Rezension über:

Tobias Kämpf: Das Revaler Ratsurteilsbuch. Grundsätze und Regeln des Prozessverfahrens in der frühneuzeitlichen Hansestadt (= Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte. Neue Folge; Bd. 66), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 253 S., 2 s/w-Ktn., ISBN 978-3-412-20964-3, EUR 34,90
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Rezension von:
Hiram Kümper
Historisches Institut, Universität Mannheim
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Hiram Kümper: Rezension von: Tobias Kämpf: Das Revaler Ratsurteilsbuch. Grundsätze und Regeln des Prozessverfahrens in der frühneuzeitlichen Hansestadt, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 1 [15.01.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/01/25373.html


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Tobias Kämpf: Das Revaler Ratsurteilsbuch

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In seiner Frankfurter juristischen Dissertation vom Wintersemester 2010/11 setzt sich Tobias Kämpf mit den "Grundsätzen und Regeln" des Zivilprozesses vor dem Ratsgericht der Stadt Reval (heute Tallinn, Estland) in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auseinander. Als Grundlage dient ihm dazu eine bereits 1952 von Wilhelm Ebel edierte, nach Auslagerungen im Zweiten Weltkrieg heute wieder im Stadtarchiv Tallinn befindliche Handschrift [1], von der Kämpf regelmäßig als "die" bzw. "unsere Quelle" spricht.

Hinter diesem etwas proseminaristisch anmutenden Quellenbegriff steht in der Tat eine vollkommen auf die besagte Ratsurteilssammlung beschränkte, gleichsam textimmanente Analyse. Daneben wird Spezialliteratur in überschaubarem Maße und werden weitere Quellen praktisch überhaupt nicht berücksichtigt. Die zwischen 1966 und 1975 von Roland Seeberg-Elverfeldt herausgegeben "Revaler Regesten" werden zwar kurz erwähnt, aber von einigen allgemeinen Eindrücken zur Nachlasspraxis (65f.) offenbar nicht weiter genutzt. Die schon 1885 von Eugen von Nottbeck edierten alten Schragen bleiben gänzlich unbeachtet. Mit dem zwar im Quellenverzeichnis angegebenen, aber nicht ersichtlich genutzten Revaler Bürgerbuch der Jahre 1409-1624 [2] und dem von Torsten Derrik edierten Bruderschaftsbuch der Revaler Tafelgilde [3] hätten mit überschaubarem Aufwand noch deutlich mehr "beteiligte[.] Personen konkretere Gestalt annehmen" (14) können als durch die in diesem Zusammenhang angekündigte, aber dann nur äußerst punktuell durchgeführte Arbeit mit den Seeberg-Elverfeldt'schen Regesten. Solche - und vermutlich noch weitere - Auswertungen des Revaler Quellenmaterials sind Kämpf regelmäßig durchgegangen oder werden zumindest nicht beachtet. Dagegen sind - allerdings auch nur an wenigen Stellen - rechtsvergleichende Beobachtungen zum Lübischen Recht eingestreut, die im Wesentlichen auf den Arbeiten von Wilhelm Ebel [4] und Andreas Ludwig Michelsen [5] fußen. Zentrale Referenzpunkte der systematisierenden Auseinandersetzung mit den Revaler Ratsurteilen bleiben vielmehr klassische Synthesen und Handbücher der Prozessrechtsgeschichte, wie etwa die Arbeiten von Planck und Schlosser. Gegen deren verallgemeinernde, gleichsam kanonisierte Folie wird nun die konkrete Situation im Reval des 16. Jahrhunderts gehalten.

Dieses Vorgehen hat natürlich bei allen Vorbehalten, die insbesondere Historiker dagegen erheben dürften, auch seine Triftigkeit: Es wirkt stark systematisierend und schafft Vergleichbarkeiten, d.h. Anschlussfähigkeit für weitere Studien. Und hier ist in der Tat einer der großen Vorzüge dieser Studie zu sehen. Kämpf gelingt es sehr klar und gut strukturiert, die Verfahrensgrundsätze des Revaler Ratsgerichts aus dessen Urteilspraxis heraus zu rekonstruieren und in die kanonisierten Kategorien der germanistischen Rechtsgeschichte einzupassen. Damit gibt er Material für vergleichende Aussagen an die Hand, die er selbst nicht mehr trifft, aber durchaus schon länger in der Forschung - etwa durch Wilhelm Ebel, Friedrich Ebel oder Jürgen Weitzel - ventiliert wurden, die schon länger über den lübischen Rechtszug und seine lokalen Besonderheiten stritten. Einige dieser Debatten benennt Kämpf auch selbst.

So bleibt ein zwiegespaltenes Bild von dieser Arbeit: In ihrem selbstgewählten Kern, der systematischen Aufarbeitung des Rechtsganges nach dem Revaler Ratsurteilsbuchs, liefert sie eine solide Darlegung, die das Material anschlussfähig für andere Studien macht. Sobald es von der Ebene der Rekonstruktion zur Deutung geht, wackelt es dann aber manchmal, weil die historische Kontextualisierung allzu knapp ausfällt. In ihrer Einbettung in die Revaler Stadtgeschichte und im immerhin im Untertitel und Wahl der Publikationsreihe aufgeworfenen Bezug zur hansischen Geschichte bleibt das Buch leider oft oberflächlich, weil vieles - größtenteils wohl auch bewusst - ausgeklammert wird. Die Anschlussmöglichkeiten, für die Kämpf hier Material aufbietet, müssten also erst andere durchaus noch einmal aufnehmen.


Anmerkungen:

[1] Die genaue Signatur lautet (im Gegensatz zu der verkürzten bei Kämpf, 13): Tallinn, Stadtarchiv, Best. 230, Verz. 1, Nr. Aa 16. Wilhelm Ebel (Hg.): Das Revaler Ratsurteilsbuch (register van affsproken), 1515-1554, Göttingen 1952.

[2] Otto Greifenhagen (Hg.): Das Revaler Bürgerbuch (1409-1624) (Publikationen aus dem Revaler Stadtarchiv, 6), Reval 1932.

[3] Torsten Derrik: Das Bruderschaftsbuch der Revaler Tafelgilde (1364-1549), Marburg 2000. Derrik macht seinerseits in hohem Maße Gebrauch vom Ratsurteilsbuch. Insofern hätte er zumindest eine Erwähnung im Kapitel "§ 2 Die Quelle in der Literatur" (12-14) verdient.

[4] Wilhelm Ebel: Lübisches Recht, Bd. 1 [mehr nicht erschienen], Lübeck 1971 und ders. (Hg.): Lübecker Ratsurteile, 4 Bde., Göttingen 1955-1967.

[5] Andreas Ludwig Michelsen: Der ehemalige Oberhof zu Lübeck und seine Rechtssprüche, Altona 1839.

Hiram Kümper