Rezension über:

Lutz Raphael (Hg.): Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 82), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, 312 S., ISBN 978-3-412-20857-8, EUR 38,90
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Rezension von:
Christoph Boyer
Universität Salzburg
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Boyer: Rezension von: Lutz Raphael (Hg.): Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6 [15.06.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/06/21913.html


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Lutz Raphael (Hg.): Theorien und Experimente der Moderne

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Der Band beschließt innerhalb der Reihe "Industrielle Welt" eine mehrteilige Serie, die sich mit basalen Konstituenten der europäischen Moderne (Stadt, Religion, Medien) auseinandersetzt. Er thematisiert für das Europa des 20. Jahrhunderts maßgebliche Ordnungsentwürfe und Selbstbeschreibungen. Das Unternehmen versteht sich als eine kulturgeschichtlich angereicherte Gesellschaftsgeschichte - richtet sich also gegen eine "objektivistische", auf "soziale Physik" reduzierte Sozialgeschichte. Der Band transzendiert den nationalgeschichtlichen Rahmen und damit den methodologischen Nationalismus. Europas Moderne soll, in globalgeschichtlicher Wendung, auch aus der Außendistanz betrachtet und in die multiple modernities komparativ eingeordnet werden. Der Kontinent ist also kein Supercontainer, dem essentialistisch "Besonderheiten" attribuiert werden. Gut, dies alles zu hören - auch wenn hier mittlerweile ziemlich weit offenstehende Türen noch einmal energisch eingerannt werden.

Thematisiert werden, zum einen, "Theorien" - sozialwissenschaftliche Selbstbeschreibungen europäischer Gesellschaften im Ganzen oder in tragenden Teilen. In diese Abteilung gehören Morten Reitmayers akribische Analyse des "Meinungswissens" über Klasse, Stand und Masse, Elite, Führer und Gefolgschaft, Benjamin Ziemanns kenntnisgesättigte tour d'horizon durch die westlichen Gesellschaften im Medium der soziologischen Klassiker sowie Wolfgang Knöbls kundige Führung durch die Europadiskurse des 20. Jahrhunderts. Die Grundstimmung angesichts vielfacher Anläufe zu einer sozialwissenschaftlichen Konzeptualisierung Europas ist eher skeptisch: Ein solches Unternehmen dient ja wohl eher der normativ grundierten Selbstverständigung bestimmter Gruppen, Kreise oder Klüngel. Und deswegen kommen immer wieder neue Interpretamente über vage Ideen und unscharfe Begriffe nicht hinaus; scheinbar solide begründete Paradigmen werden zügig wieder über den Haufen geworfen. Auch die Außensicht auf Europa verhilft hier nicht zu mehr Sicherheit: Konstruktionen Europas sind, wie Jürgen Osterhammels luzide Fallstrick-Analyse demonstriert, vielfältig interessengeleitet; häufig sind die Urheber bereits europäisiert; die Begriffe und Instrumente hat man womöglich aus den europäischen Sozialwissenschaften entlehnt. Ein instruktives Kontrastszenario präsentiert dann allerdings Joachim von Puttkamer: In einigen ostmitteleuropäischen Staatssozialismen hat sich, synchron zur Erosion der Parteiregime, die Sozialtheorie aus der Enge der marxistischen Dogmatik herausarbeiten und den Status reflexiver Wissenschaftlichkeit wiedergewinnen können.

