Rezension über:

Jörg Deuter: Gert Schiff. Von Füssli zu Picasso: Biographie einer Kunsthistoriker-Generation. Einleitung von Werner Hofmann, Weimar: VDG 2014, 316 S., ISBN 978-3-89739-770-5, EUR 38,00
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Rezension von:
Wolfgang Kemp
Leuphana Universität, Lüneburg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Kemp: Rezension von: Jörg Deuter: Gert Schiff. Von Füssli zu Picasso: Biographie einer Kunsthistoriker-Generation. Einleitung von Werner Hofmann, Weimar: VDG 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/07/25613.html


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Jörg Deuter: Gert Schiff. Von Füssli zu Picasso: Biographie einer Kunsthistoriker-Generation

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Die Biografen rücken näher. Was das Fach Kunstgeschichte angeht, so wurden die Gründungsväter Wölfflin, Schmarsow, Riegl noch nicht lebensgeschichtlich bedacht, der noch ältere Burckhardt aber schon, ebenso der Antipode zu den Formalisten, Aby Warburg. Das biografische Wissen über die darauf folgende Alterskohorte ist insofern besser gesichert, als Emigration und Nationalsozialismus den Anlass nicht nur zur Datensicherung, sondern auch zur Aufklärung boten. Manche Vita hat das Zeug zu einer großen Erzählung, Richard Hamanns z.B. Als einer seiner Nachfolger das versäumt zu haben: mea culpa. Ich verweise auch auf die sozialgeschichtlich inspirierte Biografie von Helga Grebing aus dem Jahr 2004: Die Worringers: Bildungsbürgerlichkeit als Lebenssinn. Wilhelm und Marta Worringer (1881 - 1965). Aus der Generation Hamanns und Worringers ragen die Ordinarien der Kunstgeschichte in die Nachkriegszeit hinein. Deren Leben und Werke können noch Zeitzeugen nachvollziehen, aber abgesehen von Sedlmayr wurde nicht viel verschriftlicht. Es gibt eine wenig bekannte autobiografische Skizze, ein kleines Buch von Michael Baxandall, in dem er über seine Erfahrungen im München der 50er-Jahre erzählt (Episodes: A Memory Book 2010). Im letzten Band von Wuttkes monumentaler Ausgabe des Panofsky-Briefwechsels erfahren wir einiges darüber, wie diese Generation und ihre Schüler sich dem "Einstein der Kunstgeschichte" vorstellten. Es war aber ein Außenseiter, Christian Isermeyer, der als erster eine eigene Biografie erhielt, dies jedoch nicht aus fachgeschichtlichen Gründen: In Isermeyer sah und sieht die Schwulenbewegung einen ihrer Vorkämpfer (Andreas Steinweiler: Liebe. Forschung. Lehre: Der Kunsthistoriker Christian Adolf Isermeyer, Berlin 1998). Die Generation, die danach kam, die in den Sechzigerjahren zu Ämtern und Würden gelangte, ist auf den ersten Blick noch nicht "reif" für eine biografische Würdigung, die über das übliche Curriculum Vitae hinausgeht. Hier macht eine Ausnahme das 2010 erschienene Buch von Jürgen Stöhr über zwei Bochumer Größen: über Max Imdahl und Beat Wyss. Dabei handelt es sich freilich nicht um eine Biografie, sondern um eine kritische Lektüre der Hauptwerke und Methoden. Die Generation, die wie Imdahl 1965 auf einen Lehrstuhl gelangte, ist in der Historiografie aber auch deswegen ziemlich kurz gekommen, weil 1968ff. sehr stark von ihr ablenkte, ja sie in den Schatten der historischen Entwicklung stellte. Sie hatte gerade noch sichere, z.T. prominente Positionen erlangt, u.a. deswegen, weil die Fakultäten auch nach 1968 weiterhin zum "Bewährten" griffen, während die 68er, also etwa die Generation Ulmer Verein (um 1945 herum geboren), stellenmäßig eher das Nachsehen hatte. Die einen bekamen die Positionen, die anderen wussten den Zeitgeist auf ihrer Seite. Gegenseitig bestrafte man sich mit Missachtung des jeweiligen Schrifttums. Jetzt werden zum ersten Mal Leben und Werk eines Vertreters dieser Zwischengeneration zum Gegenstand einer umfangreichen Biografie gemacht.

