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Rezension von:
Martin Wernisch
Prag
Redaktionelle Betreuung:
Johannes Wischmeyer
Empfohlene Zitierweise:
Martin Wernisch: Reformation und Zeitalter der Konfessionen in Ost-/Südostmitteleuropa: Böhmen und Mähren (Rezension), in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 6 [15.06.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/06/23661.html


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Reformation und Zeitalter der Konfessionen in Ost-/Südostmitteleuropa: Böhmen und Mähren

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I. Die herkömmliche Periodisierung der Reformationsgeschichte ist seit jeher die auffälligste Schwierigkeit, die eine glatte Einordnung der tschechischen Historiographie in den internationalen Kontext verhindert. So bedeutend das Auftreten Martin Luthers für das Geschehen in Tschechien auch war - aus dortigem Blickpunkt ist es doch kein so klarer Ausgangspunkt wie anderorts. Dafür war das, was sich an heimischem Vorspiel zugetragen hatte, zu stark. Manche Phänomene, die in der Regel erst mit Luthers Auftreten zu beobachten sind, datieren dort seit dem 15. Jahrhundert - einschließlich institutioneller Veränderungen der Kirchenorganisation und einer Art konfessioneller Trennung auf Grund eines Reformationsprogramms. Dem Konsens tschechischer Forscher zufolge gehört das >Hussitentum< integral zum Reformationszeitalter Böhmens hinzu.

Diese einheitliche formale Entscheidung lässt allerdings eine Vielfalt von Auffassungen zu, auch wenn diese weitgehend implizit bleiben. Eine förmliche Theorie großen Stils bot zum letzten Mal Amedeo Molnár, der eine >Erste Reformation< (beginnend bereits bei den Waldensern, doch erst in Böhmen siegreich durchgesetzt) und eine >Zweite Reformation< (nach Luther) unterschied. Seinerzeit übte das Schema einen erheblichen Einfluss aus. Die Theorie hatte nämlich ihre starken Seiten: sie stellte die beiden Reformationen als strukturell abgerundete Typen dar und erfasste so zugleich gemeinsame Züge und Unterschiede, Anknüpfungen und Wegscheiden. Der vorlutherischen Reformation wurde ein selbständiger Wert zuerkannt, ohne die entscheidende Bedeutung der lutherischen zu bestreiten. Gleichzeitig hatte die Theorie freilich Schwächen, die zu ihrem Niedergang führten. Dazu gehört die Tatsache, dass die Terminologie Molnárs in der internationalen Szene bereits mit anderen Konnotationen besetzt war. Und nicht zuletzt hatte seine Theorie keine deutlichen Antworten hinsichtlich weiterer Grenzerscheinungen wie etwa der Spiritualisten oder der Antitrinitarier parat. Insofern drohte hier der Zerfall eines einheitlichen Reformationsbegriffs.

Die in jüngerer Zeit vorherrschende allgemeine Tendenz zu einer Pluralisierung der Reformationen muss zwar ihre Grenzen finden, um nicht zu dem Extrem zu führen, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht; doch ist sie bisher dem tschechischen Usus ziemlich entgegengekommen. Zumal insoweit dieser sich gegenwärtig auf eine weniger ambitionierte, pragmatische Unterscheidung zwischen >böhmischer< und >europäischer< Reformation beschränkt: die erstgenannte kann man im Grunde als einfache regionale Bezeichnung und einen (früh beginnenden) Bestandteil der anderen verstehen - oder mit unterschiedlich starkem Akzent ihre spezifischen Merkmale betonen.

Die Frage, wie man einen Sammelbegriff für die Reformation behalten und zugleich der Mannigfaltigkeit ihrer Phänomene gerecht werden kann, ist übrigens vor allem für die Theologenminorität von Bedeutung. Profanhistoriker können sie umso leichter umgehen, als die Organisation der tschechischen Geschichtswissenschaft den internationalen Gepflogenheiten entspricht, insofern sie die Disziplinen Mediävistik und Frühneuzeitgeschichte voneinander trennt. So ist die >Hussitologie< zwar als respektierter Teilbereich etabliert, aber ganz ausdrücklich mediävistisch orientiert. Auch international kommuniziert sie vorzugsweise mit Forschern, die sich auf spätmittelalterliche Reformströmungen konzentrieren.

