Rezension über:

Robert Groß: Wie das 1950er Syndrom in die Täler kam. Umwelthistorische Überlegungen zur Konstruktion von Wintersportlandschaften am Beispiel Damüls in Vorarlberg (= Institut für sozialwissenschaftliche Regionalforschung. Veröffentlichungen; 10), Regensburg: Roderer Verlag 2012, 192 S., ISBN 978-3-89783-749-2, EUR 27,90
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Rezension von:
Mathias Mutz
Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Mathias Mutz: Rezension von: Robert Groß: Wie das 1950er Syndrom in die Täler kam. Umwelthistorische Überlegungen zur Konstruktion von Wintersportlandschaften am Beispiel Damüls in Vorarlberg, Regensburg: Roderer Verlag 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 9 [15.09.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/09/22239.html


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Robert Groß: Wie das 1950er Syndrom in die Täler kam

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Auf etwas mehr als 160 Seiten untersucht Robert Groß die Umweltgeschichte des kleinen Dorfs Damüls im Bregenzerwald, das sich im 20. Jahrhundert von einem abgelegenen Bergdorf zu einem zentralen Wintersportort entwickelte. Er beschreibt einerseits den sozialen und ökonomischen Wandel auf der Basis des sozialökologischen Regimewechsels hin zu fossilen Brennstoffen und insbesondere zum Erdöl, den er unter dem Begriff "1950er Syndrom" fasst. [1] Andererseits verbindet er dies mit einer Analyse der touristischen Bildproduktion zur Winterlandschaft, die in der "Funktion des Zugpferdes vor dem Karren des Tourismus" (117) gesehen wird. Die auf einer Diplomarbeit beruhende Publikation bietet somit nicht nur eine lokale Fallstudie zur Anwendung der Konzepte der 'Wiener Schule der Sozialen Ökologie', sie versucht, diese gleichzeitig kulturwissenschaftlich anschlussfähig zu machen.

Nachdem einzelne theoretische Bausteine zu sozialökologischen Systemen, Kulturlandschaftswandel und Landschaftswahrnehmung vorgestellt wurden, verfolgen die nächsten drei Kapitel die Entwicklung in Damüls jeweils aus einer wirtschafts-, verkehrs- und technikkulturgeschichtlichen Perspektive. Der Bogen wird hier von den 1880er Jahren bis in die Gegenwart gespannt, wobei Schwerpunkte in der Zwischenkriegszeit, der direkten Nachkriegszeit und den 1990er Jahren liegen. Rund ein Viertel der Arbeit entfällt schließlich auf das Kapitel zu "Umwelthistorischen Aspekten des touristischen Blicks", in dem 26 Fotografien und Werbegrafiken aus dem Zeitraum 1918 bis heute diskutiert und interpretiert werden. [2]

Nachdem Damüls im Zuge der Industrialisierung von einer massiven Bergflucht betroffen war, stabilisierte der Fremdenverkehr und dabei zunehmend der Wintersport seit den 1920er Jahren die lokale Wirtschaft. Eine Technisierung durch Aufstiegshilfen und damit ein energetischer Umbau zur Wintersportlandschaft erfolgte jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die "Rationalisierung des Skivergnügens" (56) und das so genannten Bauernsterben beschreibt Robert Groß dabei als Wettbewerb um die Landschaftsgestaltung. Der erste Großschlepplift 1957 war der Startschuss für die Etablierung eines Großskigebiets, die bis in die 1970er Jahre andauerte. Spiegelbildlich dazu kam es zum Rückgang der Beschäftigtenzahlen in der Landwirtschaft, der zunächst auf Rationalisierung und Energieeinsatz beruhte und schließlich durch fehlende Wettbewerbsfähigkeit beschleunigt wurde. Das entstehende Umweltbewusstsein verlangsamte die Erschließung. Seit den 1990er Jahren führte der erhöhte Wettbewerbsdruck aber erneut zur Intensivierung durch Beschneiungsanlagen und Geländekorrekturen.

Parallel dazu verlief die Entwicklung eines Mobilitätssystems, "das primär der räumlichen Bewegung menschlicher Körper durch die sozialökologische Nische Wintersportlandschaft zum Zweck der Generierung von Sinneseindrücken diente" (154). Auch verkehrsgeschichtlich bedeutete die Industrialisierung für Damüls zunächst eine Marginalisierung, die touristisch im Sinne eines automobilen Alpinismus durchaus positiv war. Erst in den 1940er Jahren war eine ganzjährige Straßenverbindung hergestellt. Massenautomobilisierung und Freizeitgesellschaft machten eine einfache Verkehrsanbindung dann zum Wettbewerbsfaktor, wobei dies auch zu Einnahmeverlusten durch Tagestourismus und zu Verkehrs- und Umweltproblemen führte, denen man mit einer Wiederbelebung des ÖPNV begegnete.

Als dritter Entwicklungsstrang wird die Formierung und Institutionalisierung des Skisports beschrieben. Dabei wird insbesondere der Zusammenhang von Skilauf und Winterwahrnehmung herausgestellt, der in der Zwischenkriegszeit eine Zäsur erlebte und zur Ideologisierung und Medialisierung der "touristische[n] Dreiheit aus Sonne, Schnee und Ski" (88) führte. Die Evolution mechanischer Aufstiegshilfen, also Skiliften und Sesselbahnen, stieß eine Veränderung der Kulturlandschaft, aber auch neue Praktiken des Skifahrens an. Frühe Kritik an der Popularisierung des Skisports und Ziele einer nachhaltigen Entwicklung beeinflussten dabei immer wieder Entscheidungsprozesse, ihnen standen aber sportpolitische Überlegungen entgegen.

