Rezension über:

Rachel Koopmans: Wonderful to Relate. Miracle Stories and Miracle Collecting in High Medieval England (= The Middle Ages Series), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2011, IX + 337 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-0-8122-4279-9, GBP 42,50
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Rezension von:
Uta Kleine
Historisches Institut, FernUniversität Hagen
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Uta Kleine: Rezension von: Rachel Koopmans: Wonderful to Relate. Miracle Stories and Miracle Collecting in High Medieval England, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 4 [15.04.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/04/20911.html


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Rachel Koopmans: Wonderful to Relate

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Wonderful to relate handelt von der Lust am Erzählen von Wundergeschichten, einer Passion, die sich vor allem im langen 12. Jahrhundert manifestierte, als Mirakel zu einer literarischen Modeerscheinung wurden. Koopmans interessiert sich ebenso für die mündlich zirkulierenden Wundererzählungen wie auch für diejenigen, die diesen bunten und unerschöpflichen Schwarm von Geschichten im Medium der Schrift bannten. Die Arbeit dieser monastischen Schreiber vergleicht sie mit der Leidenschaft viktorianischer Schmetterlingssammler, die ihre flüchtigen Objekte einfingen und konservierten, indem sie sie mit der Feder aufspießten und in geordneten Serien von Dutzenden, ja Hunderten Exemplaren auf dem Pergament ausbreiteten.

Koopmans untersucht die hochmittelalterliche "miracle-collecting mania" (2) am Beispiel des englischen Materials, das seit R. Finucanes Arbeit von 1977 [1] von der Forschung nicht mehr übergreifend behandelt wurde. Rund 75 Mirakelsammlungen sind aus der Zeit zwischen 970 und 1220 erhalten - laut Koopmans ein Beleg dafür, dass das Sammeln und Aufzeichnen von Wundern eine bedeutsamere und verbreitetere literarische Aktivität war als das Verfassen von Chroniken (2). Weshalb sie es sich zum Ziel gesetzt hat, ihr Material in vorwiegend literaturhistorischer Perspektive zu untersuchen und neben der Schriftdimension zugleich auch die Parameter jener Welt des mündlichen Erzählens zu bestimmen, in der die schriftlich erfassten Geschichten zunächst beheimatet waren. Denn, so die Hauptthese der Autorin, die mündlich tradierten Erzählungen waren der "animating discourse" jeder Kultpropaganda, und nicht, wie immer wieder behauptet, die - sekundären - schriftlichen Aufzeichnungen (Kap. 1). In diesem Punkte ist ihr durchaus zuzustimmen. Doch um Heiligenkulte und deren Propaganda geht es in Koopmans Studie nur am Rande. Für die religiöse Dimension und den institutionellen Rahmen des Wundergeschehens interessiert sie sich so gut wie gar nicht. Statt dessen fasst sie das Mirakel mit Hilfe des aus der Volkskunde geborgten Konzepts der "personal story": ein universales, existentielles Metanarrativ, das durch die Konventionen mündlichen Erzählens wie formelhafte Sprache, stereotypes Erzählmuster und die Erlebniswelt der Laien, nicht aber durch die Gesetze der Schriftlichkeit und die intellektuellen Horizonte der Mönchsautoren geformt wurde (Kap. 2). Ganz dezidiert verschließt sich die Autorin hier der Möglichkeit formender und deutender Eingriffe im Prozess der Verschriftlichung und damit auch den vielfältigen (theologischen, juristischen, liturgischen, moralisch-didaktischen) Dimensionen des hochmittelalterlichen Mirakeldiskurses. Wer die inzwischen zahlreich vorliegenden und sehr differenziert argumentierenden Studien zu den mittelalterlichen Verschriftlichungsprozessen samt ihren medialen Brüchen und Verwerfungen kennt (die entsprechende Literatur, besonders die deutschsprachige, nimmt Koopmans leider nur rudimentär zur Kenntnis) [2], reibt sich ob dieses Rückfalls in längst überwunden geglaubte Positionen verwundert die Augen.