Kein Zufall also, dass die Leitfigur der Hussitenforschung, František Šmahel, zur Zeit hauptsächlich in der Leitung des mediävistischen Zentrums der Tschechischen Akademie der Wissenschaften tätig ist. Er hat bereits vor 20 Jahren eine monumentale Synthese von bleibendem Rang vorgelegt, die inzwischen auch ins Deutsche übersetzt wurde. [1] Monographien zu Detailfragen erscheinen dagegen mit einer Regelmäßigkeit, die eine andauernde Produktivität und Leistungsfähigkeit Šmahels und seiner Schule sowie ihre Anschlussfähigkeit für neue Fragen beweist.

Es ist jedoch bemerkenswert, dass diese neuen Publikationen nur zum kleineren Teil mit der Person verbunden sind, die der böhmischen Protoreformation den Namen gegeben hat. Noch im 20. Jahrhundert hat Hus in der Literatur dominiert, doch gegenwärtig gilt das nicht mehr. Wobei der Eindruck, dass seine Person bereits durchweg erschlossen ist, trügerisch wäre. Es genügt, auf den Tatbestand hinzuweisen, dass bisher nicht einmal die kritische Werkausgabe vollendet ist. Die Arbeit wird zwar im Rahmen der Reihe Corpus Christianorum - Continuatio mediaevalis fortgesetzt, doch wird sie durch Geld- wie Nachwuchsmangel gebremst. Einen Löwenanteil an dieser Fortsetzung hat der Nestor der Hussitologie Jiří Kejř übernommen, der auch die markantesten aktuellen Beiträge zu Hus vorgelegt hat. Bei diesen muss allerdings die aus seiner Spezialisierung resultierende Sonderstellung des Autors vermerkt werden. Als Historiker des kanonischen Rechts zeigt er kein Verständnis dafür, wie die Reformatoren den Konflikt um eine Dominanz des Rechts oder der Theologie in der kirchlichen Entscheidung erlebten. Hus' Berufung auf Christus nimmt er bloß als frappante "Verletzung jedweder Prozeßregel" wahr. [2] Obwohl es willkommen wäre, anstelle des statuenhaften Helden einen suchenden und mitunter auch irrenden Menschen zu präsentieren, wird der Lektüreeindruck durch eine seltsame Ratlosigkeit in der Frage getrübt, was mit Hus überhaupt noch anzufangen ist. Kejř empfiehlt, ihn "gewissermaßen in seinen eigenen Vorstellungen befangen" zu lassen. [3]

Die insgesamt größere Konzentration auf andere Erscheinungen des Hussitentums verdankt sich dem Bestreben, noch offenkundigere Forschungsdefizite zu beheben. Unter den Einzelgestalten genießt im Moment Jakob von Mies die höchste Aufmerksamkeit - "der zweite Mann", aber "erste Theologe" der Hussiten, dessen Werk dennoch nicht nur unvollständig ediert, sondern auch nur lückenhaft überliefert bleibt. An eine bahnbrechende Arbeit von Helena Krmíčková "zu den Anfängen des Laienkelchs in Böhmen" [4] knüpft eine ganze Gruppe junger Forscher mit unterschiedlichem institutionellen und konfessionellen Hintergrund an. Neben den theologischen Traktaten berücksichtigt man in verstärktem Maß auch Predigten, im Zusammenhang mit dem Interesse für "Kommunikationsstrategien" und ihre Rolle bei dem Übergang von der Reform zur Revolte. Als Beispiel ist namentlich die Dissertation von Pavel Soukup erwähnenswert. [5]

Das Neueste (im gleichen Genre) stellt allerdings eine Monographie zur "Polemik um den Laienkelch zwischen Theologie und Politik 1414-31" von Dušan Coufal dar. [6] Diese Arbeit ist "jakobisch" im besten Sinn. Was mit einer persönlichen "Entdeckung" des Theologen begann, verfolgt sie als Geschichte einer fortwährenden Polemik, die bezeugt, dass die Opponenten übereinstimmend gerade dem Kelch die Bedeutung des Hauptartikels im hussitischen Programm zuerkannten. Da es hier wirklich um ein dogmatisches Problem ging, wurde aus dem damaligem Streit ein "certamen fidei" (und eben dadurch zugleich ein Politikum, weit brisanter als bloße Reformvorschläge im ethischen und administrativen Bereich). Für eine Dissertation ist das Werk zu breit angelegt, so dass nachträglich Kürzungen vorgenommen werden mussten. Es fällt auf, dass der Text vor der Schlüsselverhandlung auf dem Basler Konzil endet (was auf eine vielleicht weniger ersichtliche, aber nicht ganz vorteilhafte Weise auch die Argumentationslinie beeinflusst). Nichtsdestoweniger bietet das Buch, auf handschriftliche Quellen gestützt, ein ungewöhnlich einheitliches Bild der beiden Phasen der Debatten über den Laienkelch: der frühen, innovativ schöpferischen und der späteren, die im Rahmen des ermüdenden diplomatischen Kriegs um eine Möglichkeit, der universalen Kirche den hussitischen Standpunkt darlegen zu dürfen, eine Stabilisierung der Argumente brachte.

