Rezension über:

Dana Sajdi: The Barber of Damascus. Nouveau Literacy in the Eighteenth-Century Ottoman Levant, Stanford, CA: Stanford University Press 2013, XV + 293 S., ISBN 978-0-8047-8532-7, USD 60,00
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Rezension von:
Stephan Conermann
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Tilmann Kulke
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Conermann: Rezension von: Dana Sajdi: The Barber of Damascus. Nouveau Literacy in the Eighteenth-Century Ottoman Levant, Stanford, CA: Stanford University Press 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 1 [15.01.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/01/26706.html


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Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 15 (2015), Nr. 1

Dana Sajdi: The Barber of Damascus

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Dana Sajdi widmet sich in ihrem Buch, eine stark überarbeitete Fassung ihrer Promotionsschrift aus dem Jahre 2002, einem hochinteressanten autobiographischen Text aus dem 18. Jahrhundert. Es handelt sich um die persönliche Chronik "Hawadith Dimashq ash-Sham al-yawmiyya min sanat 1154 ila sanat 1176" ("Tagesberichte über Damaskus von 1741 bis 1762") eines aus Damaskus stammenden Barbiers namens Shihab ad-Din Ahmad Ibn Budayr (starb nach 1762). Die gängigen Editionen des Textes basieren allerdings nicht auf der Originalfassung, sondern auf einer am Ende des 19. Jahrhunderts von einem syrischen Gelehrten "bereinigte" und "sprachlich verbesserte" Version. Dana Sajdi konnte aber zum Glück in der Chester Beatty Library in Dublin eine Handschrift des ursprünglichen Textes ausfindig machen, die sie in ihrem Buch in erster Linie benutzt und auswertet.

Im Mittelpunkt der vormodernen Chronik stehen das Leben und die Arbeit des Autors, seine Ängste, Sorgen und Hoffnungen. Ibn Budayrs Einstellungen zum Leben wie auch zur Religion muten insgesamt etwas konservativ an. Er kommt als durchaus typischer Mann aus den unteren Schichten der Gesellschaft daher, der auf die Administration und die Herrschaftsrepräsentanten ebenso schimpft wie auf den unverdienten Reichtum einer kleinen Gruppe von Glücklichen. Der Stil, den er in seinem Journal verwendet, kann man wohl am besten als eine Mischung aus Standard- und Umgangssprache bezeichnen. Was das Genre angeht, so ist sich der Barbier sehr wohl des experimentellen Charakters seines Textes bewusst. Er führt gezielt ungewohnte Themen und Personenkreise ein, so dass er die Möglichkeit hat, die bestehenden Verhältnisse aus einer neuen Perspektive zu kritisieren. In ihrem vierten Kapitel ("Authority and History: The Genealogy of the Eighteenth-Century Levantine Contemporary Chronicle", 115-144) zeichnet Dana Sajdi sehr einleuchtend die historischen Wege innerhalb des im weitesten Sinne historiographisch zu nennenden Schrifttums ab, das seit der Eroberung Syriens und Ägyptens durch die Osmanen zu Beginn des 16. Jahrhunderts produziert worden ist. Eine Popularisierung ist als Trend ebenso zu erkennen wie ein zunehmendes Interesse an alltäglichen Dingen. Hinzu kommt eine neue Form des auktorialen Ichs, das sich nun viel stärker als zuvor in den Vordergrund der Texte drängt.

Das erhaltene Manuskript - Anfang und Ende fehlen - deckt den Zeitraum von 1741 bis 1762 ab und ist streng annalistisch angeordnet, wobei sich die Narration in der Regel an einzelnen Ereignissen orientiert. (Chapter 5: "A Room of His Own: The 'History' of the Barber of Damascus", 145-173) Im Vordergrund stehen politische Neuigkeiten wie die Ein- oder Absetzung von Personen in Ämter, Unruhen oder Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften in Damaskus und Umgebung. Wichtig sind natürlich auch Naturereignisse: Stürme, Epidemien, Erdbeben etc., aber auch Klatsch und Tratsch kommen vor. Alles wird jedoch aus einer persönlichen Warte aus kommentiert und eingeordnet. Da Ibn Budayr letzten Endes wie ein Gelehrter schreiben wollte, fügte er in seinen Text nicht nur Biogramme, sondern auch Verse ein. Dennoch: "in contrast to the imperially ordered chronicle of the ʿālim, which is about the regular, the normal, and the routine, Ibn Budayr's chronicle is the record of the fragility of existence in the face of poverty, violence, disorder, and the ever-present threat of "emasculation" and loss of privilege" (157)

Die der Arbeit zugrunde liegende Hypothese lautet, dass Ibn Budayr kein Sonderfall darstelle, sondern Teil eines Zeitphänomens sei. Im Damaskus des 18. Jahrhundert habe es eine Reihe ähnlicher Texte gegeben, die zusammengenommen darauf deuteten, dass "neue" Autoren in den Kreis der bis dahin dominanten Religionsgelehrten eingedrungen seien und die traditionellen Textsorten aufgebrochen hätten. Den Hintergrund für diesen Wandel der sozialen Mobilität bildeten, so die Autorin, die allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Syrien (bilad as-Sham) in dieser Epoche. Der administrative Zugriff des Osmanischen Reiches hatte merklich nachgelassen, die Dinge befanden sich offensichtlich im Fluss, bevor die französische Invasion am Ende des Säkulums eine neue Ära einläutete. Den prozesshaften Änderungen der Verhältnisse in Syrien während des 18. Jahrhunderts widmet Dana Sajdi das erste Kapitel ihres Buches ("The Disorder of a New Order: The Levant in the Long Eighteenth Century", 14-37). Sie verbindet geschickt das Aufkommen der "nouveau literature" mit der Neuordnung der sozialen Topographie in der Stadt. Die Gruppe der avantgardistischen Schriftsteller müsse, der Verf. zufolge, in einen Zusammenhang mit dem Entstehen eines erweiterten öffentlichen urbanen Raumes gestellt werden.