"Mr. Schiff is survived by his mother, who lives in Oldenburg." So endet der Nachruf, den die New York Times am 22. Dezember 1990 dem Professor der Kunstgeschichte an der New York University, Gert Schiff, widmete. Einen Wikipedia-Eintrag hat Schiff nicht - das ist ein typisches Merkmal seiner Generation. Aber auch ohne diese elektronische Memoria ist der 1926 Geborene aus den eingangs genannten Gründen vergessen - und wiederzuentdecken. Das Vergessen scheint so früh eingesetzt zu haben, dass tatsächlich auf seinem Grabstein in Oldenburg die Jahre seiner Geburt und seines Todes falsch angegeben sind. Der Rezensent gesteht, dass er außer einem Freudianisch inspirierten Artikel nie etwas von Schiff gelesen hatte, bevor er zur Biografie und dann zu Schiffs Schriften selbst griff, und dies, obwohl man ihm eine Vernachlässigung der englischen Kunst nicht nachsagen kann. Denn Schiff ist und war der führende Füssli-Forscher. Und in diesen Zusammenhang gehört auch mein einziges Wissen, die Persona Gert Schiff betreffend: dass es im Schweizer Parlament eine Anfrage gab, wie es zu vertreten sei, dass einer 15 Jahre lang vom Schweizer Institut für Kunstwissenschaft gefördert wurde, um ein Buch über einen Schweizer Maler zu schreiben. 1973 erschien Schiffs Hauptwerk, die Monografie und der Œuvre-Katalog Füsslis, nachdem der Autor direkt nach der Promotion 1957 (über Füssli als Zeichner) mit diesem Projekt beauftragt worden war. Der monografische Teil kam methodologisch zu spät: geistesgeschichtlich, ikonografisch orientiert, ließ er das sozialgeschichtliche Potential der Situation in England von ca. 1770 bis 1825 weitgehend unbeachtet. Hätte Schiff es so angelegt wie Frederick Antal in seiner großen Hogarth-Monografie von 1962, wir hätten ihn gelesen. Dass Werner Hofmann Schiff zur Füssli-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle 1975 heranzog, hätte uns ein deutlicher Hinweis auf den Künstler und seinen Monografen sein können. Werner Hofmann hat übrigens ein Vorwort zu dem hier zu besprechenden Band beigesteuert; es ist die erste Publikation, die nach seinem Tod erschien.

Um von vorne zu beginnen: Schiff wurde 1926 in Oldenburg geboren, er nahm seit 1943 am Krieg teil und konnte erst danach sein Abitur ablegen und das Studium beginnen, ab 1951 in Hamburg und dann in Köln, wo er 1957 bei Hans Kaufmann promovierte. Es gibt in dem Buch die schöne Stelle: Drei Studierende im Hauptfach Kunstgeschichte sorgen sich, als ein vierter dazukommt, was aus ihnen werden könne, bei diesem Andrang. Nun, aus Schiff und seinen Kommilitonen, von denen besonders Tilman Buddensieg, Matthias Winner und Detlev Heikamp hervorzuheben sind, wurde "etwas", wobei an Schiffs Vita neben der beruflichen Laufbahn im engeren Sinne die nicht eingeschlagenen, aber möglichen und auf irgendeine Weise weitergepflegten Nebenwege unser Interesse verdienen. Der offizielle Lebenslauf aber verlief so: Direkt nach der Promotion stellte das Schweizerische Institut für Kunstwissenschaft Schiff wie gesagt als Mitarbeiter an, um das Lebenswerk Füsslis zu erforschen. 1964 wurde er zum "Nachkriegsemigranten", als ihn Horst W. Janson ans Institute of Fine Arts in New York holte. Von der beinahe niedrigsten Position dort stieg er Stufe für Stufe hinauf bis zum Stiftungsprofessor und Chairman dieses Instituts. In New York verstarb Gert Schiff im Dezember 1990.

