Rezension über:

Anna de Berg: "Nach Galizien". Entwicklung der Reiseliteratur am Beispiel der deutschsprachigen Reiseberichte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert (= Giessener Arbeiten zur Neueren Deutschen Literatur und Literaturwissenschaft; 30), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2010, 203 S., ISBN 978-3-631-60445-8, EUR 47,95
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Rudolf Jaworski / Peter Oliver Löw / Christian Pletzing (Hgg.): Der genormte Blick aufs Fremde. Reiseführer in und über Ostmitteleuropa (= Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt; 28), Wiesbaden: Harrassowitz 2011, 290 S., ISBN 978-3-447-06271-8, EUR 24,00
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Rezension von:
Christoph Mick
Department of History, University of Warwick, Coventry
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Mick: Neue Reise(führer)-Literatur (Rezension), in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 6 [15.06.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/06/23551.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Neue Reise(führer)-Literatur

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Reisen kann bilden, aber jede/r Reisende hat bereits eine Vorbildung, wenn er/sie die Reise antritt. Wer sich auf eine Bildungs- oder Erholungsreise begibt, bereitet sich meist auf zweierlei Art vor: Der/die Reisende kann sich einen Reiseführer kaufen oder er/sie kann Bücher oder Artikel von Menschen lesen, die bereits vorher diese Reise unternommen und nach ihrer Rückkehr darüber berichtet haben. Während Reiseberichte bereits seit vielen Jahrzehnten als nützliche historische oder literaturwissenschaftliche Quelle erkannt und vor allem in der "Bilderforschung" (das Bild von ... in ...) untersucht werden, ist das Studium von Reiseführern noch in seinem Anfängen.

Anna de Berg analysiert ausgewählte deutschsprachige Reiseberichte aus etwas mehr als drei Jahrhunderten. Es handelt sich um Reisen nach Galizien und in die Bukowina, Gebiete, die heute den südwestlichen Teil der Ukraine ausmachen. Berg ist Literaturwissenschaftlerin und beginnt mit einer kurzen Übersicht über die Entwicklung des Reiseberichts als literarische Gattung.

Im zweiten Teil analysiert sie in fünf Unterkapiteln einige der berühmtesten Beschreibungen von Galizien vor 1945. Für das 18. Jahrhundert dienen Franz Kratters kritische Auseinandersetzung von 1786 vor allem mit Lemberg und Alphons Heinrich Traunpars Replik sowie Balthasar Hacquets mehr landeskundliche Beschreibung als Beispiele. Kratter und Traunpar waren keine klassischen Reisenden: Beide kamen zwar von außerhalb, arbeiteten aber kürzer (Kratter) oder länger (Traunpar) in Lemberg. Kratter übt vehemente Kritik an den Zuständen im Königreich Galizien und Lodomerien, lässt kein gutes Haar am polnischen Adel und an der Geistlichkeit, macht sich über die Lemberger Universitätsprofessoren lustig und setzt sich mit aufklärerischem Impetus mit dem Elend der jüdischen Bevölkerung auseinander. Kratter hält die Juden zwar für einen Fremdkörper und gibt ihnen und dem Adel die Hauptschuld an der ökonomischen und kulturellen "Rückständigkeit" des Landes. Doch glaubt Kratter, dass die Ansiedlung der Juden als Bauern sie in kurzer Zeit in produktive Mitglieder einer wohlgeordneten Gesellschaft verwandeln würde. Kratters literarische Fähigkeiten und witzige Anekdoten machten sein Buch zu einem Publikumserfolg, während Traunpars Verteidigung des polnischen Adels - auch wegen seiner geringeren Eloquenz - nur wenig Resonanz fand.

Kratter hat mit seinem Werk die Wahrnehmung Galiziens im 19. und 20. Jahrhundert vorgeprägt. Rückständigkeit und galizisches Elend, die Verderbtheit und der Nichtsnutz des polnischen Adels sowie die jüdische Bevölkerung als Fremdkörper und Modernisierungsbremse tauchen als Topoi immer wieder in Berichten zu Galizien auf. So setzt Karl Emil Franzos, der Missionar deutscher Kultur in Osteuropa, die negative Darstellung des polnischen Adels ebenso fort wie die Auseinandersetzung mit galizischer Rückständigkeit und der Notwendigkeit, die Lebensverhältnisse der jüdischen Bevölkerung zu ändern. Für ihn ist die Annahme deutschen Geistes das Allheilmittel für Galizien und seine Heimat, die Bukowina. Zum Schluss dieses Abschnitts geht Berg auf die Reisen zweier berühmter Schriftsteller - Alfred Döblin und Joseph Roth - ein, die Lemberg im Jahre 1924 besuchten.