Ibn Budayrs Lebenslauf (Kapitel 2: "A Barber at the Gate: A Social and Intellectual Biography" 38-76) ist insgesamt sicher nicht untypisch für die Möglichkeiten eines Individuums, seinen literarischen Ambitionen nicht nur nachzugehen, sondern sie auch als soziales Kapital zu nutzen. Er hatte schon recht früh den Beruf des Barbiers ergriffen und arbeitete in einem Laden im Zentrum der Stadt. Dort kam er in Kontakt mit der gelehrten Elite, zumal sich in der Umgebung des Shops viele Medresen, Schulen und Bibliotheken befanden. Da es in der Regel jedermann frei stand, an den Vorlesungen eines ʿālims teilzunehmen, war es auch für einen Laien einfach, Wissen zu erwerben. Obgleich es, wie Dana Sajdi zeigt, beinahe unmöglich war, ohne die richtige Ausbildung in die Ränge der Gelehrten aufgenommen zu werden, stand Ibn Budayr nicht allein in seinem Drang, auch ohne formale Qualifikation zumindest in leichten Genres zu reüssieren. Sein Zielpublikum mögen nicht unbedingt die Profis gewesen sein, wohl aber die Zirkel der anderen Dilettanten.

Einige dieser Männer, Farmer, Prediger, Soldaten oder Verwaltungsbeamten stellt uns Dana Sajdi im dritten Teil ihrer Untersuchung vor. ("'Cheap' Monumentality: The Nouveau Literates and Their Texts", 77-114). Namentlich handelt es sich um Mikhail Burayk ad-Dimashqi (gest. nach 1782), Haydar Rida ar-Rukayni (gest. 1783) und seinen Sohn (gest. nach 1832), Ibrahim ad-Danafi (gest. nach 1783), Muhammad al-Makki (gest. nach 1722), Hasan Agha al-Abd (gest. nach 1826) und Hasan b. al-Sidiq (gest. nach 1771). Die meisten dieser Autoren hat Dana Sajdi bereits in ihrer Promotion "Peripheral Visions: The World and Worldviews of Commoner Chronicles in the 18th Century Ottoman Levant" (Columbia University 2002) behandelt, so dass es sich lohnt, diese Arbeit als Ergänzung zu dem vorliegenden Werk heranzuziehen. Ein abschließendes sechstes Kapitel befasst sich mit der Rezeption von Ibn Budayrs "Hawadith Dimashq ash-Shams al-yawmiyya" (Chapter 6: "Cutting the Barber's Tale: The Afterlives of a History", 174-204), insbesondere mit der bereits genannten Bearbeitung durch Muhammad Sa'id Qasimi (gest. 1900) im Rahmen oder vor dem Hintergrund der Nahda am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die inhaltliche Verdichtung der 2002 eingereichten Dissertation und die Konzentration auf einen Text und einen Autor war sicherlich eine gute Entscheidung. Dana Sajdi hat ein sehr gut geschriebenes, informationsreiches und klug argumentierendes Werk vorgelegt. Die Tatsache jedoch, dass zwischen Qualifikationsschrift und Publikation - wie im amerikanischen Akademia in den Geisteswissenschaften nicht unüblich - zwölf Jahre liegen, scheint mir doch auf systemische Defizite hinzudeuten. Darüber hinaus vermisst man - auch das symptomatisch - eine wirkliche Berücksichtigung der deutschsprachigen Forschung. In diesem Falle hätte man sich eine intensive Auseinandersetzung mit den Arbeiten von Lutz Berger, Ralf Elger oder Otfried Weintritt gewünscht.[1] Zur Frage, ob es nicht auch schon vor dem 18. Jahrhundert in Syrien eine Popularisierung in der Geschichtsschreibung gegeben hat, sollte man nun auch Torsten Wollinas Arbeit "Zwanzig Jahre Alltag. Lebens-, Welt- und Selbstbild im Journal das Ahmad Ibn Tawq" (Göttingen: V&R Bonn University Press, 2014) lesen.


Anmerkung:

[1] Lutz Berger: Gesellschaft und Individuum in Damaskus 1550-1791, Würzburg: Ergon 2007; Otfried Weintritt: Arabische Geschichtsschreibung in den arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches (16.-18. Jahrhundert), Hamburg-Schenefeld: EB-Verlag 2008; Ralf Elger: Glaube, Skepsis, Poesie. Arabische Istanbul-Reisende im 16. und 17. Jahrhundert, Würzburg: Ergon, 2011; ders.: "Einige Überlegungen zum adab in der Frühen Neuzeit", in: Stefan Reichmuth / Florian Schwarz (Hgg.): Zwischen Alltag und Schriftkultur: Horizonte des Individuellen in der arabischen Schriftkultur des 17. und 18. Jahrhunderts, Würzburg: Ergon 2008, 165-178.

Stephan Conermann