Nach allem, was uns Deuters Biografie aus erster und zweiter Hand wissen lässt, muss Schiff ein Genie der Freundschaft gewesen sein, ein enorm umtriebiger und neugieriger Zeitgenosse, flamboyant, großzügig und verschwenderisch in der Lebensführung. Vermutlich einer, der bis ganz zum Schluss bleibt und dann noch wohin will oder eine neue Grundsatzfrage aufwirft. Mit ziemlicher Sicherheit auch sehr anstrengend. Er hatte nicht umsonst den Mythomanen Füssli zur Lebensaufgabe gewählt, einen Exzentriker, wie er nicht in der Schweiz, sondern nur in England geduldet und gebraucht wurde. Ähnlich Schiff: er war sicher in Manhattan, z.B. im Chelsea Hotel, besser aufgehoben als an einem bundesdeutschen Museum oder Universitätsinstitut. Natürlich hat er in unermüdlicher Kleinarbeit einen umfassenden Werkkatalog des Schweizers zusammengetragen (1826 Katalognummern!), aber er war kein Kenner, kein Zuschreibungsspezialist. Was ihn interessierte, war im Grunde die Bild gewordene Literatur. Schiff war Ikonograf wie eigentlich in seiner Generation jeder, der nicht gerade bei Sedlmayr in die Schule gegangen war. Viele Ikonografen waren hochzufrieden, wenn sie ihre Ovid-Stelle oder Plinius-Passage als Quelle herausgefunden hatten - das sollte aber nicht heißen, dass sie ein genuines Interesse an diesen Schriftstellern pflegten. Die Beziehung zur Quelle kann auch ziemlich trocken sein. Anders Schiff: er war erstens ein Kenner und zweitens ein Liebhaber der englischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, deren Privatmythologien in Bildern zu entschlüsseln keine ganz leichte und bis dato kaum geleistete Aufgabe war. Norbert Miller hat in seiner großen Rezension (Zeit 29. 11. 1974) sehr treffend das Zukunftspotential dieser neuen und oft privaten Ikonografie beschrieben: "Dabei nimmt Füßli, in extremer Pointierung, die allgemeine Kunstauffassung des 19. Jahrhunderts vorweg, wenn er die abgelegensten und disparatesten Sujets dazu benutzt, um in historischer Drapierung die menschlichen Erfahrungen als zeitlos gültig ansichtig zu machen. Verfügbarkeit von Zeit und Raum für ein Theater der Imagination."

Schiff aber übertraf seine wissenschaftlichen Pflichten als Deuter, indem er - meist in Aufsatzform - für das Imaginäre dieser Literatur und Malerei unermüdlich weiter warb. In der Zeitschrift "Du" hatte er einmal eine kleine Serie von Texten dem Thema "Englische Exzentriker" gewidmet, die unter Titeln erschienen wie "Ich bin reich und entschlossen Türme zu bauen" oder "Ich werde den Namen Booth annehmen". Vieles klingt wie Beckett, nur dass Beckett ein Ire war und jeder ihn, aber nur sehr wenige seine englischen Vorläufer kannten. Besagte Texte erschienen 1961, erst acht Jahre später kam in deutscher Übersetzung "Der Herr der Ringe" heraus, und es begann eine neue Welle englischer Mythopoesie, welche die alte, die von Schiff wiederentdeckte, wie ein Altes Testament absorbierte und auf gewisse Weise normalisierte.

Mythen handeln von Gestalten, die Werte verkörpern und ausagieren. Schiffs konzentrierte Aufmerksamkeit galt nicht so sehr den Elfen und Nymphen, sondern den Prinzen und Prinzessinnen der Finsternis und ihrer Gefolgschaft. Als er in der großen Hamburger Ausstellung Füssli zusammen mit Werner Hofmann präsentierte, war sein einführender Essay im Katalog überschrieben mit: "Füssli, Luzifer und die Medusa" - das klingt für den Laien vielleicht wie die Aufzählung von drei und nicht zwei Einträgen im Wörterbuch der Dämonologie. Schiffs Kanon war ein sehr spezieller: der zweite Mythomane, den er neben Füssli gelten ließ, war der notorische "Schwarzmaler" Beckmann, dem er eine Ausstellung seiner Triptychen widmete, danach kam als nächster Picasso. Dass William Beckford, William Blake, Gustave Moreau, James Ensor von ihm in Artikeln und Ausstellungen gewürdigt wurden, versteht sich beinahe von selbst. Die erste und die "zweite Romantik" (Mario Praz) versammelte er im Zeichen von Dr. Mabuse und Dr. Freud. Über sein Bett hängte Schiff einen "Danse macabre" des eher ruhmlosen Füssli-Schülers Theodor Matthias von Holst. Aber Schiff bestückte sein Kabinett der Esthétique noire auch mit zu seiner Zeit unbekannten Zeitgenossen wie Robert Mapplethorpe und Patty Smith - "ein ideales Ambiente für eine schwarze Messe", schreibt er nach seinem Besuch bei den beiden -, und er entdeckte Kleinmeister des Grauens wie den bis heute völlig zu Unrecht vergessenen Rudolf Charles von Ripper, dessen Anti-Hitler-Zyklus "Ecraser l'infame" (1938) Schiff zuerst publizierte. Wäre Schiff nicht nach New York, sondern nach Los Angeles gezogen, man könnte sicher sein, dass er dort einen Regisseur für das übervolle Leben dieses österreichischen Adligen begeistert hätte. Fremdenlegionär, Agent provocateur, Nazigefangener und Nazijäger, Spanienkämpfer und US-Soldat und vielleicht CIA-Mitarbeiter - von Ripper hatte nichts ausgelassen und nebenher auch noch als Künstler gearbeitet.

