Rezension über:

Wolfgang Mühl-Benninghaus: Unterhaltung als Eigensinn. Eine ostdeutsche Mediengeschichte, Frankfurt/M.: Campus 2012, 370 S., ISBN 978-3-593-39728-3, EUR 45,00
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Rezension von:
Christoph Classen
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Classen: Rezension von: Wolfgang Mühl-Benninghaus: Unterhaltung als Eigensinn. Eine ostdeutsche Mediengeschichte, Frankfurt/M.: Campus 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 6 [15.06.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/06/22813.html


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Wolfgang Mühl-Benninghaus: Unterhaltung als Eigensinn

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Unterhaltung hatte in Deutschland selten einen guten Ruf. Spätestens mit dem Durchbruch der bürgerlichen Kultur setzte sich durch, was der Volkskundler Hermann Bausinger einmal als "Rufmord an der Unterhaltung" bezeichnet hat: eine dichotome Hierarchie von Kunst und Populärem. [1] Dem Siegeszug von Unterhaltungsliteratur und -theater seit der Aufklärung tat das allerdings keinen Abbruch. Vielmehr verstärkte sich dieser Trend mit der Entstehung moderner Massenmedien Ende des 19. Jahrhunderts und der Erweiterung des Medienensembles zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiter.

Diesen Gegensatz zwischen immenser Verbreitung und Abwertung durch die Eliten macht der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Medienwissenschaftler Wolfgang Mühl-Benninghaus zum Ausgangspunkt seines Buches: Bis in die jüngere Forschungsliteratur setze sich diese Tendenz zu Ignoranz und Abwertung von Unterhaltung fort, mit dem Ergebnis, dass in diesem Bereich ein veritable Forschungslücke entstanden sei. Um zu deren Schließung beizutragen nimmt er sich das Beispiel der "abgeschlossenen DDR-Geschichte" vor, um so "erstmals [...] einen Teil deutscher Unterhaltungsgeschichte zu beschreiben" (12).

Dass das kein leichtes Unterfangen ist, zeigt sich bei der Eingrenzung des Gegenstandes. Denn Unterhaltung, so Mühl-Bennighaus völlig zu Recht, lasse sich nicht klar definieren und gegenüber "Kunst, Bildung, Kultur, Freizeit usw." abgrenzen (12). Den Ausweg sieht er darin, dass Unterhaltung in der Studie "konsequent historisch gefasst" und "vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Wandels beschrieben" werde (12). Gemeint ist damit offenbar ein Ansatz, der primär das in den Blick nimmt, was zeitgenössisch als "Unterhaltung" verstanden wurde. Doch die Frage nach den Abgrenzungs- und Einschlusskriterien der Studie ist damit noch nicht hinreichend beantwortet. Zwar wird in der Einleitung darauf verwiesen, dass "zentrale Sujets der Massenunterhaltung" wie Literatur und Sport ausgeblendet werden, aber eine Begründung dafür unterbleibt ebenso wie für die Konzentration auf die DDR. Als Hintergrund kann man die Entstehung des Buches im Kontext einer DFG-Forschergruppe zur Programmgeschichte des DDR-Fernsehens annehmen. De facto handelt es sich überwiegend um eine diskurs- und institutionengeschichtliche Auseinandersetzung mit jenen populärkulturellen Inhalten, die in den Massenmedien Fernsehen, Film und Radio der DDR mit diesem Label versehen worden sind.

Anders als der größte Teil der Forschungen zur DDR-Geschichte setzt die Untersuchung nicht erst 1945 mit der Schaffung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ein, sondern behandelt zunächst recht ausführlich den Diskurs zu Unterhaltung in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem proletarischen Milieu bzw. der Arbeiterbewegung, deren Konzepte und Werturteile allerdings, wie klar herausgearbeitet wird, unmittelbar von den bürgerlich-idealistischen Vorstellungen abgeleitet waren. Wie wichtig dieser zeitliche Rückgriff ist, zeigt sich daran, dass sich bestimmte Grundmuster dieses Diskurses, etwa die verbreitete Vorstellung eines Gegensatzes von Bildung und Unterhaltung oder die Annahme weitreichender negativer Wirkungen von Unterhaltungskonsum auf das Individuum und die Gesellschaft im 20. Jahrhundert systemübergreifend als außerordentlich persistent erwiesen.

Weniger nachvollziehbar ist, dass der Nationalsozialismus ausgeblendet bleibt und die Darstellung erst 1945 in der SBZ wieder ansetzt. Jedenfalls wurzelten die Konzepte des Neuanfangs unter sowjetischer Ägide tief in den Traditionen aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik. Das zeigte sich beispielsweise im Hinblick auf das patriarchalisch-instrumentelle Verständnis von Kultur oder die bereits vor 1933 etablierte Ablehnung vermeintlich "amerikanischer" Massenkultur. Letztere wurde nun, mit dem Beginn des Kalten Krieges, zur Abgrenzung gegen den Westen instrumentalisiert. Nach dem "Lernschock" des 17. Juni begann sich das Verhältnis der Verantwortlichen zur Unterhaltung immerhin partiell zu verändern. Es kam zu gewissen Zugeständnissen an die Bevölkerung, allerdings ohne dass sich die zugrunde liegenden normativen Vorstellungen und Leitbilder grundsätzlich geändert hätten. Die Folge war ein Wechsel zwischen liberaleren und repressiven Phasen, die unter anderem anhand der Auseinandersetzungen um die Tanzmusik in den 1950er und 1960er Jahren nachvollzogen werden.