Dass (lateinische) Mirakelsammlungen keine getreuen Wortprotokolle (vernakulärer) Mündlichkeit und ihre Verfasser keine zuverlässigen Oral Historians waren und sein wollten, sondern rhetorisch geschulte, theologisch, juristisch und/oder politisch denkende und zielgerichtet formulierende Schriftsteller, weiß übrigens auch R. Koopmans, wie der zweite Teil ihres Buches (Kap. 3ff.) zeigt. Hier stellt sie ohne weitere Umstände eine Auswahl von Mirakelsammlungen und -sammlern vor und untersucht sehr genau deren Arbeitsweise und Darstellungsziele. Woraus zu folgern ist, dass das konservierte Objekt eben kein Schmetterling mehr ist, auch kein toter. Und dass in Koopmans Buch an diesem entscheidenden Punkt eine empfindliche argumentative Leerstelle verbleibt.

Auch gegenüber weiteren gängigen Ansätzen und Methoden der Mirakelforschung zeigt sie sich skeptisch: Dies betrifft sowohl die seriell-quantitativen Zugänge wie auch die Verortung von Mirakeln in ihrem kultischen, sozialen und politischen Umfeld. Dergleichen versteht sie als ungebührliche Relativierungen jener unmittelbaren Individualerfahrung ("raw human experience"), die sie in den schriftlichen Berichten widergespiegelt sehen will (44). In ihrer strikt personalen Perspektive sind Mirakel singuläre Ereignisse, die auf keinen allgemeinen (politischen, kultischen, medialen) Horizont verweisen. Sie bleiben historisch blind. Wohl aus diesem Grunde kann auch R. Koopmans ihre defensive Position nicht konsequent durchhalten: Zur Untermauerung ihrer eigenen Argumente (der Umfang oraler Quellen, die soziale Verteilung der Wunderprotagonisten, die Typologie der Mirakel-Plotlines) muss sie immer wieder auf die Ergebnisse serieller Studien wie derjenigen P.-A. Sigals [3] zurückgreifen.

Der zweite, umfangreichere Teil des Buches ist der Analyse von sechs ausgewählten Sammlungen gewidmet: Lantfred von Fleurys Dossier über die Translation und Wunder des hl. Swithun in Winchester (970, Kap. 3); die Wunder-Corpora der hll. Wulfsige (Sherborne), Edith (Wilton) und Kenelm (Winchcombe) des Goscelin von Saint-Bertin (nach 1080, Kap. 4); die Wunder des hl. Dunstan in der Version Osberns von Canterbury (1090, Kap. 5) und in einer nur wenig späteren Bearbeitung seines Zeitgenossen Eadmer von Canterbury (Kap. 6); sowie den beiden gigantischen Dossiers der Becket-Wunder (Kap. 8), die Benedict von Peterborough (Kap. 9) und William von Canterbury (Kap. 10) beinahe gleichzeitig (1171-1173) verfassten. Auch in diesem Teil behält Koopmans ihre literarisch-subjektivistische Perspektive bei, geht es ihr doch darum zu zeigen, mit welchen Mitteln (Arbeitstechnik, Rhetorik, Anordnung und inhaltliche Schwerpunkte) die jeweiligen Sammler und Schreiber die zahlreichen mündlich tradierten Fremderzählungen zu ihrem ganz persönlichen Schrift-Werk machten. Als causa scribendi werden jeweils individuelle Vorlieben und Ziele, keine äußeren (kultischen oder politischen) Motive ausgemacht.

