Rezension über:

Sacha Zala / Sabine Rutar / Oliver Schmitt (Hgg.): Die Moderne und ihre Krisen. Studien von Marina Cattaruzza zur europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen: V&R unipress 2011, 481 S., ISBN 978-3-89971-916-1, EUR 58,90
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Rezension von:
Jan Surman
Herder-Institut, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Jan Surman: Rezension von: Sacha Zala / Sabine Rutar / Oliver Schmitt (Hgg.): Die Moderne und ihre Krisen. Studien von Marina Cattaruzza zur europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen: V&R unipress 2011, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/23652.html


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Sacha Zala / Sabine Rutar / Oliver Schmitt (Hgg.): Die Moderne und ihre Krisen

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Der vorliegende Sammelband - der Berner Professorin Marina Cattaruzza zum 60. Geburtstag gewidmet - beinhaltet eine Auswahl aus ihren geschichtswissenschaftlichen Studien, die auf Deutsch, Italienisch und Englisch erschienen sind und nun gesammelt in deutscher Übersetzung vorliegen. Die in dem Titel angesprochene krisenhafte Modernität gliedert sich in die vier Abschnitte "Bürgertum, Arbeiter, Urbanisierung", "Nation, nationale Frage, nationale Konflikte", "Fragen der Geschichtsschreibung" und "Minderheiten und Aussiedlungen", wobei der geografische Schwerpunkt der ersten beiden Teile auf dem habsburgischen Küstenland und Triest liegt und sich im vierten Teil auf den Raum Ostmitteleuropas erweitert. Diese Gliederung spiegelt auch die Ausweitung von Cataruzzas Interessen wider - die ersten hier abgedruckten Arbeiten zu Triest stammen aus den späten 1980er Jahren, während die Artikel zu Geschichtsforschung und Migration nach ihrer Berufung nach Bern im Jahr 1999 veröffentlicht wurden. Ergänzt werden die Artikel um Einführungen in die genannten vier Sektionen, die nicht nur die Orientierung erleichtern, sondern auch die Forschungen kontextualisieren und sie auf die im Titel erwähnten Krisen der Modernität hin ausrichten.

Dass es sich bei den früheren Arbeiten keineswegs um überholte Erkenntnisse handelt, beweisen die Studien des ersten Teils. Artikel zum Casino Vecchio in Triest sowie zur Entwicklung der Kaufmanns- und Arbeiterschicht bieten nicht nur empirisches Material, sondern auch Überlegungen zur fortschreitenden Technisierung und Objektivierung der Arbeitsorganisation in den Werften von Triest und Hamburg sowie zu den Geschlechterbeziehungen (Migration und Zerfall der klassischen Familie im Triester Umland; 106-109). Das Verhältnis zwischen Stadt und Umland spiegelt sich in der Nationalitätenfrage wider: Wie Cattaruzza in einem weiteren Aufsatz erläutert, war die Auseinandersetzung zwischen italienischer und slowenischer Sprache vielmehr ein Konflikt der bourgeoisen Triester mit den slowenischsprachigen Bauern. Sorgfältig abwägend sind auch die Aufsätze zur Nationalitätenpolitik, zu Irredentismus und Nationalität als Ressource für sozialdemokratische und kommunistische Politik. Hinsichtlich des Irredentismus handelte es sich, so Cattaruzza, um einen relativ kleinen Kreis politischer Aktivisten, die eine Abspaltung der Gebiete von der Habsburgermonarchie guthießen, ohne aber direkte Unterstützung seitens der italienischen Regierung zu erfahren. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Sozialismus/Kommunismus und nationaler Frage müsse man die eingefahrenen Gleise verlassen und - anstatt von einer Kontinuität auszugehen - die Kontexte "der emanzipatorischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts ... [und] Totalitarismen des 20. Jahrhunderts" stärker berücksichtigen (260). Kritik an ausgetretenen Pfaden übt Cattaruzza auch in den Aufsätzen zu Geschichtsschreibung und Nationalsozialismus. Zum einen fragt sie danach, welche Innovationen Historiker hervorbrachten, die während der NS-Zeit tätig waren, zum anderen danach, welche neuen Wege die historiografische Aufarbeitung der Regime eröffnete: durch eine "tief greifende Identitätskrise" sei die deutsche Gesellschaft keinen Deutungszwängen unterlegen gewesen, "denen die Zeitgeschichtsschreibung durch ihren engen Bezug zum kollektiven Empfinden und Erinnern meist ausgesetzt ist" (331). In einer summarischen Rekonstruktion der Shoah-Forschung lässt Cattaruzza auch die ostmitteleuropäische Dimension durchscheinen, indem sie zeigt, wie aus der Öffnung der Archive in Osteuropa wie auch aus der verstärken Diskussion zur Mittäterschaft an der Ermordung der Juden neue Forschungsperspektiven hervorgegangen sind.

Im abschließenden Teil zu Zwangsmigrationen wird die mehr gegenwartsbezogene Seite von Cattaruzzas Schaffen sichtbar. Zwei Aufsätze thematisieren die osteuropäische "Entmischung" (Hans Lemberg) und stellen sie in einen breiteren Rahmen. Cattaruzza unterstreicht dabei mit Detlef Brandes, dass es sich bei den Vertreibungen um gewaltsame Prozesse gehandelt habe, deren Vorbild "der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch aus dem Jahr 1923" (389) dargestellt habe, die aber als Rahmen für einen "Dreißigjährigen Krieg der Nationalitäten" (408), der nach dem Ersten Weltkrieg mit der Neuordnung der post-imperialen Territorien begann, analysiert werden müssten. Kritisch betrachtet sie dabei auch die nationalen Narrative des "leeren Raumes", der neubesiedelt werden musste, beziehungsweise der Kollektivschuld, der zufolge alle Deutschen während des Krieges und danach als Kollaborateure galten. Sie fordert eine gründlichere, entemotionalisierte Betrachtung des Phänomens "Zwangsmigrationen", das als Erbe multikultureller Staatswesen in Zeiten der Identifizierung des Staates mit der Ethnie nicht nur die Aussiedlung der Deutschen beinhaltete und dessen "Residualerscheinungen" die "'wilden Vertreibungen' auf dem Balkan" bildeten (425).

Die von Triest zur Einbindung Ostmitteleuropas in "globale" Diskurse führenden Artikel bilden einen durchaus interessanten, wenn auch nicht kohärenten Festband. Die in den letzten zwei Teilen geforderte Entemotionalisierung und Entnationalisierung der geschichtswissenschaftlichen Narrative (ohne sich einem radikalen Revisionismus zu ergeben), um regionale Prozesse in langfristige(re) und raumübergreifende Kontexte einzubinden, stellt gerade für Osteuropahistoriker ein Desiderat dar, das in den letzten Jahren verstärkt angesprochen wurde, ohne aber konkrete Ergebnisse hervorzubringen.

Jan Surman