Im nächsten Hauptteil untersucht Berg Reisen nach Galizien seit den 1980er Jahren, über die in Aufsätzen oder Büchern berichtet wurden. Eine Sonderstellung nimmt Martin Pollacks "Nach Galizien" aus dem Jahre 1984 ein. Pollack hat diese Reise bekanntermaßen nie unternommen. Die fiktive Reise findet irgendwann vor dem Ersten Weltkrieg statt und Pollack hat dazu Material aus zeitgenössischen Reiseführern, Bahnfahrplänen, Zeitungen, Reiseliteratur und schöner Literatur verwendet und auf höchst originelle und literarisch anspruchsvolle Weise verarbeitet. Pollack hat damit den Galizienboom gestartet, der bis heute anhält. Bei allen Darstellungen geht es auch um den Anspruch der Authentizität, den jede/r Autor/in erhebt. Die Diskussion dieses Authentizitätsanspruchs ist ein weiteres Leitmotiv der Studie. Berg vergleicht die Berichte über einzelne besuchte Orte und diskutiert beispielsweise Verena Dohrns Lemberg mit dem von Karl Schlögel oder Roswitha Schieb. Sie setzt sich kritisch mit den literarischen Stilen der einzelnen Autor/inn/en, ihren sachlichen Fehlern, ihrer Verwendung von Klischees und Stereotypen auseinander. Berg zeigt, wie sehr das Wissen um den Holocaust die Wahrnehmung der Reisenden geprägt hat. Viele Autoren sind fast ausschließlich an den jüdischen Spuren interessiert und interessieren sich nur wenig für die polnische und gar ukrainische Geschichte. Allenfalls die sowjetische oder ukrainische Gegenwart wird als - in der Regel - negative Folie zum konstruierten galizischen Arkadien vor 1939 oder gar vor 1914 dargestellt. Dieser Teil der Arbeit ist interessant zu lesen, wirkt aber etwas redundant und erweckt bisweilen den Eindruck eines Kompendiums von Einzelrezensionen. Im ersten Teil ihrer Arbeit, der den Zeitraum vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert umfasst, stützt sich die Verfassung weitgehend auf bereits vorliegende Auseinandersetzungen mit der Galizienliteratur. Dagegen wurde die jüngste Reiseliteratur zu Galizien bislang noch nicht so ausführlich analysiert. Hier werden auch Spezialisten einiges Neues erfahren können.

Das zweite vorzustellende Buch ist auf den ersten Blick einer der vielen überflüssigen Konferenzbände, die jedes Jahr in Deutschland erscheinen. Doch dieser Eindruck trügt. Die von den Historikern Rudolf Jaworski, Peter Oliver Loew und Christian Pletzing herausgegebene Band lohnt die Lektüre. Der Band enthält siebzehn, zum Teil glänzend geschriebene (oder von Loew aus dem Polnischen übersetzte) Beiträge und einen Kommentar. Das Werk setzt sich mit Reiseführern zu Ostmitteleuropa als historischer Quelle auseinander. Die Aufsätze sind nicht - wie sonst üblich - im Umfang vervielfachte Fassungen der Vorträge, sondern relativ kurze und pointierte Essays, die nur mit den unbedingt notwendigen Fußnoten versehen sind. Einigen Beiträgen merkt man - nicht zu ihrem Nachteil - den Vortragscharakter an. Der Band vereint Historiker/innen, die Reiseführer analysieren, Reisebuchautor/inn/en und Lektoren, die sich kritisch mit eigenen oder fremden Werken auseinandersetzen und einen Einblick in die Praxis des Reisebuchmarktes geben.