Thematisiert werden, zum zweiten, "Experimente": Technokratie (Dirk van Laak), social engineering (Thomas Etzemüller) und Fordismus (Adelheid von Saldern). In diesen Makromodellen sind herrschaftsintensive Produktionsregime und soziale Ordnungskonzepte mit visionären Weltbildern verkoppelt (insofern gibt es natürlich auch hier einiges an "Theorie"). Der technizistische, vorgeblich apolitische Denkstil der Ingenieure hat ein breites Spektrum von Lebensbereichen infiziert. Er entfaltet sich in Sozialtechnologien; Leitideen sind Wissenschaftlichkeit, Zweckrationalität und Berechenbarkeit, Planung und Effizienz, Selbst- und Fremddisziplinierung, gerne mittels Belehrung und Erziehung durch Experten. Hier stoßen wir auf den Quellcode des europäischen Interventions-, Infrastruktur- und Wohlfahrtsstaats westlicher, aber auch staatssozialistischer Provenienz: Die Gemeinsamkeiten sind klar systemüberwölbend. Nicht von ungefähr begegnen uns mit den Zentralelementen der europäischen Moderne auch deren sinistre Ambivalenzen: Dort etwa, wo sich aufklärerischer Eudämonismus zu biologistisch radikalisierter Sozialhygiene auswächst. Zu dieser Nachtseite der Moderne zählt auch das - von Dietrich Beyrau in souveräner Verdichtung vorgestellte - sowjetische Modell als Ausgeburt eines militant-technokratischen Aufklärungspathos. Es mündete bekanntlich in ein langfristig nicht überlebensfähiges Szenario industriegesellschaftlicher Modernität "der anderen Art". Hartmut Kaelbles Skizze der "großen europäischen Konvergenz" hingegen liest sich als success story: Als die Erfolgsgeschichte der Einebnung historischer Gefälle zwischen den europäischen Nationen, zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Nord und Süd, im Zeichen von Nachkriegsboom und voll entfalteter Sozialstaatlichkeit, der supranationalen Integration und der Folgen von "1989".

Fokus des Bandes ist die technokratisch-rationale Seite der europäischen Moderne. Der (ebenso moderne) romantische Individualismus des Gefühls bleibt weitgehend außerhalb, ist aber nicht völlig exkludiert. Ohnehin verfließen hier die Sphären und Kategorien: Gibt es nicht auch eine "Romantik der Rationalität" (Etzemüller)? Durchwegs beschreiben die "Theorien" (und begründen die "Experimente") Tiefenstrukturen von Gesellschaft, weit unterhalb der politisch-ökonomischen Systemoberflächen von Diktatur oder Demokratie, Markt- oder Planwirtschaft. Die Autoren bewegen sich im Zeitkorridor zwischen dem späteren 19. und den Anfängen von zweiter Globalisierung und digitaler Revolution im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts - und liefern für diese Zäsurierung der Hochmoderne ein paar überzeugende Argumente mehr. Weiterer Reflexion bedürften manchmal noch die tragenden Begriffe: Wie etwa verhalten sich Theorien zu Selbstbeschreibungen, wie Experimente zu Ordnungsentwürfen? Insinuiert "Experiment" nicht zu viel Planung ex ante und Auswertung ex post, im Labor? Und nach welchen Kriterien rechnet man eigentlich Selbstbeschreibungen ihren Designaten zu?

Augenscheinlich unerwünscht waren im Detail gründelnde Spezialstudien. Die Devise lautete: think big. Das ist dem Unternehmen hoch anzurechnen. Wie aber nimmt sich Europa, nach dem Durchgang durch seine Selbstbeschreibungen, eigentlich aus? Was ist genuin und spezifisch europäisch, was gemein-westlich, was global oder globalisiert? Hier sind und bleiben die Grenzen nach wie vor (und notwendig) fuzzy. Und wie verhält sich eigentlich, so zum Abschluss die ganz große und tiefe Frage, die metaphernbefrachtete fiction der Diskurse zu den facts (in Gestalt testbarer empirischer Hypothesen über eine historische Entität Europa)? Referieren die selfies überhaupt auf eine objektive Realität? Oder sind es eben "nur Bilder"? Einige Beiträge neigen hier zu einem ziemlich starken Sozialkonstruktivismus. Meinetwegen - aber was haben wir dann eigentlich worüber gelernt, wenn wir die Blütenlese der Diskurse in den Botanisiertrommeln der Gelehrten durchmustern? Auch der vorliegende Band hat, wie es aussieht, die fundamentalen wissenschaftstheoretischen Probleme nicht gelöst. Er bietet aber einen anregenden Anlass, darüber auf hohem Niveau weiter nachzudenken.

Christoph Boyer