Rezension über:

Tanja Scheer (Hg.): Tempelprostitution im Altertum. Fakten und Fiktionen. Unter Mitarbeit von Martin Lindner (= Oikumene. Studien zur antiken Weltgeschichte; Bd. 6), Berlin: Verlag Antike 2009, 415 S., ISBN 978-3-938032-26-8, EUR 59,90
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Rezension von:
Irene Berti
Seminar für Alte Geschichte und Epigraphik, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Irene Berti: Rezension von: Tanja Scheer (Hg.): Tempelprostitution im Altertum. Fakten und Fiktionen. Unter Mitarbeit von Martin Lindner, Berlin: Verlag Antike 2009, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 7/8 [15.07.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/07/16162.html


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Tanja Scheer (Hg.): Tempelprostitution im Altertum

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Der Sammelband präsentiert die Beiträge der interdisziplinären Konferenz "Tempelprostitution zwischen griechischer Kultur und Vorderem Orient" (Oldenburg 2007). Durch Beiträge aus den Fachbereichen der Assyriologie, Ägyptologie, Iranistik, Indologie, Theologie und Alten Geschichte wird das Thema zeitlich und räumlich umfassend von den frühesten Schriftkulturen bis in die Spätantike im mediterranen Raum behandelt. Das Buch stellt sich bewusst der in der althistorischen Forschung verbreiteten Tendenz entgegen, die Existenz der Tempelprostitution in der klassischen Antike unkritisch zu akzeptieren und sie als einen Import aus dem Orient zu interpretieren, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass dieser Hinweis den griechisch-römischen Quellen entnommen wird, welche absichtlich die Tempelprostitution erwähnen, um die kulturellen und sozialen Praktiken des Alten Orients in einem exotischen und negativen Licht darzustellen.

So skizziert z.B. Julia Assante die von evolutionistischen sowie christlich-moralistischen Gedanken geprägte Forschungsgeschichte der angeblichen Tempelprostitution im Kult des babylonischen Ishtar. Die unkritische Verwendung von Frazers Theorien über die Fruchtbarkeitgöttinnen und ein überproportionales Interesse von Theologen am Alten Orient haben, laut Assante, dazu beigetragen, die hebräischen Invektiven gegen die Hure Babylon wortwörtlich zu interpretieren und Ishtar als eine Gottheit zu definieren, die selbst eine Hure ist und deren Diener und Dienerinnen Prostituierte waren. Assantes terminologische Untersuchungen beweisen, dass viele Begriffe, die mit Tempelprostituierten/Tempelprostitution in Verbindung gebracht wurden, ein viel breiteres semantisches Spektrum aufweisen: So deutet Assante das oft mit 'Hure' übersetzte akkadische Wort "harimtu" als eine "Frau die weder die Tochter eines Mannes noch die Ehefrau eines Mannes" ist . [1] Die Fixierung auf die sexuellen Aspekte des Ishtar-Kultes hat dazu beigetragen, dass andere, wichtige Funktionen der Göttin als Herrin des Schicksals und des Krieges von der Forschung vernachlässigt wurden.

Die Vorstellung einer derart sexuell beladenen Kulturlandschaft hatte verhängnisvolle Konsequenzen für die Forschungsdebatte über die Tempelprostitution im antiken mediterranen Kulturraum, weil das babylonische Modell unkritisch als Paradigma aller weiteren Tempelprostitutionen übernommen wurde.

Eine Reihe von Aufsätzen zeigt, dass auch im griechisch-römischen Bereich viele bisherige Forschungsansätze sich als spekulativ und verallgemeinernd erweisen. Stephanie Budin untersucht die Bedeutung der Begriffe "hierodule" und "hiera somata" bei Strabon und interpretiert sie als "sacrally manumitted slaves" (217). Dabei entmythisiert sie die angeblichen Tempelprostituierten von Korinth als einfache freigelassene Prostituierte. Einer ähnlichen Interpretationslinie folgt auch Tanja Scheer: Obwohl in Korinth die profane Prostitution sicherlich eine verbreitete Profession war - es handelt sich immerhin um eine reiche Hafenstadt - existieren, so Scheer, keine Beweise für eine direkte Verbindung dieses Phänomens mit der Kultpraxis. [2] Sehr überzeugend wirkt auch ihr Versuch, die Tempelprostitution im griechischen "religiösen Feld" und in der griechischen Wirtschaft zu verankern, die zu dem Schluss führt, dass eine solche Institution mit der griechischen Kultpraxis schwer kompatibel ist. Der Begriff Tempelprostitution ist, so Scheer, irreführend. Obwohl die Möglichkeit, dass man in Korinth der Aphrodite Hetärensklavinnen stiften konnte, durchaus nicht auszuschließen ist, galt ihre Arbeit auf keinem Fall als "heilig". Der Ertrag ihrer Arbeitsleistungen könnte zum Unterhalt des Heiligtums beigetragen haben, die Prostitution selbst wurde aber weder vom Tempel organisiert noch fand sie im Tempel statt.