Insgesamt lässt sich die englische Mirakelproduktion in zwei Phasen einteilen: Zwischen 1080 und 1140 dominieren kleinere bis mittelgroße Wundersammlungen von gehobenem rhetorischem Anspruch, deren Geschichten im Wesentlichen aus der oralen (z.T. auch schriftlichen) Tradition der jeweiligen Klöster geschöpft sind. Sie dokumentieren nicht unbedingt aktuelle Kulte, sondern sind Ausdruck eines Interesses monastischer Gemeinschaften an der Verschriftlichung der eigenen Vergangenheit. Bemerkenswert ist, dass die angelsächsische Zeit keine nennenswerte Mirakelliteratur hervorgebracht hat. Als eigentlicher Initiator der Gattung (dann in lateinischer Sprache) gilt ein Fremder, der Flame Goscelin von Saint-Bertin. Die noch aus vornormannischer Zeit stammenden Swithun-Mirakel Lantberts von Fleury (auch er bezeichnenderweise kein Einheimischer) deutet Koopmans als ein persönliches 'Autorenprojekt', nicht als propagandistische Kultliteratur (was übrigens auch für die Sammlungen Goscelins gilt), die für sein heimisches Publikum geschrieben waren und auf der Insel keine Nachahmer fanden. In der zweiten Phase (1140-1200) entsteht ein neuer Typus von Sammlungen, der sich durch Aktualität, wachsenden Umfang, Verzicht auf rhetorische Durchbildung und eine gleichsam buchhalterische Präzision auszeichnet. Die Verfasser schöpfen zunehmend auch aus der Erzähltradition der Laien, die ihre Geschichten anlässlich von Wallfahrtsbesuchen vortrugen (Kap. 7). Ein prominentes und von der Autorin ausführlich behandeltes Beispiel sind die beiden Sammlungen des hl. Thomas Becket mit ihren insgesamt mehr als 700 Wundern, die Benedict von Peterborough und William von Canterbury beinahe gleichzeitig und mit ähnlichen Arbeitsmethoden, doch mit jeweils ganz verschiedenen Schwerpunkten und Darstellungszielen, zusammenstellten. Die drei Kapitel zum Becket-Dossier (Kap. 8-10) mit ihren höchst nützlichen Appendizes stellen von Umfang und Originalität her im Grunde eine eigene, abgeschlossene Untersuchung und einen substantiellen neuen Beitrag zur Becketforschung dar. Das Ende der zweiten Phase - und gleichzeitig das Ende der englischen Mirakelliteratur überhaupt - verortet Koopmans an der Wende zum 13. Jahrhundert. Mit der neuen Form des Wunderprotokolls, das der römische Kanonisationsprozess hervorbrachte, endete die Ära des lustvollen Erzählens. Was die päpstlichen Kommissare interessierte, waren keine Geschichten, sondern juristische Beweise. Doch auch die, so ließe sich einwenden, konnten sie nur mit Hilfe groß angelegter Befragungskampagnen unter den Laien gewinnen - ohne deren Bereitschaft zum Erzählen ihrer persönlichen Wundergeschichten wäre jeder Kanonisationsprozess ins Leere gelaufen.

Koopmans Buch vertritt eine sehr persönliche, elegant formulierte und liebevoll vorgetragene Sichtweise, an der sich reiben mag und muss, wem an methodisch-konzeptioneller Reflexion, an historischer wie auch wissenschaftlicher Kontextualisierung und an argumentativer Stringenz gelegen ist. Doch trotz der diesbezüglichen Schwächen ist ihr Buch, das neben zahlreichen nützlichen Karten auch einen sorgfältig gearbeiteten Index (leider aber keinen systematischen Gesamtüberblick aller von der Autorin gesichteten Mirakelsammlungen) enthält, wegen seines Materialreichtums und seines breiten Horizonts ein unverzichtbares Arbeitsinstrument künftiger Mirakelforschung.


Anmerkungen:

[1] Ronald Finucane: Miracles and Pilgrims. Popular Beliefs in Medieval England, London 1977.

[2] Stellvertretend für diese Richtung: Uta Kleine: Gesta - Fama - Scripta. Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis (Beiträge zur Hagiographie, 7), Stuttgart 2007 (mit ausführlicher Diskussion des Forschungsstandes).

[3] Pierre-André Sigal: L'homme et le miracle dans la France médiévale (XIe-XIIe siècle), Paris 1984.

Uta Kleine