Rezension über:

Elisabeth Zellmer: Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus in den 1970er Jahren in München (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 85), München: Oldenbourg 2011, VIII + 294 S., ISBN 978-3-486-70254-5, EUR 39,80
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Rezension von:
Marianne Zepp
Tel Aviv
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Marianne Zepp: Rezension von: Elisabeth Zellmer: Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus in den 1970er Jahren in München, München: Oldenbourg 2011, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 9 [15.09.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/09/19778.html


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Elisabeth Zellmer: Töchter der Revolte?

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Als im Jahre 2008 nach 40 Jahren ein Deutungskrieg über die Protestbewegungen Ende der 60er Jahre in der Bundesrepublik ausbrach, war diese hauptsächlich medial inszenierte Auseinandersetzung dadurch gekennzeichnet, dass die Beteiligten selbst die Deuter waren, die ihre eigene Geschichte reinszenierten. Die Kontrahenten, die in der Zwischenzeit kommunikative Schlüsselstellungen innehatten und damit die Ressource medialer Öffentlichkeit ausgiebig nutzen konnten, führten diesen Deutungsstreit entlang der gleichen Parameter (Demokratiefähigkeit und vergangenheitspolitischen Umgang mit dem Nationalsozialismus), wie sie die außerparlamentarische Revolte Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre gekennzeichnet hatten. Die Kategorie Geschlecht, deren Wirkmäßigkeitsanalyse zumindest bei der Frage nach den aus der Revolte hervorgegangenen Egalitätsansprüchen nahegelegen hätte, blieb in dieser Debatte unberücksichtigt. Die Historiographie dieser Zeitepoche (Conze, Wehler, Wolfrum) wiederum zitiert die Frauenbewegung als ein wichtiges Indiz der Liberalisierung, ohne in der Regel auf ihre Besonderheiten einzugehen.

Die 2011 erschienene Dissertation von Elisabeth Zellmer antwortet auf zwei Desiderate: einmal widmet sie sich dieser in der bisherigen Forschungslandschaft vernachlässigten feministischen Bewegung, stellt damit einen Beitrag zu deren Historisierung dar, und zweitens stellt sie in ihrer Regionalstudie zur Münchener Frauenbewegung einen regionalgeschichtlichen Ansatz vor, der detailliert und auf einer großen Quellenbasis beruhend, exemplarisch das Spannungsverhältnis von Strukturen und Akteurshandeln untersucht. Der Autorin gelingt es dabei, das sei bereits vorweg genommen, Zeitzeugenaussagen geschickt zu nutzen, um die Motive der Handelnden plastisch herauszuarbeiten.

Mit München rückt in dieser Studie eine Stadt in den Mittelpunkt, die bisher in den Darstellungen der Proteste vernachlässigt wurde. München hatte die größte Universität der damaligen Bundesrepublik und damit ein potentielles Protestmilieu und im Gegensatz zu dem geteilten insulären Berlin kann sie eher typisch für die Bundesrepublik angesehen werden. Gleichzeitig rückt mit diesem lokalen Ansatz die Kommune als Ort politischer Gestaltung in den Mittelpunkt.

In fünf Kapiteln rekonstruiert Zellmer die Entstehung einer feministischen Bewegung, die von den Anfängen innerhalb marxistischer Gruppen über Kinderläden, Betriebsgruppen und Kommunen bis zur Gründung autonomer Projekte. wie Buchläden, Gesundheitszentren und Kulturprojekten führte und schließlich innerhalb einer sich als autonom selbstbeschreibender Bewegung nicht nur einen neuen weiblichen Lebensstil schuf, sondern die Autorin fragt auch, wie es gelang, dass dieses Engagement seinen Niederschlag in der Gleichstellungspolitik der 80er Jahre fand.

In ihrer Einleitung verweist sie auf das Desiderat einer Historisierung der Frauenbewegung dieser Epoche, die trotz einer Reihe von zeitgenössischen Darstellungen und von theoretischen Ansätzen bisher noch in den Anfängen steckt. Die Arbeit ist im Rahmen eines Forschungsprojektes am Institut für Zeitgeschichte entstanden, das nach dem Zusammenhang von Protestbewegungen der 60er und 70er Jahre und längerfristigen gesellschaftlichen Wandlungen und politischen Reformen fragt. Sie greift das in der Forschung breit vertretene Erfolgsnarrativ auf, das besonders für die Frauenbewegung gelte, das diese das Geschlechterverhältnis nachhaltig verändert habe. Dabei erhebt sie den Anspruch, das Agieren der Protagonistinnen in den Kontext anderer gesellschaftlicher Faktoren wie die Bildungsexpansion der 60er Jahre oder die massenhafte Verbreitung der Pille zu stellen und fragt nach der Beschleunigung gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen des Geschlechterverhältnisses durch die feministische Bewegung.

