Rezension über:

Gabriele B. Clemens (Hg.): Zensur im Vormärz. Pressefreiheit und Informationskontrolle in Europa (= Schriften der Siebenpfeiffer-Stiftung; Bd. 9), Ostfildern: Thorbecke 2013, 267 S., ISBN 978-3-7995-4909-7, EUR 29,00
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Rezension von:
Dieter Langewiesche
Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dieter Langewiesche: Rezension von: Gabriele B. Clemens (Hg.): Zensur im Vormärz. Pressefreiheit und Informationskontrolle in Europa, Ostfildern: Thorbecke 2013, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/11/23562.html


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Gabriele B. Clemens (Hg.): Zensur im Vormärz

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Zur Geschichte der Zensur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es eine umfangreiche Literatur, und dennoch ist noch viel zu erforschen. Davon zeugt dieser Tagungsband. Sein Obertitel könnte in die Irre führen. Etliche Beiträge sind der napoleonischen Ära gewidmet, manche greifen weit ins 18. Jahrhundert zurück, und vor allem soll "Vormärz" keine Beschränkung auf das Gebiet des Deutschen Bundes signalisieren, der hier erfreulicherweise nicht im zeitlichen Vorgriff kleindeutsch verengt wird. Österreich und das Großherzogtum Luxemburg werden auch behandelt. Je ein Beitrag befasst sich mit Frankreich, Russland, Spanien und Italien.

Welche Bereiche des weiten Feldes Zensur untersucht werden, bestimmen jeweils die Autoren. Die Untersuchungsschwerpunkte reichen von den gesetzlichen Bestimmungen für Vor- und Nachzensur von Druckerzeugnissen aller Art über die Institutionen und Personen, die dabei tätig waren, bis zur aktiven Informationslenkung durch den Staat. Selbstverständlich wird die Geschichte der Zensur mit dem politischen Geschehen sowie mit kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen verbunden, und gefragt wird auch nach den Wirkungen der obrigkeitlichen Eingriffe mit Blick auf die Presselandschaft, das Verlagswesen, die vielfältigen Möglichkeiten des "Ideenschmuggels" und die Selbstzensur von Autoren, Verlegern und Druckern.

Nach der Einleitung, in der die Herausgeberin die Tagungsergebnisse unter systematischen Aspekten bilanziert, folgt eine Überblickskizze (Pierre Horn) zu den Entwicklungslinien französischer Zensur- und Pressegesetzgebung von 1799, als mit Napoleon ein rigoros autoritäres Presseregime gekoppelt mit einer ebenso rigorosen Informationssteuerung einsetzte, bis zur Februarrevolution 1848. Wie wenig Gesetze und Edikte über die Praxis aussagen, zeigen die anschließenden Beiträge zum Königreich Westphalen (Claudie Paye) und zu Leipzig in der Rheinbundära (Helge Buttkereit). [1] Paye analysiert Zensurprobleme, die aus der Zweisprachigkeit vor allem in der Administration Westphalens entstanden, verfolgt die staatlichen Eingriffe bis zur Aufschrift eines Sargtuchs und zu einzelnen Wörtern in Drucktexten - beides diente dazu, die Erinnerung an die alte Herrschaft zu tilgen -, oder belegt die Kreativität der Betroffenen, die auf andere Medien und Informationswege auswichen. Von der staatlichen "Zensur und Desinformationspolitik" sieht sie eine "Politisierung der Gesellschaft" ausgehen (78). Im Buchhandelszentrum Leipzig waren es vor allem wirtschaftliche Interessen, die staatliche Stellen veranlassten, die Zensur moderat auszuüben. Es wurde mehr gedroht als bestraft.

