Rezension über:

Ines Lehmann: Die Außenpolitik der DDR 1989/90. Eine dokumentierte Rekonstruktion, Baden-Baden: NOMOS 2010, 1041 S., ISBN 978-3-8329-6007-0, EUR 129,00
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Rezension von:
Hermann Wentker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Wentker: Rezension von: Ines Lehmann: Die Außenpolitik der DDR 1989/90. Eine dokumentierte Rekonstruktion, Baden-Baden: NOMOS 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 12 [15.12.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/12/19301.html


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Ines Lehmann: Die Außenpolitik der DDR 1989/90

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Das Buch der Sozialwissenschaftlerin Ines Lehmann zur Außenpolitik der DDR im letzten Jahr ihrer Existenz ist weder eine Monographie noch eine wissenschaftliche Edition. Die Autorin nennt es vielmehr eine "Rekonstruktion" (1), die eine Darstellung von knapp 370 Seiten sowie eine sehr viel kleiner gesetzte Zusammenstellung von 238 Dokumenten auf gut 600 Seiten enthält. Das Verdienst der Autorin besteht darin, diesen letzten Abschnitt der DDR-Außenpolitik erstmals eingehend gewürdigt zu haben - bisher war man dafür auf die knappen Ausführungen von Werner Weidenfeld in seinem Werk "Außenpolitik für die deutsche Einheit" von 1998 angewiesen.

Dabei hat Lehmann auf eine Fülle von Material aus den unterschiedlichsten Archiven zurückgegriffen: auf den Bestand Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (MfAA) im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, auf Akten der Regierung Modrow im ehemaligen PDS-Archiv, auf Schriftstücke aus dem Privatarchiv Markus Meckel und dem Depositum von Ulrich Albrecht in der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie auf Akten des Amts des DDR-Ministerpräsidenten und des Ministerrats im Bundesarchiv. Überdies hat sie, was in einer klassischen Aktenedition unüblich ist, auch öffentlich zugängliche Dokumente, so etwa Erklärungen der DDR-Volkskammer, Parteiprogramme, Zeitungsartikel und Zeitungsinterviews abgedruckt.

Die einführende Darstellung ist sehr kleinteilig und versäumt es, das grundlegende Problem der DDR-Außenpolitik dieser Zeit ausdrücklich zu thematisieren: die bereits zu Beginn des Jahres 1989 bestehende internationale Isolierung der DDR sowie die dramatische Verengung des Handlungsspielraums der Ost-Berliner Führung, als nach der Maueröffnung immer deutlicher wurde, dass alles auf eine Wiedervereinigung hinauslaufen würde. Demgegenüber wird vieles aufgenommen, was verzichtbar gewesen wäre, etwa die ausführliche Darlegung der außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen der Oppositionsgruppen sowie der DDR-Blockparteien.

Nach eher knappen Ausführungen zur Außenpolitik der Regierung von Ministerpräsident Hans Modrow, der zunächst an der Eigenständigkeit einer reformierten DDR festhielt, Ende Januar 1990 aber mit seinem Plan "Für Deutschland, einig Vaterland" auf den Vereinigungszug aufzuspringen suchte, konzentriert sich Lehmann auf das Wirken Markus Meckels, der in der von Lothar de Maizière geführten Regierung die Verantwortung für das MfAA erhielt. Der außenpolitisch völlig unerfahrene Meckel versammelte einen Beraterkreis um sich, der vor allem aus Mitstreitern aus der DDR-Opposition und westdeutschen Friedensforschern bestand. In völliger Verkennung der Situation glaubte er, die DDR könne den Einigungsprozess aktiv mitgestalten, eine Mittlerrolle zwischen Ost und West spielen und wesentlich zum Aufbau einer neuen, um die KSZE gruppierten Sicherheitsordnung in Europa beitragen. Ideelle und personelle Unterstützung, die ihm Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher anbot, wollte er dabei nicht annehmen.