II.

Im Vergleich mit dem lebhaften Zustand der Hussitenforschung bekundet sich das Interesse an den späteren Phasen der böhmischen Reformationszeit schwächer. Dies soll kein Tadel sein: Man muss der gegenwärtigen tschechischen Historiographie zugestehen, dass sie die kirchengeschichtliche Komponente wieder zu einem festen Bestandteil ihrer Bemühungen um ein Gesamtbild der Zeit gemacht hat. Kirchliche Fragen nehmen z. B. in der federführend von Václav Bůžek erarbeiteten umfassenden, sozialgeschichtlich ausgerichteten Synthese unter dem Titel "Die Gesellschaft der böhmischen Länder in der Frühen Neuzeit: Strukturen - Identitäten - Konflikte" eine herausragende Stellung ein. [7]

Schwieriger bleibt es allerdings, das kirchliche Leben nach inneren Gesichtspunkten zu erfassen, einschließlich der konfessionellen Einordnung. In diesem Zusammenhang stellt es sich heraus, dass die frühen Anfänge tatsächlich nicht nur die Periodisierung der böhmischen Reformationsgeschichte komplizieren. Sie schufen eine Zwischenschicht, die ihre eigenen Konturen (samt ekklesialen Strukturen) noch vor den Wellen der europäischen Hochreformation bekam; die lutherischen und folgenden Einflüsse gestalteten sie dann allmählich in ähnlicher Weise um wie die römisch-katholischen, und ihre wechselseitige Auseinandersetzung mußte ähnlich verzwickt werden. So ist ein abschreckend unübersichtliches Terrain entstanden.

In jüngster Zeit hat eine Gruppe, geleitet von Jiří Mikulec vom Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften in Prag, eine zusammenfassende Arbeit gewagt, die sich direkt der "Kirche und Gesellschaft der Frühen Neuzeit in Böhmen und Mähren" widmet. [8] Diese ist vorsichtig als eine teilweise Synthese konzipiert, ähnelt aber mehr einem heterogenen Sammelband. Als Zentralbegriff verwendet sie die institutionelle Kirche, neben der das Bekenntnis bemerkenswerterweise abseits steht, trotz seiner Bedeutung für den behandelten Zeitraum.

Für diesen Aspekt der Entwicklung des böhmischen Christentums im 16. (und 17.) Jahrhundert behält ein Buch grundlegenden Rang, das inzwischen bereits selber ein Jahrhundert alt geworden ist: "Die Böhmische Konfession" von Ferdinand Hrejsa. Dies mit Recht, weil es ein imposantes Forschungsereignis darstellt, das auf breitester Quellenkenntnis gründet. Aber die Vermutung, nach einer so langen Zeit müsse auch es Spuren von Veraltung zeigen, und zwar nicht nur in Einzelheiten, sondern in seiner ganzen Konzeption, trügt nicht. Inzwischen deutlich umstritten ist die Art und Weise, mit der Hrejsa ganzen wissenschaftlichen Generationen die allmähliche Umwandlung der "calixtinischen" Kirche in eine Kirche Böhmischer Konfession übersichtlich machte: er trennt begrifflich zwischen "Alt-" und "Neuutraquisten". Denn diese Ausdrücke entsprechen nicht der zeitgemäßen Terminologie. Und vereinfachend gebraucht, führen sie zu Fehlwahrnehmungen, die man mitunter auch in der deutschen Literatur beobachten kann: Die Annahme, dass die beiden Parteien zwei Parallelkirchen etablierten, ist weit eher falsch als richtig.