Eine tiefere Zäsur setzt Mühl-Benninghaus erst Anfang der 1970er Jahre mit dem Amtsantritt Erich Honeckers und der Proklamation der sogenannten "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik". Damit sei unter anderem eine gewisse Liberalisierung im Bereich der Unterhaltungskultur verbunden gewesen. Allerdings trugen auch diese Veränderungen (unter anderem der Zukauf von westlichen Spielfilmen im Fernsehen und eine partielle Anerkennung distinkter Jugendkulturen) eher den Charakter von Konzessionen, die darauf zielten, das Regime zu stabilisieren. Das kurze Schlusskapitel bietet weniger eine Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse, vielmehr stellt es eine Art Epilog dar, der die rasche Transformation der Mediennutzung auf Basis der nun etablierten quantitativ-empirischen Rezeptionsforschung beschreibt. Dabei zeigen sich zunächst noch gravierende Unterschiede zwischen Ost und West, die sich jedoch bei der nachwachsenden Generation verlieren.

Mühl-Benninghaus sieht am Ende seine Ausgangsthese bestätigt, dass die Auseinandersetzung mit Unterhaltung "inhaltlich und intellektuell vor allem durch die Milieus der organisierten Arbeiterklasse geprägt" gewesen sei (340). Dagegen ist einzuwenden, dass auch in der DDR gerade im kulturellen Sektor bürgerliche Prägungen und Vorstellungen noch lange nachwirkten. Schwerer noch wiegt, dass sich die entsprechenden Konzepte und (negativen) Beurteilungen zweckfreier Unterhaltung in vielerlei Hinsicht kaum von denen des Bürgertums unterschieden, wie das Buch eingangs selbst plastisch zeigt. Es bleibt deshalb erklärungsbedürftig, wieso sich die proletarische DDR mit den Unterhaltungsbedürfnissen der Bevölkerung auf lange Sicht weitaus schwerer tat als die bürgerlich geprägte Bundesrepublik. An dieser Stelle zeigen sich die Grenzen des allein auf die DDR bezogenen milieu- und generationstheoretisch untersetzen Ansatzes der Studie.

Gerade bei solchen generalisierenden Thesen ist es darüber hinaus von Nachteil, dass die Rezeption der Forschung eng in den disziplinären Grenzen verbleibt. Bezüge etwa zur jüngeren geschichtswissenschaftlichen DDR-Forschung, die nicht nur zu dieser Frage einige Anregungen hätte geben können, unterbleiben vollständig. [2] Fairerweise muss man sagen, dass dieser Mangel an Interdisziplinarität noch immer eher die Regel als die Ausnahme ist. Unverständlich muss allerdings bleiben, dass selbst Forschungen zur DDR-Mediengeschichte, die im Zentrum des Untersuchungsgegenstandes angesiedelt sind, anscheinend nicht rezipiert worden sind. [3] Vielleicht ist dieser Eindruck allerdings auch nur dem insgesamt laxen Umgang mit Belegen und Formalia geschuldet: Die Dichte der Anmerkungen im Text gemahnt eher an einen Essay als an eine Studie, Seitenzahlen von Zeitschriftenaufsätzen fehlen im Literaturverzeichnis gleich ganz, und die Gliederung des Anhangs in "Archivquellen", "Literatur" und "Zeitschriften" erinnert an die Klassifikation der fiktiven "chinesischen Enzyklopädie" von Jorge Luis Borges. [4] Bedauerlicherweise fehlen auch ein Personen- bzw. Sachregister.

Das ändert allerdings nichts daran, dass Wolfgang Mühl-Benninghaus eine gut lesbare, kenntnisreiche und fast immer nachvollziehbar argumentierende tour d'horizon der Konzepte und Vorstellungen von Unterhaltung in den audiovisuellen Medien der DDR gelungen ist. Kenner der DDR-Mediengeschichte werden die Ergebnisse in ihren Grundzügen zwar nicht überraschen, aber im Detail hält das Buch auch für Insider viele Entdeckungen bereit.


Anmerkungen:

[1] Hermann Bausinger: Ist der Ruf erst ruiniert ... Zur Karriere der Unterhaltung, in: Medienlust und Mediennutz. Unterhaltung als öffentliche Kommunikation, hgg. von Louis Bosshart / Wolfgang Hoffmann-Riem, München 1994, 15-27, hier 18.

[2] Beispielsweise findet sich, anders als der Titel suggeriert, im Buch keinerlei Bezug auf das "Eigensinn-Konzept", das Alf Lüdtke und Thomas Lindenberger für die Gesellschaftsgeschichte der DDR fruchtbar gemacht haben.

[3] Pars pro toto: Edward Larkey: Rotes Rockradio. Populäre Musik und die Kommerzialisierung des DDR-Rundfunks, Münster 2007; Michael Meyen: Hauptsache Unterhaltung. Mediennutzung und Medienbewertung in Deutschland in den 50er Jahren, Münster 2001.

[4] Jorge Luis Borges: Die analytische Sprache John Wilkins', in: Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, hg. von dems., München 1966, 209-214, hier 212.

Christoph Classen