Der Fall vom Berg Eryx in Sizilien - von Martin Lindner und Stephanie Budin diskutiert - wurde lange Zeit mit dem Aštart-Kult in Verbindung gebracht und als Produkt einer allgemeinen und schwer beweisbaren "semitic sacred prostitution" (211) sowie als Ergebnis phönizisch-punischen Einflusses interpretiert. Weder aus der elymischen noch aus der karthagischen Phase sind uns jedoch Zeugnisse überliefert, die Rückschlüsse auf die damalige Kultpraxis im sizilischen Eryx zulassen, und selbst in Karthago ist die Institution der Tempelprostitution nicht eindeutig belegt. Lindner interpretiert die Erwähnung der Tempelprostitution auf dem Berg Eryx in den lateinischen Quellen im Rahmen des zeitgenössischen römischen Fremdendiskurses als wiederkehrendes Motiv der Mentalitätsgeschichte, das nicht als Beweis für eine reale Kultpraxis verwendet werden darf.

Im Gegensatz zum antiken Mittelmeer lassen sich in Indien gut belegte Beispiele für Tempelprostitution im historischen und im gegenwärtigen Kontext analysieren. Renate Syed stellt die oft durchaus positiven Aspekte der Tradition der Devadasis für die beteiligten Frauen und Familien dar und rekonstruiert die Geschichte der westlichen negativen Rezeption des Davadasis-Systems, sowie des - vergeblichen - Versuches, die Tradition zu unterbinden. Sehr aufschlussreich für die Debatte über die Tempelprostitution in der Antike erweist sich hierbei die Darstellung der verzerrten Wahrnehmung des Devadasis-Systems durch westliche Zeugen, die zwischen Abscheu und Idealisierung schwanken. "Verwirrung, Staunen und Abscheu der britischen Missionarinnen vor der Verbindung von Religion und Sexualität sowie vor dem nach zeitgenössischer Moral nicht normenkonformen Verhalten der indischen Tempeldienerinnen erinnern an die befremdete Rezeption von Traditionen über angebliche Tempelprostitution in der Welt der Antike" (20).

Der Sammelband räumt mit vielen Vorurteilen über Tempelprostitution auf und schafft Klarheit in einer immer noch sehr konfusen und emotional beladenen Forschungsdebatte, auch wenn die Aufsätze teilweise etwas zu entschieden jede mögliche Existenz der Tempelprostitution im Mittelmeerraum ausschließen. Die Stärke des Buches liegt vor allem im Hervorheben des argumentativen Zirkels, der die schwache Evidenz der Tempelprostitution untermauert. Besonders überzeugend wirkt dabei methodologisch der interdisziplinäre Ansatz, der die Unmöglichkeit der Festlegung eines "Ursprungslandes" oder einer "Ursprungstradition" zeigt und das Spiel der - angeblichen - wechselseitigen Einflüsse als eine Erfindung der Forschungsdebatte enttarnt.


Anmerkungen:

[1] Dagegen vgl. jedoch Wilfried G. Lambert: Prostitution, in: Volkert Haas (Hg.): Außenseiter und Randgruppen. Beiträge zu einer Sozialgeschichte des Alten Orients (Xenia 32), 1992, 127-157 und neulich Morris Silver: Temple/Sacred Prostitution in Ancient Mesopotamia Revisited. Religion in the Economy, Ugarit Forschungen 38, 2006, 631-663, der manche Bemerkungen von Assante übernimmt, aber insgesamt die Existenz der Tempelprostitution im antiken Mesopotamien verteidigt.

[2] In die gleiche Richtung argumentieren auch Vinciane Pirenne-Delforge: Something to do with Aphrodite. Ta Aphrodisia and the Sacred, in: Daniel Ogden (ed.): A Companion to Greek Religion, London 2007, 311-323; Gabriella Pironti: Entre ciel et guerre. Figures d'Aphrodite en Grèce ancienne (Kernos Suppl. 18), 2007, 249-250; Stephanie Budin: The Myth of sacred Prostitution in Antiquity, Cambridge u.a. 2008.

Irene Berti