Es hat also einen belebenden Eindruck erweckt, als endlich jemand die Herausforderung annahm und das Werk Hrejsas zu ersetzen versuchte. Der Autor heißt Zdeněk V. David, sein Buch ist im englischen Original schon 2003 erschienen. Gleichwohl kann es als ganz aktuell gelten, da es im vorigen Jahr in einer vom Autor selbst vorgenommenen tschechischen Übersetzung erneut veröffentlicht wurde. [9] David stammt aus Tschechien, hat aber jahrzehntelang im amerikanischen Exil geforscht und steht so auch für den internationalen Anteil an der böhmischen Reformationsgeschichtsschreibung. Diese beschränkt sich nicht auf den slawischen Kulturkreis; selbstverständlich gehören dazu Forscher aus Deutschland, dessen Geschichte mit der böhmischen eng verknüpft ist, wie F. Machilek, W. Eberhard und J. Bahlcke. Auch französische und nicht zuletzt angelsächsische Beiträge haben bereits ihre Tradition, weisen allerdings Ergebnisse von unterschiedlicher Originalität auf. Die Sprachbarriere stellt teilweise ein Problem dar, etwa für die als solche hochwillkommene neue englischsprachige Gesamtdarstellung der Theologiegeschichte der Brüderunität von Craig D. Atwood. [10] Sie schöpft bloß aus (zum Teil vor Jahrzehnten) übersetzten Texten und lässt den frischen Zugang zu Primärquellen vermissen. Allerdings kann der mühevoll eröffnete Zugang zur Fundgrube tschechischer Texte im Gegenzug auch dazu verleiten, Unmengen an Material und fremden Forschungsergebnissen zu übernehmen und damit sogar in einer vereinfachenden Übertragung den Eindruck einer innovative Konzeption oder sogar überraschender Entdeckungen herzustellen. Mehrere eindeutige Fälle sind keiner Diskussion wert. Eine gewisse Enttäuschung hat beispielsweise das Buch von Howard Louthan erweckt, das in Tschechien zwar nicht ablehnend, doch mit begründeter Verlegenheit aufgenommen wurde. [11]

Eine solche erweckt leider in hohem Maß auch die kühne Arbeit Davids. Ihre beachtlichen Ergebnisse werden durch etliche Kurzschlüsse erheblich abgewertet. Es ist bezeichnend, dass die bisherigen Rezensenten vorwiegend begrüßt haben, wie das Werk dem Leser die unverständliche Welt der utraquistischen Kirche und ihrer Auseinandersetzung mit den Einflüssen der europäischen Reformation nahebringt. Zugleich haben sie Zweifel angemeldet, wo es die Spezialfelder ihrer eigenen Fächer berührt hat. Der Theologiehistoriker muss in ähnlicher Weise die zentralen Thesen des theologisch ungeschulten David kritisieren. Die Hauptformel, die David statt der Hrejsaschen anbietet, ist nicht nur die einer "mitteleuropäischen ecclesia Anglicana" (noch sinnvoll, da die Kirche "sub utraque" sich selbst immer zugleich als "Bohemica" definierte und als solche ihre Strukturen bildete, noch bevor sie sich den konfessionellen Einflüssen der europäischen Reformation öffnete), sondern auch die einer "Via media" im Sinne einer programmatischen Doppelopposition gegen Rom und die ausländische Reformation. Nach Davids Meinung funktionierte diese ungebrochen, auch wenn sie zunehmend durch politisches Taktieren des Adels zugedeckt worden sei; theologisch ging es ihm zufolge um unvereinbare und also auch deutlich voneinander abgrenzbare Elemente.

Doch hier trotzt die komplizierte Realität dem Interpretationsschlüssel, und es zeigt sich rasch, dass die Anachronismen bei David nicht weniger zahlreich als bei Hrejsa sind; es mangelt vielmehr an den Quellenbelegen. Anscheinend ist David nicht so sehr am genauen Detail als an einer übersichtlicheren Aufstellung der Figuren interessiert. Um die beschriebene Wirklichkeit mit einem Maßstab auszugleichen, der sich auch im Anglikanismus erst im 19. Jahrhundert voll ausgebildet hat (wohingegen für das Bewusstsein verschiedener Gruppierungen der Reformationszeit das Stehen zwischen zwei Extremen charakteristisch ist), presst er dynamische Entwicklung in fertige Kategorien. Das Ergebnis sind bisweilen Zerrbilder und die undifferenzierte Etikettierung einzelner Personen. Wo die gegenwärtige Historiographie im allgemeinen besonders empfänglich für "transkonfessionelle Osmose" ist - sogar dort, wo, wenigstens äußerlich, viel übersichtlichere Verhältnisse herrschten -, schwimmt David gegen den Strom; allerdings auf eine Weise, ohne einen Mehrwert an Erkenntnis zu erreichen.

