Rezension über:

Daniel Menning: Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840-1945 (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 42), München: Oldenbourg 2014, 469 S., ISBN 978-3-486-78143-4, EUR 59,95
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Rezension von:
Manfred Hanisch
Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Manfred Hanisch: Rezension von: Daniel Menning: Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840-1945, München: Oldenbourg 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11 [15.11.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/11/25586.html


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Daniel Menning: Standesgemäße Ordnung in der Moderne

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Der Titel trifft den Inhalt des Buches ziemlich genau, nur kann mit ihm selbst der Historiker vom Fach zunächst nur wenig verbinden. Es geht um die Selbst- und Fremdpositionierung des Adels in den ereignisreichen Jahren von 1840 bis 1945. Da wurde der Platz immer enger für privilegierte Geburtsstände aus vormodernen Zeiten. Alle drei Leitfragen der Arbeit beziehen sich auf diese Problematik (20):

1. Der Adelsstand konnte nur so lange existieren, wie Vorstellungen in einer Gesellschaft vorhanden waren, die trotz zunehmender staatsbürgerlicher Nivellierung und Klassenorientierung, trotz Liberalismus und Sozialismus an einem konservativen Konzept einer wie auch immer in Stände gegliederten Gesellschaft festhielten. 2. Die Konzepte einer nach Stände gegliederten Gesellschaft variierten im Untersuchungszeitraum vom Zeitalter der Restauration des Althergebrachten über Kaiserreich und Weimarer Republik bis zur führerorientierten Volksgemeinschaft im 'Dritten Reich' beträchtlich. Wie sich der Adel mit den Tendenzen der jeweiligen Zeit auseinandersetzte, sie elastisch aufgriff, sich anpasste und eben nicht an überkommenen geburtsständisch verankerten alten Rechten und Privilegien festhielt: Das ist die zweite Leitfrage. Die dritte Leitfrage beschäftigt sich mit dem Akteurshandeln, im Genaueren, wie der Adel in Vereinigungen, aber auch als Einzelindividuum trotz allen Wandels versucht, 'oben' zu bleiben.

Dazu musste sich der Adel neu definieren. Berufsständisch konnte er sich nicht definieren. Dazu war er immer schon viel zu inhomogen. Denn oft umspannte ein und dieselbe Adelsfamilie Großgrundbesitzer und ihre verarmten Vettern. Vier Elemente kennzeichneten nach dem Verfasser die als Antwort auf den gesellschaftlichen Wandel neu entwickelte Adelsdefinition: "Adlige hatten erstens besonders tugendhaft zu sein. In dieser Rolle sollten sie zweitens Tugendvorbilder in der Gesellschaft sein. Drittens würde diese Tugendhaftigkeit und -vorbildlichkeit dem Adel die Anerkennung als Anführer einbringen. Schließlich hatte sich der Adlige viertens durch seine Arbeit für das Allgemeinwohl auszuzeichnen, wobei dies am ehesten im Staatsdienst und als Rittergutsbesitzer möglich schien." (407). Diese Neudefinition war zwar regionenübergreifend und sie umspannte den gesamten Zeitraum von 1840 bis 1945; sie war aber reichlich formal. Denn was heißt schon "Tugend"? Die Wertebezugspunkte konnten dehnbar und miteinander begrifflich unscharf verwoben die Religion, die Nation, die Rasse sein, Loyalitätsbezugspunkte ebenso dehnbar der Fürst, das Volk, der Führer.

Die Folgen waren dementsprechend variantenreich. Der Adel konnte einmal loyal und ein anderes Mal in Opposition zum Monarchen stehen, wenn es um ein (wie auch immer definiertes) Allgemeinwohl ging. Und er konnte auch loyal 1933/34 und in Opposition zum Führer am 20. Juli 1944 stehen. Nach 1945 hatte der Adel seine gesellschaftliche Rolle endgültig ausgespielt. Die Hinrichtungen im Gefolge des 20. Juli, der hohe Blutzoll an der Front, an der sich manch adeliger Offizier als militärisches Vorbild hervortat und fiel, dann Flucht und Vertreibung im deutschen Osten, Enteignung in der DDR und in der Bundesrepublik die nivellierte Mittelstandsgesellschaft mit sozialer Marktwirtschaft und Massendemokratie: All diese Vorgänge bedeuteten das Ende des Adels als einer besonderen Gruppe mit gesellschaftlichem Führungsanspruch.

