Rezension über:

Winfried Schmitz: Die griechische Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte der archaischen und klassischen Zeit (= Alte Geschichte. Forschung ), Heidelberg: Verlag Antike 2014, 304 S., ISBN 978-3-938032-77-0, EUR 29,90
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Rezension von:
Oliver Grote
Historisches Institut, Universität Paderborn
Redaktionelle Betreuung:
Sabine Panzram
Empfohlene Zitierweise:
Oliver Grote: Rezension von: Winfried Schmitz: Die griechische Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte der archaischen und klassischen Zeit, Heidelberg: Verlag Antike 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 6 [15.06.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/06/26690.html


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Winfried Schmitz: Die griechische Gesellschaft

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Die neue Reihe "Alte Geschichte Forschung" hat es sich nicht nur zur Aufgabe gemacht, den Zugang zu aktuellen Forschungsergebnissen zu erleichtern, sondern diese auch und vor allem in einen größeren thematischen oder methodologischen Zusammenhang zu stellen. Daher sollen sich die einzelnen Beiträge nicht nur auf "solides Faktenwissen" beschränken, sondern "die Forschungslage, Methoden, Fragestellungen und Streitpunkte" in den Vordergrund rücken und damit zum forschenden Lernen jenseits der bloßen Rezeption scheinbar gesicherten Wissens anregen, wie es im Vorwort der Reihenherausgeber heißt. Die griechische Gesellschaft, das von Winfried Schmitz verfasste erste Buch der Reihe, erreicht diese Ziele in bewundernswerter Weise.

In seiner Einleitung steckt der Autor zunächst den zeitlichen und inhaltlichen Rahmen des Buches ab, das die archaische und klassische Zeit behandelt, die hellenistische Zeit aber weitgehend ausspart. Diese Einschränkung mag man bedauern; sie erklärt sich aber durch die Quellenlage (9). In den Mittelpunkt seines Buches möchte er "soziale Gruppen beziehungsweise Schichten" stellen; kleinere soziale Einheiten wie Verwandtschaft und Freundschaft sollen nur dann einbezogen werden, wenn sie als "schichtenspezifische Ausprägungen in Erscheinung treten" (12) - ein Vorgehen, das angesichts eigener Forschungsbereiche, die sich mit solchen Einheiten beschäftigten, als gerechtfertigt erscheint.

Relativ viel Raum widmet Schmitz quellenkritischen Überlegungen (10-12). Hierbei betont er den spezifisch sozialhistorischen Blickwinkel auf die Quellen. Vor allem Beschreibungen von "Nebensächlichkeiten, die keine Relevanz für den Fortgang der Handlung besitzen" (11), seien für sozialhistorische Fragestellungen besonders ergiebig - durch ihre Auswertung lasse sich beispielsweise fiktionalen Texten ein realer gesellschaftlicher Hintergrund entlocken. Auch im weiteren Verlauf des Buches bleibt der Verfasser dieser Linie treu, etwa wenn er die nicht selten durch Topoi verzerrte oder bewusst gestaltete Überlieferung über die Tyrannen ausführlich diskutiert (75-78). An diesen Beispielen wird eine der großen Stärken des Buches deutlich: Anfänger bekommen ein profundes Werkzeug für die selbständige Beschäftigung mit den Quellen in die Hand gelegt. In Verbindung mit dem im gesamten Darstellungsteil verwirklichten Grundsatz, inhaltliche Aussagen stets mit den entsprechenden Quellen zu belegen oder sogar direkt aus diesen zu erarbeiten, ist eine Anleitung zum eigenständigen, forschenden Lernen entstanden, die weit über eine Darstellung sozialhistorisch relevanten Wissens hinausgeht.

Die ersten drei der insgesamt sieben Kapitel des Hauptteils besprechen nicht einzelne Gemeinwesen, sondern gesellschaftliche Phänomene des gesamten griechischen Raums. Es folgen spezielle Darstellungen der athenischen, spartanischen und kretischen Gesellschaft und eine Zusammenfassung. Die zwei bis sechs Abschnitte eines jeden Kapitels folgen allesamt demselben Aufbau: Im Anschluss an die Darstellung widmet sich ein separater Teil den strittigen Fragen, Kontroversen und Konjunkturen innerhalb der Forschung. Dies hat den Vorteil, dass angesprochene Probleme jeweils unmittelbar im Anschluss an jeden Darstellungsteil in einen Forschungskontext gestellt werden, nicht erst in einem eigenen Block am Ende. Der Leser wird so auf direktem Wege an eine kritische und eigenständige Meinungsbildung jenseits der bloßen Rezeption von Überblickswissen herangeführt.

Eine inhaltliche Besprechung der einzelnen Kapitel kann an dieser Stelle leider nur durch Schlaglichter auf einige Aspekte erfolgen. Die homerische Zeit sieht Schmitz durch stratifizierte Gesellschaften geprägt, die sich jeweils in eine adlige, eine bäuerliche und eine unterbäuerliche Schicht unterteilten. Ausdrücklich hält er somit am umstrittenen Konzept des Adels fest - meines Erachtens zu Recht: Er problematisiert die Verwendung des Adelsbegriffs für die Beschreibung der frühgriechischen Gesellschaft angemessen, indem er ausdrücklich auf das Fehlen eines Geburtsadels und starrer sozialer Schranken hinweist, kann aber wesentliche Distinktionsmerkmale einer sozialen Elite identifizieren, die sich daher treffend als Aristokratie bezeichnen lässt (17-19).