Nicht einmal er kann jedoch in der böhmischen Kirche eine Fülle von Einstellungen übersehen, die nicht zu seinem Verständnis von "Essenz" passen. Er hilft sich damit, dass er die Varianz und Offenheit dieser Meinungen als ein Indiz für die Toleranz der profilbildenden Theologen und der Funktionäre der "genuin utraquistischen" Richtung interpretiert. Hiermit stimmt das bei Gelegenheit rauhe Eingreifen dieser Kirchenmänner gegen Opponenten schlecht überein. Die Deutung befindet sich allerdings in einer verblüffenden Nähe zu jener, die man seit den Tagen der tschechischen "nationalen Wiedergeburt" entwickelte, um in der böhmischen Reformation eine einheimische Wurzel moderner liberaler Grundsätze zu finden.

Wie sehr gerade diese Perspektive das Interesse Davids bestimmt, hat inzwischen auch sein späteres Buch verdeutlicht, das zusammen mit dem vorigen eine Art Diptychon bildet. [12] Gewiß, im Unterschied zur masarykschen Selbstidentifikation mit der Linie des "Böhmischen Brüdertums" stellt David heraus, dass seiner Meinung nach das utraquistische Erbe durch die katholische Aufklärung adaptiert worden sei. Aber auch so steckt er selbst im Kontext der Debatten um "den Sinn der tschechischen Geschichte", wie man sie ungefähr vor hundert Jahren führte. Inwieweit er tatsächlich das Niveau übertreffen kann, das Hrejsa damals erreicht hat, bleibt eine brennende Frage. Schließlich stellt sich seine Arbeit also nach beinahe allen Seiten als problematisch heraus, ihre Hauptstärke wird sie wohl als Antrieb zur weiteren Diskussion erweisen.

In diesem Sinn ist allerdings die Konzentration auf den Spätutraquismus verdienstvoll. Bereits Hrejsa hat einen enormen Beitrag zu seiner Erforschung liefert, aber sein weiteres Lebenswerk widmete er, wie andere auch, der Brüderunität, die lange - nicht nur von Protestanten - als ein beinahe legendäres Vorbild der Christengemeinschaft verstanden worden ist. Die Sicht der Unität als Eliteminderheit ist gut begründet. Die bevorzugte Beschäftigung mit ihrer Geschichte (die nicht zu einer Erschöpfung geführt hat: in der Gestalt des "Archivs von Matthäus Konečný" wurde noch jüngst die Edition eines umfangreichen Quellenfunds begonnen) ist nicht zuletzt auf das außerordentliche Bemühen der Brüder selbst um ihren urkundlichen Nachlaß zurückzuführen. Dennoch ist die einseitige Bevorzugung einer Minorität auf die Dauer unhaltbar.

Das Interesse an der Landeskirche muss jedoch mit einer weitaus besseren Behandlung der lutherischen (oder gar reformierten) Einflüsse einhergehen, als dies David bietet. Auch ein entsprechender Versuch junger Forscher ist in vielem nur ein Vorbote, obgleich sich die Autoren - teilweise mit gutem Erfolg - bemüht haben, die Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart verfolgen. [13] Dies gilt allerdings am meisten für die spätere Zeit, für die man ohne anspruchsvolle konzeptionelle Auseinandersetzung mit der Frage auskommt, wer eigentlich "Lutheraner" sei, - für jene Zeiten, in denen es solche beinahe ausnahmslos ohne eigene institutionelle Verfasstheit gab, bleibt das Problem schwierig. Bei der Konzeption des Buchs blieb die Fragestellung außen vor, die Autoren der einzelnen Teile mussten sie eigenverantwortlich je an Ort und Stelle nachholen.

III.