Im Mittelpunkt dieser drei Kapitel steht der Versuch, den Strukturwandel mit dem Wechsel der Energieregime zu verknüpfen. Dabei gelingt es, Energie- und Materialströme als strukturelle Voraussetzung deutlich zu machen. Touristischer Aufschwung wurde zunächst durch ökonomische und materiell-energetische Knappheit verhindert. Es fehlt jedoch in allen drei Bereichen die eindeutige lokale Rückbindung, etwa durch eine Quantifizierung des Energiebedarfs und des Verkehrsaufkommens oder durch eine exaktere Chronologie des Wandels. Die Frage, wann genau das '50er Syndrom' ins Tal kam, stellt sich etwa, wenn von den "Vorboten des 1950er Syndroms schon in den 1940er Jahre[n]" (73) oder der "Aufbauphase der 1960er" (162) gesprochen wird. Anstatt lokale Wechselwirkungen zu beleuchten, verschleiert der Topos des '1950er Syndroms' eher die konkreten Prozesszusammenhänge.

Versteht man Tourismus als Symbolkonsum und Umweltwahrnehmung als Konstruktionsprozess werden Bilder zur "Sehanleitung der Landschaftswahrnehmung" (114) und "handlungsleitend für die Konstrukteure der sozialökologischen Nische" (115). Zu Recht widmet sich die Arbeit deshalb ausführlich der Bildproduktion. Hier unterstellt Groß einen Wandel vom 'romantischen Blick' zu einem 'geselligen Blick' durch sozialstrukturelle Veränderungen und durch die Notwendigkeit, die Bilder der Erfahrung der bevölkerten Skigebiete anzupassen. Thematisiert wird daneben vor allem der Umgang mit der technischen Infrastruktur des Skifahrens, die lange Zeit nur zurückhaltend sichtbar gemacht wurde. Lediglich in den 1960er Jahren entwickelte sich demnach ein technologisch modernisierter Wahrnehmungsmodus, der Abbildungen von Pistenraupen oder Parkplätzen erlaubte, aber durch "Naturschutzfacetten in der mentalen Topographie" (127) bald wieder der Strategie der Unsichtbarmachung wich. Erst in jüngster Zeit zeige sich ein neuer Wachstumsoptimismus. Gleichzeitig wird aber betont, dass der romantische Blick nie ganz verdrängt und insbesondere seit den 1990er Jahren wiederbelebt wurde.

Nicht zuletzt diese Renaissance von Motiven wirft Fragen nach der Aussagekraft der vorgestellten Bildanalysen auf. Hier fällt die fehlende methodische Reflexion im Vergleich zu den ausführlichen konzeptionellen Teilen davor auf, was der Absicht einer Aufwertung der Bedeutung der materiellen Kultur widerspricht. Zu bemängeln wäre etwa, dass alle interpretierten Bilder - bis auf eine Darstellung von Bauarbeitern aus einer Umweltbroschüre - aus Werbeveröffentlichungen stammen. Dementsprechend müsste der marketinggeschichtliche Kontext diskutiert und vergleichend andere (Bild-)quellen herangezogen werden. So wirkt die Bildinterpretation teilweise ungeordnet, zumal sie immer wieder mit Kontextinformationen vermischt wird. Dadurch gehen spannende Detailbeobachtungen und die Überlegungen zur Verknüpfung struktureller (energetisch-materieller) Voraussetzungen und Umweltwahrnehmung etwas verloren.

Der Versuch, die boomende Tourismus- und Alpinismusforschung an die Agrar- und Umweltgeschichte zurückzubinden, ist mehr als lobenswert. Insgesamt aber wirkt die Arbeit dadurch konzeptionell überladen und in ihrer Struktur nicht immer kohärent; spätestens wenn im Schlussteil der Bezug zu Bourdieu gesucht wird, um den Faktor Macht mit einzubeziehen. In der Arbeit selbst erhalten die Akteure der Bildproduktion und auch die Akteure des sozioökonomischen Wandels dagegen nur wenig Gewicht, meistens wird das "1950er Syndrom" zum Handelnden. Um die Entstehung asymmetrischer Machtverhältnisse zu beleuchten, würde es anderer Quellen bedürfen. Es erscheint als Zirkelschluss, aus den Bildern der Tourismusindustrie abzuleiten, dass der Tourismus die (Selbst-)Wahrnehmung des Ortes prägte oder diese Bilder als Zeugnis der Durchsetzung einer neuen politischen Ordnung im Dorf zu sehen. Spannende Fragen nach der strukturierenden Wirkung landschaftlicher und materieller Artefakte auf das soziale Leben und materielle Wechselwirkungen von Ideen und Vorstellungen über Umwelt werden so letztlich nur angedeutet. Das anregende Konzept der "sozialökologischen Nische", in der "gesellschaftliche Konflikte [...] eine Art Resonanz des soziokulturellen Systems auf inter- und intraspezifische Konkurrenz der unterschiedlichen Nischenkonstrukteure" (168) darstellen, kann und muss hier von der Forschung noch konsequenter weitergedacht werden.


Anmerkungen:

[1] Damit ist der Übergang von der Industrie- zur Konsumgesellschaft gemeint, den Christian Pfister an der Verfügbarkeit billiger Energie festmacht. Vgl. Christian Pfister (Hg.): Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern/Stuttgart/Wien 1995.

[2] Einige der Bilder werden online vorgestellt in: Robert Groß: Damüls, Bregenzerwald: How skiing irreversibly changed an Alpine environment, in: Arcadia. Online Explorations in European Environmental History; http://www.environmentandsociety.org/arcadia/damuels-bregenzerwald-how-skiing-irreversibly-changed-alpine-environment

Mathias Mutz