergangserzählung angenommen werden. Gestützt wurde dies nicht zuletzt durch das neue Interesse für das Fortleben des Adels aus einer sattelzeitlichen Perspektive und weit darüber hinaus bis ins 20. Jahrhundert. In diesem Kontext sowie im Gefolge der Kontroversen um das Absolutismusparadigma haben sich die jüngeren - wie auch immer kulturgeschichtlich beeinflussten - Arbeiten intensiv der Fragen nach Mobilitäten in der Ständegesellschaft, Aushandlung von Rang und der sozio-politischen (Selbst-)Verortung des Adels angenommen. Mithin reiht sich der vorliegende Sammelband ganz explizit in diese nun schon länger anhaltende Forschungstendenz ein, was die Herausgeber anscheinend signalartig mit ihren titelgebenden "contested spaces" hervorheben möchten. Der "contest" scheint für Romaniello und Lipp in diesem Sinne ein Schlüsselbegriff zu sein, um die Behauptung der gesellschaftlichen Position des Adels und dessen Adaptation an eine sich ändernde Welt zu beschreiben. Man kann allerdings darüber streiten, ob es tatsächlich notwendig ist, diese Position in eine teleologisch eingefärbte Modernisierungsperspektive einzubetten. Weit weniger deutlich konturiert scheint hingegen der von den Herausgebern favorisierte Raumbegriff. Natürlich stützen sie sich mit Henri Lefebvre und Edward Soja dabei auf soziologische Theoretiker, die - zwar mit deutlichen Differenzen - beide eine konstruktivistische Perspektive auf den Raum einnehmen. Dies alles ist auch aus der deutschen Diskussion seit Jahren hinlänglich bekannt, ohne dass die von Romaniello und Lipp vorgeschlagene analytische Entgrenzung zu größerer konzeptueller Klarheit beitrüge: Räume seien "a method of delineating society" (4).

Reichen die Beiträge des Sammelbandes chronologisch vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, deckt er auch in geradezu vorbildlicher Breite eine geographische Zone von Frankreich über das Heilige Römische Reich und Polen-Litauen bis Moskau, vom Osmanischen Reich über Spanien, Portugal und Italien bis England ab. Eine solche Diversität soll - so die Intention der Herausgeber - erlauben, das frühneuzeitliche Verständnis von Adel als sozial distinkter Gruppe differenziert zu betrachten. Die angestrebten interdisziplinären Ansätze werden vor allem im Beitrag von Sukanya Dasgupta über die englische country-house-Poesie und teils in Cornelia Soldats Überlegungen zu den Grablegen russischer Adelsfamilien deutlich. Hingegen sucht man die für den Band zugleich behauptete "Transnationalität" in den einzelnen Aufsätzen vergeblich. An dieser Stelle macht sich das Fehlen einiger zusammenfassender Reflexionen schmerzlich bemerkbar. Sie hätten es vielleicht vermocht, die Einzelergebnisse der fast durchweg sehr anregenden Beiträge in einer weiter gehenden Synthese zu verdichten. Die übergreifenden historiografiegeschichtlichen Bemerkungen von Hamish Scott zu Beginn sind sicherlich sehr informativ, konzentrieren sich jedoch im Wesentlichen auf die angelsächsische, teils die französische Forschung.

Der inhaltliche Zusammenhalt des Bandes wird durch die Orientierung an einigen Themenkreisen gewährleistet, die in unterschiedlichen Kontexten immer wieder auftauchen und sich in etlichen Beiträgen überlappen. Die Herausgeber haben zwar auf die formale Zuordnung der Einzelbeiträge zu Großabschnitten verzichtet, die Anordnung der Aufsätze dagegen ist neben einem chronologischen zugleich durch ein systematisches Prinzip bestimmt. Mit dem Genderaspekt setzen sich in erster Linie Erica Bastress-Dukehart am Beispiel der Zwillingsgeburt von Markgräfin Agnes von Baden und Grace E. Coolidge auseinander, die das Verhältnis von adliger Männlichkeit im Kontext der Rolle von Mätressen und Ehefrauen im spanischen Adel beleuchtet. Der Beitrag von Susannah Humble Ferreira zum portugiesischen Hof unter Manuel I. macht dann den Auftakt zu einem Sample von Überlegungen, die den geographischen und architektonischen Raum in den Mittelpunkt stellen. Dazu gehören auch der schon erwähnte Aufsatz von Soldat sowie der Beitrag von Katherine L. Turner zu dem von Cosimo I. Medici und seiner Frau Eleonora gegründeten Konvent für adlige Damen in Florenz. Zu dieser Gruppe wären letztlich auch die zitierten Überlegungen von Dasgupta zu zählen, die die architektonischen Strategien englischer Peers mit den von ihnen zugleich beauftragten architektonischen Elegien zusammenbindet. Letztere Forschungen werden aber durchaus zurecht im vorliegenden Band in einen Zusammenhang mit den Beiträgen Mathieu Marrauds zu Paris und Jerzy Lukowskis zu Polen-Litauen gestellt. Wie in Dasguptas Hauptthese geht es auch bei Marraud und Lukowski um die Frage nach der Abgrenzung zwischen Adel und Bürgertum im späten 17. bzw. im 18. Jahrhundert. Insbesondere Marraud verweist dabei auf den wichtigen Aspekt, dass nicht allein der Adel es mit "contested spaces" zu tun hatte, sondern sich diese Frage genauso auf das Bürgertum - und letztlich alle Stände - ausweiten lässt. Elie Haddad und Ryan Gaston schließlich nähern sich dem Adel unter den Auspizien des Rechts und des monarchischen Herrschaftsanspruches. Haddad entwirrt überzeugend die sehr widersprüchlichen zeitgenössischen Adelsdefinitionen und stellt sie in den Kontext der enquête de noblesse des 17. Jahrhunderts und der folgenden monarchischen Regelungsversuche. Auch Gaston nimmt seinen Ausgangspunkt bei zeitgenössischen Definitionsansätzen, um sie mit den weitgehend gescheiterten Versuchen der spanischen Monarchie in Beziehung zu setzen, in eigenen Bildungseinrichtungen einen normierten Dienstadel heranzuziehen. Die Frage nach dem Verhältnis zu einer monarchischen Zentralmacht und das Ringen um das Beibehalten sozialer Vormachtstellung durchziehen daneben auch den Beitrag von M. Safa Saraçoğlu zu lokalen bulgarischen Eliten im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts.

Alle Beiträge sind mehr oder minder geprägt durch die klassischen Fragen nach Herrschaft sowie Legitimierungsstrategien, nach Abgrenzung nach oben und unten, nach Männlichkeit und Weiblichkeit sowie nach dem Selbstverständnis des Adels. Grundlegend Neues erfährt man aus dem vorliegenden Sammelband mithin sicherlich nicht, die Einzelstudien lohnen aber die Lektüre. Dies gilt umso mehr, als hier eine sehr breite geographische wie chronologische Reihe von Beiträgen versammelt ist. Angesichts dessen mag es ungerecht scheinen, noch weitere Themenfelder als Desiderate des Bandes einzufordern. Wünschenswert wären jedoch Reflexionen zum Militär als zentralem Betätigungsfeld des Adels gewesen, ebenso erstaunt das völlige Fehlen der Konfessionsproblematik.


Anmerkung:

[1] Jonathan Dewald: The European nobility, 1400-1800 (= New approaches to European history 9), Cambridge u.a. 1996; Ronald G. Asch: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung (= UTB 3086: Geschichte), Köln / Weimar / Wien 2008.

Kolja Lichy