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Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45, München: DVA 2011, 704 S., 41 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-05807-2, EUR 29,99
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Rezension von:
Sven Keller
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Sven Keller: Rezension von: Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45, München: DVA 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/21488.html


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Ian Kershaw: Das Ende

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Die letzte Phase des NS-Regimes blieb in der Forschung lange Zeit unterbelichtet. Sie trat hinter die Fragen zurück, wie die Nationalsozialisten die Macht hatten erobern und die Gesellschaft durchdringen können, wie der NS-Staat funktionierte, welchen Charakter die diktatorische Herrschaft Hitlers hatte, welche Formen des Widerstands möglich waren, und schließlich wie der Holocaust zu erklären ist. Wo die letzten Monate des Nationalsozialismus überhaupt Erwähnung fanden, bildeten sie häufig einen Epilog, dem nur noch wenig analytische Aufmerksamkeit gewidmet wurde - galt er doch auch angesichts einer bisweilen spärlichen Überlieferung traditioneller Quellen als "praktisch unerforschbar". [1] Spätestens mit der Pionierstudie Klaus-Dietmar Henkes zur amerikanischen Besetzung Deutschlands hat sich dies freilich geändert. [2]

Nun hat Ian Kershaw, unbestritten einer der besten Kenner der Geschichte des Nationalsozialismus, den letzten zehn Monaten des "Dritten Reiches" ein Buch gewidmet, das auf rund 540 Textseiten den Zeitraum vom gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 bis zur deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 abdeckt. Bei der neuerlichen Durchdringung seines Stoffes - den er für die letzten Kapitel seiner monumentalen Hitler-Biographie bereits aus anderem Blickwinkel bearbeitet hat - bewegt ihn vor allem die Frage, warum die Deutschen bis zur totalen Niederlage weiterkämpften und warum sie ihrem "Führer" in die Selbstzerstörung folgten. Wie konnte das NS-Regime weiterhin funktionieren? Warum hielt die Bevölkerung bis zum Ende durch, und warum kämpfte die Wehrmacht bis zuletzt? Damit rührt Kershaw an eine der noch nicht befriedigend beantworteten Gretchenfragen der NS-Geschichte.

Die Antwort darauf sucht "Das Ende" in einer Analyse der Herrschaftsstrukturen des NS-Staates und der Mentalität der Deutschen in neun chronologisch gegliederten Kapiteln. Die Binnengliederung der Kapitel ist meist gleich: Nach einem Überblick über die militärischen Ereignisse, die auch die alliierte Perspektive einfließen lässt, folgen Abschnitte zur Reaktion der politischen und militärischen Führungsebene, ehe die Erfahrungen und Haltungen der Zivilbevölkerung und der einfachen Soldaten in den Blick genommen werden. Die Entscheidung für dieses erzählende Vorgehen kommt dem Leser angesichts des komplexen Stoffes zweifelsohne entgegen und hat Vieles für sich. Die gelegentlichen Redundanzen, die daraus unweigerlich folgen, lassen sich verschmerzen, zumal Kershaw seine Deutungen der Kriegsendphase in einem Schlusskapitel konzise zusammenführt. "Das Ende" bietet bestens präsentierte Geschichte, und Kershaws bestechend klare, nüchterne Prosa hat daran großen Anteil. Die deutsche Übersetzung ist von hoher Qualität. Bedauerlich ist lediglich, dass das hervorragende Sachregister des englischen Originals für die deutsche Ausgabe eingespart wurde.

Obwohl Kershaw aus zahlreichen Quellen wie Tagebüchern und Memoiren schöpft, ist seine Argumentation dort am überzeugendsten, wo er sich mit der Berliner Machtzentrale befasst - namentlich mit Martin Bormann, Joseph Goebbels, Heinrich Himmler und Albert Speer, die nach dem gescheiterten Attentat vom Juli 1944 ein informelles Quadrumvirat bildeten und in den letzten großen strukturellen Veränderungen des NS-Staates erheblichen Machtzuwachs verzeichnen konnten. Er schildert die Dezentralisierungstendenzen und hebt zu Recht die Bedeutung der Gauleiter hervor, die gleichzeitig als Reichsverteidigungskommissare amtierten, ohne allerdings die Herrschaftspraxis der Parteifunktionäre auf Gau- oder gar Kreisebene eingehend zu verfolgen. Auch wenn es um die Mentalitäten geht, gewinnt die Haltung der politischen und militärischen Eliten deutlichere Kontur als die der "einfachen" Deutschen. Freilich gelingt es dem Autor, auch abseits von Opferstatistiken und Totenzahlen dem Leser die Schrecken und Leiden der letzten Kriegswochen zu vermitteln.

Wie lautet nun Kershaws Antwort auf die Fragen nach den Strukturen und Mentalitäten, die dazu führten, dass NS-Deutschland den Krieg bis zum endgültigen Kollaps weiterführen konnte? Zentrale Figur und "von größter Bedeutung" (537) bleibe Hitler, dessen sozialdarwinistische Überzeugungen und Vorstellungen von heldischem Untergang die Ereignisse geradezu determiniert hätten. Niemand in seiner Umgebung sei Willens gewesen, sich Hitler energisch zu widersetzen. Besondere Verantwortung schreibt Kershaw der Wehrmachtführung zu: Die hohen Offiziere allein hätten über die Machtmittel verfügt, das Regime mit Aussicht auf Erfolg zu stürzen, sie hätten jedoch die strukturelle Abhängigkeit von Hitler nicht überwunden und sich an ihren Eid gebunden gefühlt. Die Potentaten der Partei, die ihre Legitimation direkt vom "Führer" ableiteten, rangelten unterhalb seiner letztlich unantastbar bleibenden Position um Macht und Einfluss, mehr war von ihnen nicht zu erwarten.

