Rezension über:

Michael Knoll: Atomare Optionen. Westdeutsche Kernwaffenpolitik in der Ära Adenauer (= Militärhistorische Untersuchungen; Bd. 13), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2013, 380 S., ISBN 978-3-631-64791-2 , EUR 64,95
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Rezension von:
Dieter Krüger
Universität Potsdam
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Dieter Krüger: Rezension von: Michael Knoll: Atomare Optionen. Westdeutsche Kernwaffenpolitik in der Ära Adenauer, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/04/23989.html


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Michael Knoll: Atomare Optionen

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Im Atomzeitalter beruht staatliche Souveränität in letzter Instanz auf der Verfügung über Atomwaffen. In der öffentlichen Wahrnehmung scheint diese Lehre des Kalten Krieges nahezu vergessen. Während die junge Bundesrepublik - im Gegensatz zur DDR - ihre Souveränität nach innen erstaunlich rasch konsolidierte, sah sie diese von außen durch die mächtige Militärmacht an ihren Ostgrenzen bedroht. Dass die Wahrung der territorialen Integrität letzten Endes auf dem Schutz durch Atomwaffen beruhte, war Staatsräson der Bonner Republik. Freilich legte die sozialliberale Koalition von 1969 mit ihrer Unterschrift unter den Nichtverbreitungsvertrag jeden Gedanken ad acta, diesen Schutz jemals in die eigene Hand zu nehmen.

Michael Knoll widmet seine Dissertation von 2012 den bereits von zahlreichen anderen Autoren betrachteten Überlegungen des Kabinetts Konrad Adenauer. Das nukleare Patt zwischen den Supermächten machte es immer fragwürdiger, ob die USA im Ernstfall mit ihrem Nuklearpotential für den deutschen Verbündeten am Rhein einstehen würden. Nach einem vorbildlichen Auftakt mit klaren Fragen widmet sich der Autor der in anderen Arbeiten eher stiefmütterlich behandelten Frage nach der Funktionsweise und Wirkung von Atomwaffen. Er gliedert seine Darstellung in die drei Hauptteile "militärischer Nutzung der Kernenergie", "die junge Bundesrepublik und die Atombombe" und "das deutsche Streben nach Verfügungsgewalt". Die Abgrenzung der beiden letzten Aspekte erweist sich dabei aber als sehr artifiziell.

Zutreffend ist das Ergebnis, dass Adenauer - aus den eingangs ausgeführten Gründen - in der nuklearen Mitbestimmung eine Voraussetzung nationaler Souveränität und Gleichberechtigung sah. "Kaum bekannt" (326) ist das mitnichten. Dass Adenauer "nationale Atomwaffen" angestrebt habe, was "gefährlich und wenig hilfreich" gewesen sei, widerlegt der Autor selbst mit dem Hinweis, die derzeitige Quellenlage ergebe keinen Hinweis auf eine "nationale militärische Nutzung der Kernenergie" (326, 335). Folgerichtig war eine "nationale Atombombe" auch kein Motiv für die von Knoll anschaulich beschriebenen Anfänge der deutschen zivilen Atomforschung und vor allem der Zentrifugentechnologie zur Urananreicherung, an der Frankreich dagegen nicht zuletzt aus militärischen Gründen großes Interesse hatte. Dass die Vereinigten Staaten das Verfahren unter Geheimschutz und damit dessen wirtschaftliche Verwertung in Frage stellten, entsprach ihrem Schachzug, die EURATOM auszubremsen, indem sie den Brennstoffbezug der Westeuropäer so verbilligte, dass Investitionen eine europäische Isotopentrennanlage nicht mehr lohnten.

Adenauer die "Verharmlosung nuklearer Waffen als Weiterentwicklung der Artillerie" (326) zu unterstellen, wird diesem zwar eher gerecht als die Behauptung der Zeitgenossen, der greise Kanzler sei da nicht ganz kompetent oder gar schon ein wenig senil. Zutreffend ist hingegen, dass der Kanzler die geltende NATO-Strategie der Massiven Vergeltung und die operativen Vorstellungen der NATO-Militärs vereinfachend, aber im Kern völlig korrekt auf den Punkt brachte. Freilich wurde er von der Reaktion der Öffentlichkeit überrascht. Aber es war nur konsequent, dass Adenauer eine "moderne" Bewaffnung seiner Streitkräfte mit geeigneten Trägern und Sprengkörpern forderte. Denn als rein konventionell ausgerüstete und ausgebildete Armee - wie sie bis etwa 1955 geplant worden war - taugten sie vor allem als "Kanonenfutter" in einer nuklear geführten Auseinandersetzung.

