Rezension über:

Jochen Johrendt: Die Diener des Apostelfürsten. Das Kapitel von St. Peter im Vatikan (11.-13. Jahrhundert) (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom; Bd. 122), Berlin: de Gruyter 2011, X + 564 S., ISBN 978-3-11-023407-7, EUR 79,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Hans-Jürgen Becker
Universität Regensburg
Redaktionelle Betreuung:
Jessika Nowak
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Jürgen Becker: Rezension von: Jochen Johrendt: Die Diener des Apostelfürsten. Das Kapitel von St. Peter im Vatikan (11.-13. Jahrhundert), Berlin: de Gruyter 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/21701.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Jochen Johrendt: Die Diener des Apostelfürsten

Textgröße: A A A

Die Geschichte der Dom- und Kanonikerkapitel ist für die Geschichte des Heiligen Römischen Reichs im Mittelalter und in der Neuzeit von großer Bedeutung, wie die von Aloys Schulte [1] begründete und von Rudolf Schieffer [2] und Peter Hersche [3] fortgesetzte Grundlagenarbeit belegt. Die Forschung war aber bisher auf den Bereich nördlich der Alpen konzentriert. Für Italien und dort insbesondere für den Kirchenstaat hat es bislang an einer vertieften Beschäftigung mit der Rolle der Kanonikerkapitel gefehlt, sieht man von der für eine spezielle Fragestellung wegweisenden Studie von Christoph Weber [4] ab. Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass das vorliegende Werk von Jochen Johrendt ein interessantes Neuland erschließt. Seine Abhandlung stellt den ersten Teil seiner Münchener Habilitationsschrift dar. Der zweite Teil, der die Urkundenregesten zum Kapitel von St. Peter enthält [5], war bereits 2010 erschienen und bildet die Grundlage für die fesselnde Darstellung, die die Kirchen-, Sozial- und Verfassungsgeschichte bereichert. Der Verfasser kann an eine Studie von Luigi Martorelli [6] anschließen, die bemerkenswerter Weise allerdings bereits 1792 erschienen ist und heutigen Ansprüchen naturgemäß nicht genügen kann.

Nach einer Einleitung, die einen Überblick über die Kapitelforschung und die Geschichte des Kapitels von St. Peter im Vatikan bietet, zeichnet der Verfasser Struktur und Verfassung des Kapitels von St. Peter im Vatikan nach. Sodann werden zunächst die Statuten, sodann die handelnden Personen (Ämter, Kanoniker, Benefizianten, Chorkleriker, Mansionare) sowie die Wirtschaftsorganisation und die Lebensgemeinschaft der Kanoniker vorgestellt. Nachdem so die Grundlagen dargelegt worden sind, folgen zwei große Spezialuntersuchungen.

Im zweiten Kapitel (159-260) steht vorrangig das Innenleben des Kapitels im Vordergrund: Unter dem Aspekt der Prosopographie werden die Mitglieder des Kapitels, soweit dies möglich ist, genau erfasst. Es handelt sich dabei um nicht weniger als 231 Kanoniker. Insbesondere werden ihre kirchliche und familiäre Herkunft, ihre kirchlichen Karrieren und ihr Bildungsstand nachgezeichnet. Wie zu vermuten war, spielen - nicht numerisch, sondern dynastisch betrachtet - die stadtrömischen Familien eine besondere Rolle, zunächst die Geschlechter der Conti und Sant'Eustachio, dann die Orsini. Ab dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts erscheinen verstärkt auswärtige Kanoniker. Die Nähe zur Kurie kommt in einer vielfältigen personellen Verschränkung von Kapitel und päpstlichem Hof, insbesondere der päpstlichen Kapelle, zum Ausdruck. So wundert es nicht, dass aus den Reihen der Kanoniker von St. Peter zahlreiche Kardinäle hervorgegangen sind.

Das dritte Kapitel der Studie ist dem Thema "Päpste, das Peterskapitel und Rom" gewidmet (261-355). Hier geht es um die Außenwirkung des Kapitels im Verhältnis zum Papsttum und zur Stadt Rom. Einleitend ruft der Verfasser in Erinnerung, dass dem Kapitel von St. Peter mit dem Kapitel der Lateranbasilika, der Kirche des Bischofs von Rom (caput ecclesiarum) und dem Sitz der päpstlichen Verwaltung und dem Tagungsort vieler Konzilien, ein gewichtiger Konkurrent gegenüberstand. Das Peterskapitel war allerdings als Hüter der Grabeskirche des Apostelfürsten in einer besonders hervorragenden Stellung, die ihm nicht zu nehmen war. Zunächst wird dargelegt, wie sich die Reformpäpste Gregor VII. und Leo IX. zum Peterskapitel verhalten haben. Sodann wendet sich der Verfasser der Entwicklung der Beziehung von Papsttum und Peterskapitel im 12. Jahrhundert zu, also einer Zeit der eindeutigen Dominanz des Laterans. Diese Vorherrschaft des Laterans kommt schon darin zum Ausdruck, dass seit dem Tode Paschalis II. (1118) die Päpste nicht beim Grab des Apostelfürsten, sondern in ihrer Bischofskirche ihre letzte Ruhestätte fanden. Noch deutlicher wird der Dualismus der beiden Kathedralkapitel, wenn man die Orte in den Blick nimmt, an denen die Papsterhebung durchgeführt wurde. Ohne Zweifel stellte die Besitzergreifung des Lateranpalastes einen wichtigen zeremoniellen Akt beim Amtsantritt eines Papstes dar, doch spielte daneben die Inthronisation des Papstes eine bedeutende Rolle. Als bevorzugter Ort galt St. Peter, wenn auch mit dem Papstwahldekret Alexanders III. Licet de vitanda von 1179 das Erreichen der Zweidrittelmehrheit für die Wahl die eigentliche rechtsetzende Bedeutung des Amtsantritts erlangte, demgegenüber die zeremoniellen Akte in den Hintergrund traten. Das Erhebungszeremoniell am Grab des Petrus wurde gleichwohl durch Innozenz III. (früherer Peterskanoniker) aufgewertet, als er 1198 mehrere Wochen nach seiner Wahl verstreichen ließ, um sich dann am Fest Petri Stuhlfeier (22. Februar) in St. Peter inthronisieren zu lassen. Obwohl vom Recht nicht gefordert, wurde die Inthronisation auf der hölzernen "Kathedra Petri" stilbildend für seine Amtsnachfolger. Bedeutsam für die Peterskirche und damit für ihr Kanonikerkapitel war auch der Umstand, dass sie bevorzugter Ort der Krönung der Kaiser war. Erst später fanden hier auch Krönungen anderer Herrscher statt. Noch wichtiger aber war eine Funktion des Kapitels von St. Peter im Hinblick auf die Pallien, die als Zeichen der erzbischöflichen Würde vom Papst verliehen wurden: Diese Insignien wurden am Grab von St. Peter geweiht, wobei die Kanoniker von St. Peter den liturgischen Dienst versahen. Der Verfasser bewertet mit Recht diesen von der Forschung kaum zur Kenntnis genommenen Aspekt als wichtiges Verbindungsglied zwischen der päpstlichen Leitung der Gesamtkirche und dem Peterskapitel.