Fehlt es bei David an einer Auseinandersetzung mit dem Konfessionalisierungsparadigma, so ist das zwar bezeichnend für die kühle Beziehung des Autors zur deutschen Wissenschaft (die diesen Ansatz eingeführt und als erste auch seine Übertragbarkeit auf die böhmischen Verhältnisse untersucht hat), aber an sich kein Fehler. Denn das Paradigma wird auch von den tschechischen Forschern, die es als Hilfe zur Erleichterung der Debatten in der internationalen scientific community bzw. als Modetrend interessiert, nur mit Schwierigkeiten und Vorbehalten angenommen. Schrittweise Modifikationen seiner ursprünglichen Form kommen jedoch einer Anwendung auf die böhmische Geschichte entgegen; besonders jene, die es erlauben, von der Ebene des zentralisierenden, seine Untertanen "disziplinierenden" Staats abzusteigen zu den weitgehend selbstregulierten Ständen und Gemeinden, den Blick auf Kulturprozesse zu richten und die freilich auch in der Konfessionalisierungsepoche bleibenden Räume für ein Zusammenleben der Anhänger unterschiedlicher Bekenntnisse zu berücksichtigen. Infolgedessen steigt die Resonanz.

Unter den neuesten Publikationen, die mit einer theoretischen Erörterung dieser Problematik einsetzen, fällt das Buch von Olga Fejtová über die "Rekatholisierung der Prager Neustadt in der Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg" auf. [14] Die Autorin möchte eine von ihr wahrgenommene Leerstelle füllen und widmet deswegen einer "Bestimmung der Grundbegriffe" und weitergehend der "Reflexion der terminologischen Diskussion" einen recht umfangreichen Abschnitt, ca. ein Viertel des Gesamttexts. Mit Blick auf den Gesamtaufbau mutet dies kaum angemessen an. Der Eindruck, zwei Werke in einem Band vor sich zu haben, verstärkt sich noch, weil Fejtová die Einführung die Konfessionalisierung "in vollem Umfang" behandelt, d. h. als Konzept, das beinahe für die ganze Frühe Neuzeit gilt, zugleich mit Berücksichtigung der Schlüsselbedeutung des 16. Jahrhunderts - doch in der Durchführung bleibt sie dann ausschließlich auf das 17. Jahrhundert beschränkt.

Nach der Zäsur zwischen der Hussitologie und der Geschichte der Früh(est)en Neuzeit zeichnet sich hier eine weitere Trennungslinie ab. Im böhmischen Kontext kann man sie vereinfachend auch als den Übergang von der Geschichte der Reformation zu jener der Gegenreformation beschreiben. Das 17. Jahrhundert war nämlich in den böhmischen Ländern die Ära einer geradezu völligen Vernichtung der "protestantischen" Institutionen in aller ihrer Buntheit.

Eben deswegen akzeptiert Fejtová das Konzept der Konfessionalisierung ohne größere Umstände: de facto kann sie es erst auf diesen Zeitraum mehr oder weniger reibungslos anwenden, dank einer klaren Analogie zu "Rekatholisierungsprozessen" in anderen Ländern und in engem Bezug zur Durchsetzung des Herrschaftsabsolutismus (ohne dass die Autorin einer einseitigen Etatisierung verfiele, denn ihrem Vorzugsinteresse für die städtische Umwelt entsprechend betont sie die Leistungskraft der neuen Kulturgeschichte). Sie nimmt das Konzept umso dankbarer an, als es zugleich einen wissenschaftlich neutralen Ausweg aus der Meinungspolarisation bieten scheint, die - wie gezeigt - bislang mit ziemlich lebhaften Reminiszenzen an die damaligen Begebenheiten verbunden ist.

Für die Periode vor der Katastrophe des reformatorischen Christentums gibt es keine vergleichbare monographische Untersuchung, doch man kann zu Periodika greifen. In der "Tschechischen historischen Zeitschrift" hat Josef Hrdlička 2010 die Anwendungsmöglichkeiten des Paradigmas für die Ära des 16. wie auch des 17. Jahrhunderts überprüft. [15] Inhaltlich konzentriert sich sein Aufsatz auf ein Spezifikum der Situation in etlichen Territorien unter habsburgischer Oberherrschaft (worauf in der deutschen Literatur bezeichnenderweise ein Österreicher aufmerksam gemacht hat, Th. Winkelbauer): die Adelskonfessionalisierung, zu der es innerhalb mancher Grundherrschaften kam. Diese wurde nicht durch den Gesamtkörper des Staatsapparats getragen, sondern sie verlief in Konkurrenz einzelner Amtsträger - einerseits Exponenten anderer konfessioneller Einstellungen, anderseits Garanten der Religionsfreiheit, die in einigen böhmischen Rechtsdokumenten nicht nur ständisch, sondern personal und damit in gleicher Weise für die Untertanen gültig definiert war.