Breiten Raum widmet Lehmann den unterschiedlichen Initiativen Meckels, der den "deutsch-deutsche[n] Vereinigungsprozess für eine Neugestaltung der Weltordnung" nutzen wollte (357). So legte dieser besonderen Wert auf ein gutes Verhältnis zu Polen, wohin ihn auch seine erste Auslandsreise führte. Im Unterschied zu Bundeskanzler Kohl war er bereit, einen Grenzvertrag noch vor der Wiedervereinigung zu paraphieren, um ihn danach zu unterzeichnen. Da die DDR-Regierung - worauf Lehmann nicht hinweist - sich in diese Debatte erst einmischen konnte, als die Wogen über diesem im Februar und März international kontrovers diskutierten Thema weitgehend geglättet waren, vermochte sie hier nicht viel ausrichten. Außerdem wurden die diesbezüglichen Beratungen zwischen west- und ostdeutschen sowie polnischen Experten im Mai eingestellt, als Kohl von unabgesprochenen DDR-Initiativen gegenüber Polen erfuhr.

Überdies bemühte sich Meckel vergeblich, die KSZE als zentrales Element der künftigen Sicherheitsarchitektur zu etablieren. Auch mit seinen Bestrebungen, angesichts der Kontroverse um die Bündniszugehörigkeit des vereinigten Deutschland eine Verflechtung der Bündnisse herbeizuführen, scheiterte er. Bei dem nach Berlin einberufenen Zwei-Plus-Vier-Treffen am 22. Juni begab er sich mit seiner Auffassung, nichts zu übereilen und "erst dann vom 2+4-Tisch aufzustehen, wenn wirklich solides Einvernehmen für ganz Europa erreicht ist" (760), ins Abseits: Er hatte nicht begriffen, dass es auf eine zügige Lösung der Bündnisfrage und eine möglichst weitgehende Einpassung Deutschlands in bereits bestehende Sicherheitsstrukturen ankam. Der Band wirft auch Licht auf den Einfluss, den Egon Bahr (als Berater des DDR-Abrüstungs- und Verteidigungsministers) auf die DDR-Außenpolitik nach dem Kaukasus-Gipfel nehmen konnte: Denn es war maßgeblich Bahr zuzuschreiben, dass Meckel sich damals besonders hartnäckig für den Erhalt der NVA einsetzte. Die Regierungskoalition zerbrach zwar nicht aufgrund der außenpolitischen Divergenzen zwischen de Maizière und Meckel, sondern am Vorpreschen des Ministerpräsidenten in der Wahlfrage im August. Dennoch war es nur konsequent, dass in den letzten Wochen der DDR de Maizière für deren Außenpolitik verantwortlich zeichnete: Denn er trug den westdeutschen Kurs mit, gegenüber dem Meckel stets misstrauisch blieb.

Einerseits enthält die Darstellung Lehmanns zahlreiche neue Details - unter anderem macht sie darauf aufmerksam, dass Meckel und seiner Mannschaft die Tragweite der Äußerung Gorbatschows gegenüber Bush bei deren Treffen in Washington am 31. Mai 1990, derzufolge die Deutschen über ihre Bündnismitgliedschaft frei entscheiden könnten, entgangen war. Andererseits hätte eine Straffung und ein stärker analytischer Zugriff diesem Teil des Buches gut getan.

Die abgedruckten Dokumente sind sicher wertvoll für die Rekonstruktion der DDR-Außenpolitik in den Jahren 1989/90. Allerdings ist nicht ganz klar, nach welchen Kriterien diese ausgewählt wurden. So wird etwa die wichtige Deklaration aller Fraktionen der DDR-Volkskammer vom 12. April 1990 abgedruckt, in der sich diese unter anderem zur Schuld am Holocaust bekannten, an den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion erinnerten und die Mitschuld der DDR an der Niederschlagung des Prager Frühlings erwähnten; dass sich die Volkskammer am 7. Juni 1990 von der Stellungnahme ihrer Vorgängerin zur Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung distanzierte, ist hingegen nicht dokumentiert. Außerdem hat Lehmann bedauerlicherweise auf eine gründliche Kommentierung der Quellen verzichtet.

So bleibt insgesamt ein zwiespältiger Eindruck. Es handelt sich zweifellos um einen Band, der zahlreiche wichtige Dokumente zur DDR-Außenpolitik im Jahr der Wiedervereinigung präsentiert; diese hätten jedoch sorgfältiger ausgewählt und besser erschlossen werden können. Überdies hätte dem Buch ein gründliches Lektorat gut getan.

Hermann Wentker