Dem Symbolisten Gustave Moreau widmete Schiff seine erste psychoanalytisch gestützte Betrachtung, ein Ansatz, den er nach Aussage eines Briefes schon 1958 auf Füssli hatte anwenden wollen, aber der Monografie doch weitgehend vorenthielt. Diese "exzentrisch coiffierten, lasziven Damen" Füsslis, Schiff meint die berüchtigten Kurtisanenbilder, "die einen vier-fünfjährigen Knaben kastrieren", könnten "eine infantile Projektion" sein, schreibt der frühe Schiff, "ein pathologischer Tagtraum", wohingegen der etwas spätere Schiff "in der Androgynie der Moreauschen Idealfiguren den Ausdruck einer zumindest latenten Homosexualität" entdeckte. Diese Deutung, 1965 in "Du" vorgetragen, war schon in New York geschrieben worden, der Stadt mit der höchsten "Shrink"-Dichte weltweit. Schiff traf mit solchen Analysen sicher auf mehr Zustimmungen bei einer abendlichen Runde als im Kollegenkreis, was ihn aber in seiner Rolle als Mann zwischen den Welten durchaus bestätigte. Zu entscheiden ist da wie in den meisten Fällen einer Analyse ohne Couch nichts, gerade im Fall Moreaus nicht, der sich biografisch im Sinne Schiffs nicht untermauern lässt. Deuter hält sich ebenfalls bedeckt und verweist auf Schiffs bleibende Leistung als Entschlüssler schwierigster ikonografischer Rätsel. Schiff hat darüber hinaus den Verdienst, dem heute inflationären Interesse der Geisteswissenschaften an Gewalt und Emotionen um viele Jahrzehnte vorgearbeitet zu haben, als er z.B. 1977 den Band "Images of Horror and Phantasy" herausbrachte. Heißt das nun Sado-Maso oder Exorzismus oder wie so oft: beides? Deuter hält sich auch hier völlig zurück und streift Schiffs Homosexualität mehr indirekt. Er listet in der ansonsten sehr sorgfältig erarbeiteten Bibliografie den gewissermaßen schwulsten Text Schiffs nicht auf, den Aufsatz, den er über den Alinari der Homosexuellen, Wilhelm von Gloeden, in "Print Collector's Newsletter" IX, 1979 publizierte (Titel: The Sun of Taormina). Es ist sehr bezeichnend, wie man damals mit dem Thema umging und Homosexualität nicht eigentlich mehr leugnete, sondern quasi für eine nationale Konstante des italienischen Mannes, aller Italiener, nicht einer bestimmten Art, erklärte. "Every young Italian male is more or less overly in love with his own body, its beauty and virility." Schiff hatte in Hamburg u.a. bei dem schon erwähnten Christian Isermeyer studiert, den Deuter als prägende Gestalt aufführt, dies aber nur im Anhang und ohne nähere Begründung. Isermeyer war seit Anfang der Sechzigerjahre aktiv in der Bewegung zur Abschaffung des Paragraphen 175 engagiert. In der Kunstgeschichte hat er keine bleibenden Spuren hinterlassen, aber als Freund zeitgenössischer Künstler und als Sammler sowie als jemand, der seine Homosexualität, soweit dies nach 1945 möglich war, bewusst und offen lebte, dürfte er ein role model für den Lebensstil Schiffs gewesen sein.

Schiff war bei weitem nicht der einzige homosexuelle Wissenschaftler, der sich in der Schwarzen Romantik, der ersten und der zweiten, wiedererkannte. Aber er hat für den Gegenstand seiner Wahl wirklich hart gearbeitet, da ist Deuter völlig recht zu geben. "Ensor, the exorcist" ist einer von Schiffs Aufsätzen betitelt - wenn also Exorzismus, dann einer, der Lust am Weitermachen bedeutet. Sándor Ferenczi, Freuds Freund und Analytiker, hatte den Objektbezug des Wiederholungszwangs herausgearbeitet und als dessen eigentliches Ziel das "Wunder der Verwandlung" interpretiert, der Verwandlung von Angst in Faszination, von Unlust in Lust und von Zufall in Dauer.