Sechs Beiträge befassen sich mit den Verhältnissen in Staaten des Deutschen Bundes. Sie belegen die große Spannweite bei der Ausführung der Zensur. Der Bund setzte den Rahmen, der von den Staaten und auch innerhalb der Staaten unterschiedlich ausgefüllt wurde. So zeigt Hannelore Putz für Bayern, wie die Zensoren in den Regierungsbezirken mit ihrem Ermessensspielraum umgingen. Als 1831 eine Zensurverordnung erlassen wurde, nutzte der Landtag dies, ausführlich darüber zu debattieren, ob die Verordnung gegen die Verfassung verstieß. Dies und die Rücknahme der Verordnung gehören zum Parlamentarisierungsprozess in Bayern. Preußen ging zwar mit seiner Zensurverordnung von 1819 über die Karlsbader Bundesbeschlüsse hinaus, indem alle Schriften unabhängig von ihrem Umfang der Vorzensur unterworfen wurden, doch institutionell war die Zensur stark zersplittert. Erst 1843 kam es zu einer Vereinheitlichung, verbunden mit dem Übergang zur Nachzensur. Doch wie die Zensur konkret ausgeübt wurde, hing weiterhin vor allem von den Zensoren ab. Ihr Wirken ist bislang nicht hinreichend erforscht (Bärbel Holtz). In den Hansestädten Lübeck, Bremen und Hamburg (Michael Hundt) beugten sich die Senate nur widerwillig den Vorgaben zunächst des Alten Reichs und dann des Deutschen Bundes. Sie galten ihnen als Eingriff in ihre Rechte. Doch während sie nach außen eine "wohlkalkulierte Liberalität" (169) zeigten, praktizierten sie gegenüber innenpolitischen Fragen eine entschiedene Zensur oder suchten die Presse zu steuern. In Luxemburg (Norbert Franz und Josiane Weber) wurden zunächst die Bundesbeschlüsse ignoriert, da das niederländische Recht angewendet wurde, während nach der belgischen Revolution in den Gebieten, die unter niederländischer Herrschaft blieben, die Zensurbestimmungen des Bundes umgesetzt wurden, um das Land gegen die Entwicklungen in Belgien abzusperren. In Österreich hingegen, das die repressive Politik des Bundes maßgeblich bestimmte, spielten dessen Zensurbestimmungen keine Rolle (Thomas Olechowski). [2] Hier folgte man der Zensurordnung von 1795, an der sich "bis 1848 nichts Grundsätzliches mehr ändern" sollte (144). Zu den Studien, die sich mit dem Gebiet des Deutschen Bundes befassen, gehört auch der Essay von Reiner Marx, der damit kokettiert, selber vor seiner These zu erschrecken, im Werk Heinrich Heines sei eine "Zensur-Ästhetik" zu erkennen: der Dichter als Opfer und Nutznießer der Zensur.

Im Zarenreich, so argumentiert Jan Kusber eindringlich, funktionierte die Zensur "nie als Praxis in der Fläche", sondern immer nur als "Androhung, der durch exemplarische Strafen Gewicht verliehen wurde." Doch dieses "Schwert der Autokratie" sei zunehmend stumpfer geworden (137). Die beiden Hauptaufgaben der Zensur in Russland - Abschottung des Reichs "gegen schädliches Gedankengut aus Europa" (122) und Kontrolle der Druckproduktion im Innern - waren vor allem an den Peripherien und dort, wo nicht auf Russisch publiziert wurde, nicht zu erfüllen. Doch auch im Zentrum entstand eine Opposition, der Schriftsteller und Universitätsprofessoren angehörten, die sich im Amt des Zensors als "Anwälte ihrer Autoren" (133) verstanden. Wie Kusber für Russland, so betont Jens Späth für Spanien die Andersartigkeit der Entwicklung im europäischen Vergleich. Den Schwerpunkt legt er auf die Phasen 1808 bis 1814 und 1820 bis 1823, in denen es erstmals Pressefreiheit in Spanien gab. Freiheit in religiösen Fragen gehörte nicht dazu. Stärker in die Zensurpraxis führt der Beitrag von Werner Daum zu Italien und insbesondere zum Königreich beider Sizilien. [3] Hier diagnostiziert er das gesamte Spektrum der Zensur im Dienste der Herrschaftssicherung von der Repression bis zur "Konsens- und Moralstiftung" (221).

So unterschiedlich die Beiträge angelegt sind und so lückenhaft der europäische Raum betrachtet wird, der Band bietet einen vorzüglichen Zugang zum heutigen Stand der Zensurforschung, er fügt Neues hinzu, und er entwickelt Fragen für die künftige Forschung.


Anmerkungen:

[1] Buttkereits Aufsatz beruht auf seinem Buch: Zensur und Öffentlichkeit in Leipzig 1806-1813, Berlin 2009.

[2] Sein Artikel basiert auf seiner Habilitationsschrift: Die Entwicklung des Preßrechts in Österreich bis 1918. Ein Beitrag zur österreichischen Mediengeschichte, Wien 2004.

[3] Ausführlich dazu Daums Dissertation: Oszillationen des Gemeingeistes. Öffentlichkeit, Buchhandel und Kommunikation in der Revolution des Königreichs beider Sizilien 1820/21, Köln 2005.

Dieter Langewiesche