Rezension über:

Stephan Lehnstaedt / Jochen Böhler (Hgg.): Die Berichte der Einsatzgruppen aus Polen 1939. Vollständige Edition, Berlin: Metropol 2013, 480 S., ISBN 978-3-86331-138-4, EUR 24,00
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Rezension von:
Klaus-Peter Friedrich
Marburg/L.
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Klaus-Peter Friedrich: Rezension von: Stephan Lehnstaedt / Jochen Böhler (Hgg.): Die Berichte der Einsatzgruppen aus Polen 1939. Vollständige Edition, Berlin: Metropol 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 5 [15.05.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/05/27157.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Stephan Lehnstaedt / Jochen Böhler (Hgg.): Die Berichte der Einsatzgruppen aus Polen 1939

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Die Quellenedition zu den Einsatzgruppen in Polen umfasst die Berichte der Einsatzgruppen der deutschen Sicherheitspolizei aus den Monaten September und Oktober 1939. Stephan Lehnstaedt und Jochen Böhler haben dafür einschlägige Archive in Deutschland, Polen, Russland und der Ukraine ausgewertet. Beim deutschen Angriffskrieg gegen Polen folgten den Einheiten der vorrückenden Wehrmacht sieben Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei in 16 Einsatzkommandos mit insgesamt 2700 Mann. Offiziell waren sie dem Heer unterstellt. Weisungen erteilten ihnen jedoch der Polizeichef und Anführer der SS, Heinrich Himmler, und der Chef der Sicherheitspolizei und des SS-Sicherheitsdienstes (SD), Reinhard Heydrich. Diese beauftragten sie damit, alle (vermeintlich) reichs- und deutschfeindlichen Elemente im rückwärtigen Frontgebiet zu verfolgen und die "polnische Intelligenz" weitgehend auszuschalten. Die Opferzahlen dieser Verbrechen lassen sich bis heute nur annähernd schätzen; zu vermuten ist, dass bis Frühjahr 1940 über 60.000 Personen ums Leben gebracht wurden.

Das Quellenkorpus aus dem Bundesarchiv besteht im Wesentlichen aus Berichten, die ursprünglich in einem eigens geschaffenen Referat "Unternehmen Tannenberg" im Reichssicherheitshauptamt gesammelt wurden.[1] Diese werden ergänzt durch von den Polizei- beziehungsweise SS-Formationen vor Ort angefertigte Mitteilungen, die sich heute in polnischen Staatsarchiven sowie im Archiv des Warschauer Instituts für das Nationale Gedenken (IPN) befinden. Das damit ergänzte Quellenkorpus wird bereichert durch drei Dokumente des Russischen Militärarchivs in Moskau.

Die Herausgeber haben erstmals sämtliche erhaltenen Berichte veröffentlicht, darunter Tages- und Wochenmeldungen wie auch gesonderte Meldungen - etwa über den Kirchenbesuch in Westpreußen oder die Situation jenseits der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie. Die Dokumente sind chronologisch geordnet und durch Kommentare sowie ein Personen- und Sachregister erschlossen. Der Umfang der Kommentierung und das Ausmaß der dafür durchgeführten Recherchen orientieren sich an den Gepflogenheiten bei etablierten, renommierten Editionen von Dokumenten aus der NS-Zeit. Gewöhnungsbedürftig ist, dass die Herausgeber den Archivnachweis jeweils an das Ende der Briefzeile platziert haben; ein Register der Ortsnamen fehlt ebenso wie eine Auflistung der konsultierten Archive.

In den Berichten beschreiben die Nationalsozialisten unter anderem von ihnen selbst verübte Übergriffe in Polen. Daneben teilen sie Lageanalysen und Beobachtungen aus dem eroberten Gebiet mit. Demnach gab es zahlreiche Kontakte zu lokalen Honoratioren und als Volksdeutsche angesehenen Einwohnern. Hier erweist sich, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung betonen, dass die volksdeutsche Minderheit in Polen alles andere als gleichgesinnt und von einer Gleichschaltung weit entfernt war. Dabei stand besonders die Evangelisch-Augsburgische Kirche unter ihrem - von den Eroberern alsbald eingesperrten - Landesbischof Julius Bursche im Verdacht mangelnder Loyalität gegenüber den neuen Machthabern. Hauptgegner der systematisch vorgehenden SS-Formationen seien der polnische Staat und seine Repräsentanten gewesen, während die Juden Polens zu diesem Zeitpunkt noch nicht "im Mittelpunkt des Interesses" gestanden hätten (13). Diese Feststellung verharmlost die Tragweite der Bedrohung, der die jüdische Bevölkerung von September 1939 an ausgesetzt war; überdies steht sie in einem gewissen Widerspruch zum Umschlagfoto, auf dem "[f]estgenommene polnische Juden" abgebildet sind, die "im Gebäude der Jüdischen Gemeinde Warschau [...] wegen angeblichen Waffenbesitzes" (4)vor ein inszeniertes Standgericht des SD geführt wurden. Zwei der drei Dokumente, die dem Band aus dem Russischen Militärarchiv Moskau beigegeben wurden, listen für Ostoberschlesien (Dok. 107) und für den Warthegau (Dok. 104) die Zahl der jüdischen Einwohner nach Orten sowie für Letzteren auch die Namen und Geburtsdaten der eingesetzten Judenräte auf (412-419). Gleicher Provenienz ist das erste Dokument, das über die Vorbereitungen für den Einsatz von Gestapo und SD "im Falle Polen" informiert und Überlegungen für die Verwendung der Einsatzgruppen nach Beginn des Kriegs wiedergibt (23-44). Das nicht mit Datum versehene Dokument entstand vermutlich vor Abschluss des sogenannten "Hitler-Stalin-Pakts" am 23. August 1939.

Den Herausgebern ist insgesamt eine überzeugende Dokumentation des Okkupationsprozesses und der damit einhergehenden Gewaltmaßnahmen in den ersten Wochen und Monaten des Zweiten Weltkriegs aufgrund eines wichtigen, bislang aber wenig beachteten Teils der deutschen Überlieferung gelungen.


Anmerkung:

[1] Siehe hierzu bereits Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, 428-480.

Klaus-Peter Friedrich