Soweit der Rahmen der Arbeit, zu der der Verfasser viele Quellen aus allgemeinen und Adelsarchiven ausgewertet und immense Studien zeitgenössischer Literatur betrieben hat. Dazu kommt noch eine vollständige und differenziert reflektierte Rezeption der gar nicht so wenigen Forschungen zum Adel im 19. und 20. Jahrhundert. Auch viele nicht genuin politisch-historische Quellen werden herangezogen. So nur beispielsweise der heute im Gegensatz zum 19. Jahrhundert wenig beachtete Theoretiker eines konservativen Ständestaatsmodells Wilhelm Heinrich Riehl oder die Papst-Enzyklika "Quadragesimo anno" Pius' XI. (1931) mit ihren sehr deutlichen demokratiefernen, ständestaatlichen Anklängen.

Das gewaltige Pensum war nur zu bewältigen durch Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes. Im Wesentlichen werden nur der "nordostdeutsche Adel" (die preußischen Junker) und die ehemaligen Reichsritterfamilien Südwestdeutschlands untersucht. Dass die Reichsritterfamilien Südwestdeutschlands ausgewählt wurden, hat wohl nur den nicht genannten Grund, dass der Verfasser mit dieser Arbeit an der Tübinger Universität promoviert wurde, die ihm 2013 ihren Universitätspreis verliehen hat. Eine genauere Begründung dieser Auswahl, die übrigens nicht stringent eingehalten wird, fehlt indes. Doch dieses Monitum schmälert mitnichten den wissenschaftlichen Wert der Arbeit. Alle Regionen zu berücksichtigen würde die Arbeitskraft eines jeden, noch so talentierten und engagierten Doktoranden überfordern.

Der wissenschaftliche Ertrag ist beträchtlich. Menning wird ein Referenzwerk aller zukünftigen Arbeiten über den Adel des 19. und 20. Jahrhunderts werden. Er untersucht organisationssoziologisch den Adel (Familienverbände und Adelsvereinigungen), geht den strukturellen Veränderungen der Güterverfassung nach: Stammgüter, Fideikommisse, Kondominate, schließlich Individualbesitz mit dem spannungsreichen Verhältnis zu den armen Verwandten gleichen Namens, die es unter den Hut gemeinsamer Adelspolitik zu bringen galt. Umfangreiche ideen- und politikgeschichtliche Analysen sind eingearbeitet: Und nicht zuletzt wird eine Fülle einzelindividueller Zeugnisse mit einem Hang zur Erzählung ausgebreitet, eben der Ertrag der intensiven Archivstudien. Methodisch gesehen ein eher ungewöhnlicher, aber gelungener Mix, insbesondere für jemanden, der am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere steht.

Die Arbeit ist nicht nur eine Arbeit über die Probleme des Adels in immer moderner werdenden Zeiten. Der Adel ist bis 1945 eine überaus wichtige Gruppe im konservativen Politikspektrum - und Mennings Dissertation damit gleichzeitig ein wichtiger Baustein zur Erforschung des Konservativismus in Deutschland. Das ist vielleicht ihr größter Wert. Alles in allem ergibt sich ein ungemein facettenreiches, wissenschaftlich differenziertes Bild über den Adel, in dem von vielen Brüchen gekennzeichneten Deutschland von 1840 bis 1945, wie seine Rolle gesehen wurde, wie er sich selbst sah, und wie er sehr elastisch agierte, um 'oben' zu bleiben, getreu dem selbst gewählten, oft nicht eingehaltenen, sehr, wirklich sehr wandelbaren Grundsatz "Adel verpflichtet".

Manfred Hanisch