Nach einer kurzen Einführung der Herausgeber setzt sich Loew auf witzige Art und Weise mit unseren Vorstellungen von (Ost-)Mitteleuropa auseinander. Es folgen drei Aufsätze, die sich mit Reisen im späten 18. Jahrhundert nach Italien und Polen (Bernhard Struck), der Entstehung von Reiseführern im 19. Jahrhundert (Susanne Müller) und der Bedeutung von Reiseführern bei der Konstituierung des Eigenen und Fremden (Nicolai Scherle) auseinandersetzen. Die folgenden fünf Beiträge untersuchen historische Reiseführer zu Ostmitteleuropa. Maciej Janowski zeigt am Beispiel von Baedeker-Reiseführern, wie sich seit den 1880er Jahren das, was als sehenswert galt, änderte und wie Räume wahrgenommen wurden. Martina Thomsen hat sich die Grieben-Reiseführer zu Prag, Budapest und Wien zwischen 1938 und 1945 vorgenommen und demonstriert, wie stark das politische Interesse des nationalsozialistischen Deutschland in diese Führer Eingang gefunden hat. Hubert Orłowski diskutiert den Umgang mit dem Polnischen in Reiseführern zu Posen zwischen den 1880er Jahren und dem Zweiten Weltkrieg, während Marta Kowerko polnische und litauische Wilna-Führer nach 1990 analysiert. Den Abschluss der historischen Beiträge bildet Iris Engelmanns Analyse zum Umgang deutscher und polnischer Führer (erschienen zwischen 1919 und 2005) mit der Geschichte und den Sehenswürdigkeiten Danzigs.

Die folgenden fünf Beiträge beschäftigen sich mit Reiseführern in der Gegenwart. Diese Aufsätze stammen meist von Autor/inn/en, die selbst Reiseführer verfasst haben. Andreas Fülberth analysiert die - Erwartungshaltungen der Leserschaft bedienenden - negativen Bewertungen sowjetzeitlicher Bauten in Baltikum-Reiseführern, während Jerzy Kałążny deutsche und sowjetisch-russische Tourismusliteratur zu Königsberg (Kaliningrad) vergleicht. Anna Kochanowska-Nieborak und Tomasz Torbus zeigen, wie sehr negative Polen-Stereotype auch in neuen Reiseführern verbreitet sind, und Torbus macht darüber hinaus deutlich, welche Rolle Abbildungen in solchen Führern spielen. Małgorzata Omilanowska geht schließlich auf den Trend ein, immer weniger Text und immer mehr visuelle Quellen in Reiseführern zu benutzen. Ein wenig aus dem Rahmen fällt der Essay von Przemysław Czapliński, der sich kritisch mit Mitteleuropakonzepten auseinander setzt. Die beiden letzten Beiträge beschäftigen sich mit den neuen Medien und beschreiben die Bereitstellung von Reiseinformationen im Zeitalter von Internet und GPS-Systemen. Piotr Kuroczyński stellt vor, wie seine Studentengruppe sich mit Hilfe von Geocaching Breslau erschlossen hat, während Markus Etz und Simon Templer die Rolle von Smartphones als Reisebegleiter vorstellen.

Abgerundet wird der Band durch einen Kommentar von Hinnerk Dreppenstedt, der den Reiseführermarkt aus der Sicht eines Lektors beschreibt. Er weist darauf hin, dass für die Käufer/innen von Reiseführern der Name des Autors/der Autorin in der Regel keine Rolle spiele, sondern der Verlag und die Reihe maßgebend für die Kaufentscheidung seien. Diese Feststellung verweist auch auf die einzige Schwäche des Bandes. Mit einer Ausnahme gehen die Beiträge nicht auf die Autor/inn/en von Reiseführern ein. Das macht zwar durchaus Sinn im Rahmen einer Diskursanalyse, aber bei einer historischen Quellenauswertung sollte doch - wenigstens ab und zu - die Frage nach dem "Wer?" gestellt werden. Dieses Manko stellt aber den Wert dieses Bandes nicht in Frage. Den Herausgebern ist es gelungen einen Sammelband zusammenzustellen, der vielseitig ist und zugleich einen roten Faden hat. Die Beiträge sind durchweg originell, und wer sich mit Stereotypen und Tourismus in Osteuropa beschäftigt, wird an diesem Band nicht vorbei kommen.

Christoph Mick