Unter solchen Umständen benötigt man für ein genaueres Geschichtsbild - und zur Einschätzung der realen Erschließungskraft des Konfessionalisierungskonzepts - eine genügende Zahl an Fallstudien, die der Autor vorläufig mit Recht vermisst. Er selbst hat eine in südböhmischem Neuhaus durchgeführt. Auch dort begann die Konfessionalisierung auf der römischen Seite und erst in den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts - ohne größeren Erfolg, bis die Verhältnisse sich im ganzen Land durch den Krieg und die Vernichtung der protestantischen Machtbasis änderten. Bis dahin war auch nach Hrdličkas Schilderung nurmehr die Begünstigung einer Konfession möglich (er selbst verwendet besonders häufig die Wendung "eine Beeinflussung des Bekenntnisses der Untertanen"). Konturen einer konsequenten Strategie (überdies im Einklang mit der Politik des königlichen Oberherrn) gewinnt also auch diese Adelskonfessionalisierung erst im Rahmen der Gegenreformation und mit zeitlicher Verspätung gegenüber dem Reich.

Es scheint also, dass man in der böhmischen Geschichte Konfessionalisierungsprozesse kaum in der Form des allmählichen Übergangs zu einer Stabilisierung der reformatorischen Änderungen wahrnehmen kann, sondern vielmehr als Ankündigungen einer katastrophalen Wende, welche die Reformationsepoche einschließlich ihrer Haupterrungenschaften beenden wird. Diese Epoche selbst wäre dann beinahe in ihrer Gesamtlänge in einer großenteils konfessionell gemischten Gesellschaft verlaufen, basierend auf den Bedingungen des rechtlichen Ausgleichs, der schon in der hussitischen Periode erreicht worden war und der lange Zeit tiefere Konflikte abmilderte. Konfessionsbildung und Konfessionalisierung würden dementsprechend schärfer als in vielen anderen Ländern in zwei Phasen zerfallen.

IV.

In dieser Frage gibt es allerdings zur Zeit nur vorläufige und also auch heterogene Schlussfolgerungen. Näher zueinander rücken die beiden Konzepte in einem anderen Beitrag, mit dem sich Ondřej Jakubec und Tomáš Malý in der Zeitschrift "Geschichte - Theorie - Kritik" in die Debatte eingeschaltet haben. [16] Sie haben haben sich ausgehend von ihren Überlegungen zur Konfessionalisierung einer Debatte "über die Kunst als Quelle konfessioneller Identifikation" angenähert.

Das ist erwähnenswert, weil es unsere Aufmerksamkeit zum Schluß einem anderen Bereich reger Forschungstätigkeit zuwendet. Die Tatsache, dass man in der Diskussion kunsthistorisch qualifizierte Stimmen nicht überhören kann, wirkt im tschechischen Milieu keineswegs zufällig. Auch kunstwissenschaftliche Fächer steuern - wie schon traditionell Literaturhistoriker oder Musikologen, jetzt auch in wechselseitigem Austausch mit der in Entwicklung begriffenen Liturgiegeschichtsforschung - zu einem plastischeren Bild der Reformationsgeschichte kräftig bei. Relativ neu ist jedoch ihre erhöhte Beteiligung. Durch eine große Ausstellung, von der Publikation "Die Kunst der böhmischen Reformation" begleitet, ist wohl auch in Tschechien das Vorurteil, die Reformation sei künstlerisch desinteressiert und schal gewesen, endlich überwunden. [17]

Aber es geht nicht nur um anregende Ergebnisse getrennter Spezialfelder. Ebenso wichtig ist das erlangte Maß an Interdisziplinarität, die allseits beschworen, doch nicht überall derartig aussichtsreich realisiert wird wie in der letzten Zeit dort, wo man gemeinsam die "öffentliche Kommunikation" der Reformationszeit untersucht hat. Dass es nicht an Ideen fehlt, um erstarrte Modelle in neue Bewegung zu bringen, deutet übrigens die Datierung im Titel des letztgenannten Bandes an: 1380-1620. Hier wird offensichtlich ein Versuch unternommen, auf individuelle Weise die oben erwähnten zeitlichen Grenzen zu überschreiten und die Epoche der böhmischen Reformation als strukturiertes Ganzes zu verstehen.