Im 13. Jahrhundert gewann die Peterskirche und damit ihr Kapitel erneut Boden gegenüber der Lateranbasilika. Hatte sie unter Innozenz III. den Titel mater cunctarum ecclesiarum erhalten, so begann unter Eugen III. (1145-1153) die Errichtung von Palastbauten bei St. Peter, die es den Päpsten und ihrer Kanzlei ermöglichten, nun auch hier zu residieren. Erweiterungen erfolgten unter Innozenz III., Innozenz IV. und Eugen III. Für die Stellung von St. Peter war ferner die Ausrufung des ersten Heiligen Jahres 1300 von großer Bedeutung. Dem Verfasser gelingt es auch an dieser Stelle, eine neue Bewertung der zugrunde liegenden Umstände vorzunehmen: Die Ausrufung des Heiligen Jahres war weniger ein Anliegen von Bonifaz VIII. (auch er ein früherer Kanoniker von St. Peter) als des Peterskapitels. Der Zustrom von Pilgern hatte bereits vorher deutlich zugenommen, wobei u.a. die Verehrung des Schweißtuchs der Veronika eine Rolle spielte. Jedenfalls scheint sich der Papst nicht sehr stark für das Jubeljahr und den damit verbundenen Ablass eingesetzt zu haben, da er sich ausgerechnet im Jahr 1300 nur selten bei St. Peter aufgehalten hat. Die von ihm ausgestellte Urkunde vom 22. Februar 1300 dürfte als ein Kompromiss zu verstehen sein, der nach Beratungen im Kardinalskollegium zustande kam: Nicht nur für St. Peter, sondern auch für St. Paul wurde das Jubeljahr ausgerufen. Dies stellte einen "Triumph des Peterskapitels über das Laterankapitel dar" (349). Mit der Einführung des Jubeljahrs gehen, so stellt der Verfasser fest, die servitores der ecclesia beati Petri eine enge und tragfähige Verbindung mit dem servus servorum die ein.

Der umfangreiche Anhang bietet einerseits Verzeichnisse der zinspflichtigen Besitzungen des Peterskapitels, andererseits die Biogramme der Kanoniker von St. Peter. Ein sorgfältiges Quellen- und Literaturverzeichnis schließt das Werk ab. Die Studie von Johrendt ist nicht nur eine glänzende Darstellung der Geschichte des Kapitels von St. Peter vom 11. bis zum 13. Jahrhundert: Durch die Herausarbeitung der Beziehungen des Kapitels zum Papsttum und zu den stadtrömischen Institutionen ist hier eine Studie vorgelegt worden, die unsere Kenntnisse vom mittelalterlichen Papsttum und der Geschichte der Stadt Rom deutlich erweitert und vertieft.


Anmerkungen:

[1] Aloys Schulte: Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter. Studien zur Sozial-, Rechts- und Kirchengeschichte (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 63 / 64), Stuttgart 1910 [Darmstadt 31958].

[2] Rudolf Schieffer: Die Entstehung von Domkapiteln in Deutschland (Bonner Historische Forschungen, 43), Bonn 1976 [ND Bonn 1982].

[3] Peter Hersche: Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert, 3 Bde., Bern 1984.

[4] Christoph Weber: Familienkanonikate und Patronatsbistümer. Ein Beitrag zur Geschichte von Adel und Klerus im neuzeitlichen Italien (Historische Forschungen, 38), Berlin 1988.

[5] Jochen Johrendt: Urkundenregesten zum Kapitel von St. Peter im Vatikan (1198-1304) (Biblioteca Apostolica Vaticana. Studi e testi, 460), Città del Vaticano 2010.

[6] Luigi Martorelli, Storia del clero vaticano dai primi secoli del Cristianesimo fino al XVII, Roma 1792. Einige wenige moderne Titel zu Kanonikerkapiteln in Rom werden bei Johrendt auf Seite 9 Anmerkung 40 genannt.

Hans-Jürgen Becker