Dass der Autor den militärischen Aspekt weitgehend ausblendet, ist auch der Zugangspolitik des Bundesarchivs geschuldet. Der Autor beschreibt die Hürden, vor die er sich gestellt sah. Der Rezensent kann nur den Kopf schütteln, dass Akten, die er selbst vor über 20 Jahren verzeichnete [1], offenbar immer noch unter Verschluss gehalten werden - fast fünfzig Jahre nach ihrem Entstehen und in einer zwischenzeitlich völlig veränderten sicherheitspolitischen Weltlage. In letzter Instanz sind freilich nicht das Bundesarchiv und namentlich seine militärische Dependance in Freiburg verantwortlich, sondern die Herausgeber der Verschlusssachen. Immerhin hat das Verteidigungsministerium eine Arbeitsgruppe zur Offenlegung eingerichtet, die hoffentlich bald den Erwartungen der Zeitgeschichtsforschung nachkommt - und das vor allem auch auf dem Gebiet der Nuklearstrategie. Denn ohne diese Quellen bleibt die Geschichte der deutschen Sicherheitspolitik des Atomzeitalters ein Stochern mit der Stange im Nebel.

Diese Einschränkung hätte den Autor freilich nicht daran gehindert, die Literatur zur Kenntnis zu nehmen, die zur Rolle namentlich der taktischen Atomwaffen vorliegt. So hat der Rezensent selbst 2008 die Atomic Strike Plans der NATO und das daraus resultierende Dilemma der Bundesregierung sowie das Problem der europäischen Sicherheitsidentität beschrieben. [2] Aus dem präemptiven Charakter der Strike Plans erklärt sich womöglich der spontane Verdacht des Kanzlers, sein etwas unberechenbarer Minister Franz Josef Strauß plane den Präventivkrieg (24f.). Helmut Hammerich hat die Bedeutung taktischer Atomwaffen im operativen Konzept der Bundeswehr dargelegt. [3] Seine Ergebnisse zeigen, dass Adenauer schlicht das berichtete, was auch die westdeutschen Militärs planten, nämlich taktische Atomwaffen wie früher schwere Artillerie bei der Bekämpfung von Flächenzielen einzusetzen. Im Übrigen kümmerten sich hohe deutsche Offiziere keineswegs, wie Knoll in Berufung auf einen ehemaligen Bundeswehr-General meint, bis Anfang der 1970er Jahre hauptsächlich um "Verwaltung" (317). Hans Speidel war von 1957 bis 1963 NATO-Befehlshaber der Landstreitkräfte Mitteleuropa. Sein Nachfolger, Johann Adolf Graf Kielmansegg, avancierte 1967/68 sogar zum Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Mitteleuropa. Adolf Heusinger war von 1961 bis 1964 Vorsitzender des Ständigen Militärausschusses bzw. des Militärausschusses der NATO. Das waren alles andere als einflusslose Positionen. Vielmehr hätten zumindest Speidel und Kielmansegg die NATO-Truppen in einem Atomkrieg geführt.

Der von den USA ausgehende Strategiewechsel hin zur Flexiblen Reaktion verschärfte nicht nur das westdeutsche, sondern auch das europäische Dilemma. Je mehr die Amerikaner seit 1960 ihre nukleare Garantie aufweichten und zur konventionellen bzw. teil-nuklearen Verteidigung Europas tendierten, desto offenkundiger wurde dieses Dilemma. Aus ihrer Warte verständlich, wollten sie ihr strategisches Nuklearpotenzial so spät wie möglich in die Waagschale werfen und damit zwangsläufig auch die Unversehrtheit ihres Territoriums und ihrer Bevölkerung so lange wie möglich wahren. Nach Möglichkeit wollte man sich die Chance zum Krisenmanagement offen halten, während in Europa bereits konventionell oder gar teil-nuklear gekämpft wurde. Dagegen lag es im Interesse der Bundesregierung, dem möglichen Gegner glaubwürdig zu vermitteln, dass er bereits mit dem Übergriff auf westdeutsches Territorium höchste Risiken für sein Land und sein Volk einging. Wenn die Bundesregierung im Sinne des "Göttinger Manifests" von 1957 nicht nur auf Nuklearwaffen, sondern sogar auf deren Träger verzichtet hätte, hätte sie auch auf jeglichen Einfluss auf den Einsatz von Atomwaffen im Rahmen der Bündnisverteidigung und auf die abschreckende Wirkung der Bundeswehr verzichtet. Indem es keinen Weg aus dem Dilemma aufzeigte, blieb das Manifest der Atomwissenschaftler ein Dokument intellektueller Hilflosigkeit.