Sowohl die Kolonisation als auch die Tyrannenherrschaften beschreibt Schmitz überzeugend als Resultate adliger Machtkämpfe und Staseis - in ersterem Fall durchaus entgegen der gängigen Meinung. Aufgrund der vielen Adelskonflikte habe sich Staatlichkeit stets gegen den Widerstand der Aristokraten entwickeln müssen (85). Dieses Urteil scheint freilich insofern etwas übertrieben, als dass Regelungen gegen Amtsmissbrauch sowie staatliche und gesetzgeberische Reformen nicht selten Ausdruck adliger Selbstkontrolle waren und auch durch Adlige initiiert wurden - ein Aspekt, den Schmitz im entsprechenden Forschungsteil zwar anspricht (95), der aber nicht Eingang in die Darstellung gefunden hat.

Die athenische Gesellschaft deutet der Verfasser aufgrund ihrer Einteilung in Bürger, Metöken, Freigelassene und Sklaven als Ständegesellschaft mit recht starren Grenzen. Verenge man den Blickwinkel auf die Personen mit Bürgerrecht, so zeige sich jedoch erneut eine "geschichtete Gesellschaft, in der ein sozialer Aufstieg oder Abstieg ohne weiteres möglich war" (113f.). Im Laufe des 5. Jahrhunderts hätten Athener etwa auch durch den Handel, als Pächter von Bergwerken oder als Manufakturbesitzer Reichtum erwerben können, nicht wie zuvor ausschließlich durch den Besitz von Land. Der hiermit verbundenen sozialen Dynamik räumt Schmitz mit Recht eine hohe Bedeutung ein.

Das Kapitel zur spartanischen Gesellschaft zeugt im Ganzen von einer hohen Detailkenntnis des Autors. Selbst selten thematisierte, aber gerade in gesellschaftlicher Hinsicht aufschlussreiche Aspekte wie etwa die sprachlichen Gepflogenheiten der Spartaner (194f.) bekommen genügend Raum. Demgegenüber verwundert es etwas, wenn zentrale Bereiche wie die Besitzverhältnisse bzw. das Bodenrecht (187f.) oder die Syssitien (195f.) recht knapp abgehandelt werden. Möglicherweise ist es dieser gestrafften Darstellung geschuldet, dass Schmitz vor allem die Beseitigung sozialer Ungleichheiten betont. Doch gerade die Syssitien zeigen, wie spannungsgeladen die spartanische Gesellschaft tatsächlich sein konnte: Neben das unbestrittene Ideal der Egalität aller Spartiaten trat etwa auch die Tatsache, dass durch den festen Beitrag für die Mahlgemeinschaften eine immer höhere Zahl an Spartiaten aus dem Kreis der Vollbürger ausgeschlossen wurde. Darüber hinaus luden die Syssitien geradezu ein, sich gesellschaftlich hervorzutun - etwa durch das Verteilen von kostbarem Weißbrot durch reiche Spartiaten (Xen. Lak. Pol. 5,3), das Prahlen mit Jagdbeute (Plut. Lyk. 12,4) oder den Verleih von Jagdhunden an ärmere Spartiaten (Xen. Lak. Pol. 6,3). Auch in Sparta sind also durchaus soziale Ungleichheiten feststellbar, was Schmitz unterschätzt.

Dass man nicht in jeder strittigen Frage die Meinung des Autors teilen wird, ist freilich selbstverständlich - wenngleich der Verfasser dieser Rezension geneigt ist, dies in den meisten Fällen zu tun. Ohnehin erscheint es im Sinne des forschungsorientierten Ansatzes der Reihe wichtiger, den Forschungsstand darzulegen, auf Kontroversen hinzuweisen und die Quellen für eine selbständige Beschäftigung mit den Problemen zu nennen. All diese Anforderungen erfüllt Schmitz in höchstem Maße; dass es ihm darüber hinaus in den meisten Fällen gelingt, seinen eigenen Standpunkt plausibel zu machen, zeugt umso mehr von der außerordentlichen Qualität des Werkes. Dessen weite Verbreitung ist nicht zuletzt in didaktischer Hinsicht unbedingt zu wünschen, da es möglicherweise ein unter Studierenden weit verbreitetes Missverständnis zu beseitigen vermag - namentlich die Auffassung, forschungsorientiertes Lernen sei dann gewährleistet, wenn Forschungsmeinungen zusammengetragen und möglichst detailgetreu wiedergegeben werden. Indem Schmitz seine Überlegungen zu Forschungsfragen stets an den Quellen entfaltet, lädt er auch Anfänger dazu ein, sich eine kritische und begründete Meinung anhand der Quellen zu bilden, oder mit anderen Worten, selbstständig zu forschen und damit forschungsorientiert zu lernen.

Oliver Grote