Schiff war Deuter zufolge auf dreifache Weise Außenseiter: in der Nazizeit als Vierteljude, später als Homosexueller und als Emigrant. Diese Grundstellung konnte (musste nicht) ihn dazu bewegen, einem Außenseiter in der Geschichte der Malerei seinen ihm gebührenden Platz zu verschaffen. Sie hat ihn aber auf jeden Fall in die Gesellschaft anderer Außenseiter geführt. Und hier kommen wir zu den Kapiteln, die das Buch über fachgeschichtliche Belange hinaus so besonders lesenswert machen und die der Kunsthistoriker Deuter mit gleicher Hingabe erforscht hat. Hingabe ist das richtige Wort: Man muss sich bitte nicht daran stören, dass hier ein Oldenburger über einen von ihm verehrten und ihm auch persönlich bekannten Oldenburger schreibt: wir sprechen von einer Lebensgeschichte, und da ist erstmal wichtig, dass die Geschichte gut ist. Es sind faszinierende Gestalten, die Schiff für sich entdeckt hat, Gestalten, die vielleicht einem etwas sagen, der in den Sechzigerjahren am Nachtprogramm deutscher Rundfunkanstalten teilnahm. Da ist der schon erwähnte Herr von Ripper (Name weder von der Redaktion, noch vom Autor geändert) und vor allem seine Frau Mopsa von Sternheim (hier gilt das Gleiche), und da sind Armin T. Wegner und seine Frau Irene, er ein Mann, der wie Ripper keine Front versäumte. Die Menschenrechte und der Pazifismus waren das große Thema des expressionistischen Dichters und Reiseschriftstellers, des vielleicht wichtigsten Gewährsmannes der Verbrechen am Armenischen Volk. Im April 1933 warnte er Hitler in einem Brief vor den Folgen seiner antisemitischen Politik: "die Schmach und das Unglück aber, die Deutschland dadurch zuteil wurden, werden für lange Zeit nicht vergessen sein", prophezeit Wegner und datierte diesen Tiefpunkt der Achtung Deutschlands in jene Zeit, "wenn einmal die Städte zertrümmert liegen, die Geschlechter verbluteten". Nach Folter und Inhaftierung in drei Konzentrationslagern emigrierte Wegner und konnte in Italien Unterschlupf finden. Dort begegnete ihm Schiff Anfang der Fünfzigerjahre und wuchs auf gewisse Weise in dem folgenden Vierteljahrhundert vom Mündel zum Vormund heran: Vormund im Sinne eines Künders und Wahrers des schnell verblassenden Ruhms des Freundes und im Sinne eines ewigen Mahners: es galt, Wegner sein letztes, sein großes Alterswerk abzuverlangen, den Roman "Die Mühlen Gottes". Er blieb Fragment, das umfangreiche Manuskript bis heute unveröffentlicht.

Zu solchen und ähnlichen Geschichten führt, verführt uns diese Vita. Man könnte angeregt und zu neuen Quellen greifend, endlos weitererzählen. Aber eine dem Rezensenten ebenfalls unbekannte Aktivität Schiffs sei noch herausgestellt. Ich habe im Merkur 1, 2012 einmal kurz zu skizzieren versucht, wie sich das Verhältnis der bundesdeutschen Universitätskunstgeschichte zur Gegenwartskunst entwickelt hat. Mir war nicht gegenwärtig, dass Schiff sich noch in seiner Studentenzeit als Kunstkritiker betätigte: wie immer ungefragt, sicher nicht karriereförderlich, aber enorm soziabel. Es sieht so aus, als habe er den internationalen Kunstkritikerkongressen häufiger beigewohnt, als sich in Ausstellungen ein Bild über die Kunstszene zu verschaffen. Arnold Bode jedoch hatte wohl vor, ihn zu seinem Sekretär zu machen, als er die erste Documenta organisierte.

Wir wünschen uns mehr solche Bücher. Wo aber kommen die lohnenden Lebensläufe her? Füssli sagt im achtzehnten seiner "Aphorismen über die Kunst": "Jeder Künstler hat oder müsste einen eigenen Charakter oder ein eigenes System haben." Das wäre die Voraussetzung auch für den vitenfähigen Kunsthistoriker. Eine Fortsetzung könnte z.B. dem Manne gelten, der die Einleitung zu diesem Band verfasste. Nur ein Vorschlag.

Wolfgang Kemp