Das erste Kapitel ist den 60er Jahren gewidmet. Hier beschränkt sich die Autorin darauf, die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu referieren. In einzelnen Schritten stellt die Autorin dar, wie z. B. durch den Frauenbericht der Bundesregierung 1966 einem veränderten Geschlechterrollenkonzept Rechnung getragen wurde und Frauen als eine soziale Gruppe wahrgenommen und konstruiert wurden. Anhand der Parameter von Erziehungsmodellen, Bildungsoffensive, Arbeitsmarktpolitik beschreibt Zellmer die gesellschaftspolitischen Impulse, die eine Erweiterung der Geschlechterrollen vorbereiteten.

Bei der Überblicksdarstellung von politischem Handeln von Frauen im 20. Jhdt., die sich anschließt und im fünften Kapitel wieder aufgegriffen wird, wäre in diesem Zusammenhang eine dem Forschungsstand entsprechende Einordnung der Nachkriegsfrauenbewegung während der Besatzungszeit und der frühen Bundesrepublik hilfreich gewesen, die als Beispiel für frauenpolitisches Handeln im kommunalen Raum beispielhaft gelten kann und die für München in der Zwischenzeit gut bearbeitet ist. So lässt sich der im letzten Kapitel ausführlich dargestellte Konflikt zwischen beispielsweise dem Stadtbund Münchner Frauenverbände, dem Deutschen Staatsbürgerinnenverband und Projekten der autonomen Bewegung wie Kofra (Kommunikationszentrum für Frauen und Arbeit) nicht nur als ein Generationenkonflikt beschreiben, er beruht, wie die Autorin ausführlich darstellt, auf dem Selbstverständnis der etablierten Frauenverbände als staatstragend und der Positionierung der Neuen Frauenbewegung als außerinstitutionelle Bewegung. Allerdings ist der von Zellmer benutzte Begriff der "bürgerlichen Frauenbewegung", den die Autorin zur historischen Genese der etablierten, staatsnahen Vereine benutzt, zumindest unpräzise. Vielmehr bildete sich zu Beginn der 50er Jahre im Kontext des Kalten Krieges ein dezidiert an staatlicher Teilhabe orientiertes Handeln der damaligen Frauengruppen heraus. Dem gegenüber nahmen die Frauen der Neuen Frauenbewegung den Geschlechtergegensatz als Ausgangspunkt ihres politischen Handelns.

Bei der im zweiten Kapitel dargestellte "Politisierung des Privaten" beschreibt Zellmer die Ambivalenz, die sich für die an den Studentenprotesten beteiligten Frauen darstellte. Zellmer stellt die beiden Deutungsansätze dar, einmal war der Wandel der Lebensstile und die zunehmende Liberalisierung für Frauen eine Chance der Befreiung, während die Zeitzeuginnen immer wieder darauf hinweisen. dass den Frauen ihre nachgeordnete Rolle in den männerdominierten Gruppen deutlich wurde. Sie analysiert daraus in überzeugender Weise die Entstehung eines weiblichen Gruppenbewusstseins als Voraussetzung für soziales und politisches Handeln.

Dass die Protestbewegungen in starkem Maße ihre Impulse aus individuellen Erfahrungen schöpften, sie sich aus Emotionalisierung und "Betroffenheit" speisten und alternative Lebensentwürfe und -stile propagierten, dem widmen sich neuere Historisierungsansätzen (Sven Reichardt, Authenzität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Berlin 2014). Dass die feministische Bewegung durch ihre Provokation, Privatheit und damit soziale Lebensbedingungen mit öffentlicher Politik zu verknüpfen, eine Vorreiterrolle spielte und sie die Grenzen von Privatheit und Öffentlichkeit grundsätzlich neu vermaß, das weist Zellmer überzeugend nach: Sie stellt dies anhand der Gruppen gegen häusliche Gewalt und an der Aktion Lohn für Hausarbeit dar und zeigt gleichzeitig an mehreren Beispielen, wie Ende der 70er Jahre die außerinstitutionellen Gruppen nachhaltig Einfluss auf die Gesetzgebung nahmen und sich damit den Positionen der etablierten Frauengruppen annäherten. Die vorliegende Studie illustriert damit auf anschauliche Weise, wie Akteurshandeln im Kontext sozialen Wandelns politisch wirksam werden konnte.

Leider vernachlässigt die Autorin die internationale Dimension der Frauenbewegung. Nicht nur der Einfluss von Lektüren wäre hier aufzuspüren, sondern auch die Rolle von persönlichen Begegnungen und Netzwerken wie Martin Klimke das für die Studentenbewegung überzeugend analysiert hat. [1] Auch differenziert Zellmer nicht immer sehr präzise zwischen zeitgenössischer Darstellung, Selbstdeutung der Zeitzeuginnen und neueren Historisierungsansätzen. Eine thesenhafte Zusammenfassung am Ende jeden Kapitels wäre hilfreich gewesen.

Letzteres steht jedoch einem insgesamt positiven Urteil nicht im Wege.


Anmerkung:

[1] Martin Klimke: The Other Alliance. Student Protest in West Germany & the United States in the Global Sixties, Princeton 2010.

Marianne Zepp