Hitlers charismatische Herrschaft habe Bestand gehabt, selbst als der Glanz des "Führers" angesichts militärischer Misserfolge, nachlassender Gesundheit und irrationaler Entscheidungen zu verblassen begann. Um dies zu erklären, greift Kershaw auf das in seiner Paradoxie interessante Modell einer "charismatischen Herrschaft ohne Charisma" (540) zurück, in der die eingeübten Mentalitäten und Einstellungen der Protagonisten die Strukturen und den Charakter des Regimes aufrecht erhielten.

Die Zivilbevölkerung und die einfachen Soldaten machten, so Kershaw, vor allem aus Angst weiter: Angst vor der "bolschewistischen" Besetzung und den zu erwartenden Gräueltaten, die das Regime bewusst schürte und instrumentalisierte, und Angst vor dem Terror, den das Regime im Innern gezielt ausübte. Der Gewalt rechnet Kershaw eine zentrale Funktion für die Aufrechterhaltung der NS-Herrschaft in der Endphase zu und führt immer wieder Gewalttaten an, um das Terror-Argument zu untermauern. Anders als für die strukturelle Persistenz des NS-Staates bleiben Erklärungsansätze für die Frage, warum nationalsozialistische Gewalttäter bis zuletzt weitermordeten, vergleichsweise vage.

Kershaw bietet damit spannende und anregende Antworten auf seine Fragestellungen, die an mancher Stelle zum Weiterdenken und Weiterforschen einladen. Zu Recht sieht er in der Person Hitlers und der Figur des "Führers", die er verkörperte, bis zuletzt einen zentralen Faktor. Doch wie weit reicht das Erklärungsmodell vom "Charisma ohne Charisma" und den "strukturellen Determinanten" (539) charismatischer Herrschaft in dem chaotischen Zusammenbruch-Szenario der Kriegsendphase? Dass Struktur und nachwirkendes Charisma allein nicht genügen, um das Handeln Einzelner und das Weiterfunktionieren des NS-Staates in der Endphase zu erklären, ist Kershaw klar - deshalb stützt er sein strukturgeschichtliches Argumentationsgerüst durch den Hinweis auf die Mentalität überzeugter Nationalsozialisten und Militärs. Doch was genau waren diese Mentalitäten, worin gründeten sie, wie wirkten sie und äußerten sich? Solche Fragen liegen nahe, und Kershaw ist kein Anhänger monokausaler Denkmodelle. Doch die Antworten bleiben eher diffus, verstreut und wenig pointiert formuliert.

So verweist der Autor auf verschiedene Elemente nationalsozialistischer Weltsicht: Das Trauma der Niederlage von 1918, das sich nicht wiederholen sollte, führt er mehrfach an, ebenso das kontinuierliche Fortwirken der NS-Ideologie, etwa im Blick auf die Opfer der Gewalt. Gerade diese letzten beiden Faktoren verweisen auf den Kern der nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsidee, der Kershaw als Analysemodell jedoch skeptisch gegenübersteht. Gerade in der Endphase bietet es jedoch Erkenntnispotenzial: Konzipiert als Lehre aus der Niederlage im Ersten Weltkrieg, sollte die "Volksgemeinschaft" die Stabilität der Heimatfront und die innere Stärke im Krieg garantieren. Ihre Inklusions- und Exklusionsregeln definierten nach stabilen rassischen und politischen Kriterien die Gegner, die es auszuschalten galt. Unabhängig von ihrer realen Umsetzung diente die "Volksgemeinschaft" jenen, die daran glaubten, bis zuletzt als positives Ordnungsmodell. Im Chaos der Endphase versprach sie Orientierung - gerade weil sie als Antwort auf eine tiefe Krise entwickelt worden war, blieb sie in der neuerlichen Krise interpretations- und handlungsleitend. Die Praxis der Gewalt, die Kershaw selbst schildert, zeigt dies deutlich: Sie spielte sich innerhalb der (sich verändernden) Strukturen des Führerstaats ab und blieb gleichzeitig auf die Ideologie der "Volksgemeinschaft" bezogen.

Ian Kershaw ist erneut ein wichtiges Buch gelungen, das in großer Breite die Geschichte der letzten Monate des "Dritten Reichs" ebenso eingängig erzählt wie intellektuell anregend analysiert. Mit Kershaws Band und Richard Bessels (leider unübersetztem) Buch zum Jahr 1945 liegen damit zwei dichte Gesamtdarstellungen der deutschen Geschichte 1944/45 aus der Feder angelsächsischer Historiker vor, die als Grundlage weiterer Forschungen unentbehrlich sein werden.


Anmerkungen:

[1] Jörg Hillmann / John Zimmermann: Einleitung, in: Kriegsende 1945 in Deutschland, hgg. von Jörg Hillmann / John Zimmermann, München 2002, 1-5.

[2] Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995; Richard Bessel: 1945. From War to Peace, New York 2009; zur strukturellen Entwicklung bereits Eleanor Hancock: The National Socialist Leadership and Total War, 1941-5, New York 1991; mit Blick auf die Wehrmacht: Andreas Kunz: Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Macht in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944 bis 1945, München 2005; John Zimmermann: Pflicht zum Untergang. Die deutsche Kriegsführung im Westen des Reiches 1944/45, Paderborn 2009.

Sven Keller