Was die Bundesregierung letztlich anstrebte, war die Mitwirkung in einer europäischen Atomstreitmacht, auf die sie sich verlassen konnte, entweder im Rahmen einer bilateralen Nuklearkooperation mit Frankreich [4] oder im Rahmen der NATO. Insbesondere Verteidigungsminister Franz Josef Strauß träumte einen "European dream"[5], der dem westdeutschen Sicherheitsbedürfnis gerecht wurde. Da Briten und Franzosen keinen europäischen Weg wollten - da er die Integration der Sicherheitspolitik und die Teilung der atomaren Verfügungsgewalt mit den Westdeutschen voraussetzte -, wurde es nichts mit der europäischen nuklearen Sicherheitsidentität. Die USA hatten ohnehin kein Interesse, ihre Hegemonialstellung durch Mitspracherechte der Deutschen einzuschränken, nachdem man widerstrebend den Briten eine halbwegs autonome Verfügung über Atomwaffen zugestanden hatte und sie im Falle Frankreichs nicht hatte verhindern können. [6] Die Bundesrepublik konnte nicht zu den europäischen Großmächten aufschließen und zog 1969 die Konsequenz, indem sie dem militärischen Gegner mit dem politischen Instrument der Entspannungspolitik entgegentrat, bis auch diese Politik wieder am bekannten Dilemma zu scheitern drohte. Es folgte 1979/80 die Nachrüstungskrise.

Die Studie Knolls enthält zahlreiche spannende Details, bleibt am Ende aber reichlich disparat. Sie hätte eines weiteren Arbeitsganges mit dem Ziel der gründlichen Strukturierung und der Erweiterung um den militärischen Aspekt bedurft. Insofern mag sie auf die äußeren Zwänge verweisen, unter denen begabte Nachwuchshistoriker häufig ihre Studien zu Ende bringen müssen.


Anmerkungen:

[1] BW 2/2420 (S. 136), BW 2/2719 (S. 287). Im Falle der Teilkassation kann der Autor bei dieser Akte davon ausgehen, dass nur redundantes und unbedeutendes Material kassiert wurde.

[2] Vgl. Dieter Krüger: Schlachtfeld Bundesrepublik? Europa, die deutsche Luftwaffe und der Strategiewechsel der NATO 1958 bis 1968, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), 171-225. http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2008_2.pdf

[3] Vgl. Helmut R. Hammerich: Der Fall "Morgengruß". Die 2. Panzergrenadierdivision und die Abwehr eines überraschenden Feindangriffs westlich der Fulda 1963, in: Die Bundeswehr 1955 bis 2005. Hg. v. Frank Nägler, München 2007, 297-312; Ders: Kommiss kommt von Kompromiss. Das Heer der Bundeswehr zwischen Wehrmacht und U.S. Army (1950-1970), In: Ders. / Dieter H. Kollmer / Martin Rink u.a. (Hgg.): Das Heer 1950 bis 1970. Konzeption, Organisation, Aufstellung, München 2006, 17-351, bes. 102-121.

[4] Wichtige Hinweise zu den vielschichtigen Motiven der Sondierung einer nuklearen Zusammenarbeit mit Frankreich finden sich auch bei Ulrich Lappenküper: Die deutsch-französischen Beziehungen 1949-1963: Von der "Erbfeindschaft" zur "Entente élémentaire", München 2001, 2 Bde., 1139-1199, 1627-1706.

[5] Vgl. Beatrice Heuser: The European Dream of Franz Josef Strauss, in: Journal of European Integration History, 4, 1998, 75-103.

[6] Zum Spannungsverhältnis zwischen amerikanischen Sicherheitsinteressen und der europäischen Sicherheitsidentität vgl. auch Ralph Dietl: Emanzipation und Kontrolle. Europa in der westlichen Sicherheitspolitik 1948-1963. Eine Innenansicht des westlichen Bündnisses, Bd. I: Der Ordnungsfaktor Europa 1948-1958, Stuttgart 2006, Bd. II: Europa 1958-1963: Ordnungsfaktor oder Akteur?, Stuttgart 2007 (=Beihefte der Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft; Bde. 64 und 67).

Dieter Krüger