Anmerkungen:

[1] František Šmahel: Die hussitische Revolution 1-3 (Monumenta Germaniae Historica; Schriften 43), übersetzt von Thomas Krzenck, Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2002, insgesamt xliv und 2286 S., ISBN 3-7752-5443-9.

[2] Jiří Kejř: Husův proces [Der Prozess von Hus], Praha: Vyšehrad 2000, s. 211 (von 238), ISBN 80-7021-387-6.

[3] Jiří Kejř: Jan Hus známý i neznámý [Jan Hus bekannt und unbekannt], Praha: Karolinum 2010, S. 109 (von 138), ISBN 978-80-246-1643-8.

[4] Helena Krmíčková: Studie a texty k počátkům kalicha v Čechách, Brno: Masarykova univerzita 1997, 218 S. (deutsche Zusammenfassung 207-214), ISBN 80-210-1533-0.

[5] Pavel Soukup: Reformní kazatelství a Jakoubek ze Stříbra [Das Reformpredigen und Jakob von Mies], Praha: Filosofia 2011, 438 S. (english summary 421-424), ISBN 978-80-7007-359-9.

[6] Dušan Coufal: Polemika o kalich mezi teologií a politikou 1414-1431, Praha: Kalich 2012, 328 S. (dt. Zusammenfassung 317-321), ISBN 978-80-7017-185-1.

[7] Václav Bůžek a kolektiv: Společnost českých zemí v raném novověku: Struktury, identity, konflikty, Praha: Nakladatelství Lidové noviny 2010, 1026 S., ISBN 978-80-7422-062-3.

[8] Jiří Mikulec a kolektiv: Církev a společnost raného novověku v Čechách a na Moravě, Praha: Historický ústav 2013, 518 S. (eng. Summary 429-441), ISBN 978-80-7286-206-1.

[9] Zdeněk V. David: Finding the Middle Way: The Utraquists' Liberal Challenge to Rome and Luther, Baltimore / London: The John Hopkins University Press 2003, xxii + 579 S., ISBN 0-8018-7382-7; ders.: Nalezení střední cesty: Liberální výzva utrakvistů Římu a Lutherovi, Praha: Filosofia 2012, 662 S., ISBN 978-80-7007-369-8.

[10] Craig D. Atwood: The Theology of the Czech Brethren from Hus to Comenius, University Park, PA: The Pennsylvania State University Press 2009, xv + 458 S., ISBN 978-0-271-03532-1.

[11] Howard Louthan: Converting Bohemia: Force and Persuasion in the Catholic Reformation, Cambridge: Cambridge University Press, xiii + 351 S., ISBN 978-0-521-88929-2.

[12] Zdeněk V. David: Realism, Tolerance and Liberalism, in the Czech National Awakening: Legacies of the Bohemian Reformation, Baltimore / London: The John Hopkins University Press 2010, 504 S., ISBN 0-8018-9546-4.

[13] Jiří Just / Zdeněk R. Nešpor / Ondřej Matějka et al.: Luteráni v českých zemích v proměnách staletí [Die Lutheraner in den böhmischen Ländern im Wandel der Jahrhunderte], Praha: Lutherova společnost 2009, 396 S. (dt. Zusammenfassung 387-395), ISBN 978-80-903632-8-1.

[14] Olga Fejtová: "Já pevně věřím a vyznávám..." ["Ich glaube und bekenne fest..."]: Rekatolizace na Novém Městě pražském v době pobělohorské, Praha: Scriptorium 2012, 336 S. (eng. summary 321-326), ISBN 978-80-87271-66-7.

[15] Josef Hrdlička: Konfesijní politika šlechtických vrchností a šlechtická konfesionalizace v Čechách a na Moravě v 16. a 17. století, in: Český časopis historický 108 (2010) / 3, S. 406-442 (eng. summary 442).

[16] Ondřej Jakubec / Tomáš Malý: Konfesijnost - (nad)konfesijnost - (bez)konfesijnost: diskuse o renesančním epitafu a umění jako zdroji konfesijní identifikace, in: Dějiny - Teorie - Kritika 7 (2010) / 1, S. 79-112 (english abstract 112).

[17] Kateřina Horníčková / Michal Šroněk (Hgg.): Umění české reformace, Praha: Academia 2010, 558 S. (eng. summary 529-538), ISBN 978-80-200-1879-3.

Martin Wernisch