Rezension über:

Christian Heinker: Die Bürde des Amtes - die Würde des Titels. Der kursächsische Geheime Rat im 17. Jahrhundert (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; Bd. 48), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015, 425 S., ISBN 978-3-86583-855-1, EUR 72,00
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Rezension von:
Axel Flügel
Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Axel Flügel: Rezension von: Christian Heinker: Die Bürde des Amtes - die Würde des Titels. Der kursächsische Geheime Rat im 17. Jahrhundert, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/26885.html


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Christian Heinker: Die Bürde des Amtes - die Würde des Titels

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Die erfreulich schlanke Leipziger Dissertation von Christian Heinker widmet sich einem klassischen Gegenstand der traditionsreichen deutschen Verwaltungsgeschichte, dem Geheimen Rat, in Kursachsen in der Zeit von 1595 bis 1704. Sie reiht sich damit ein in Maßstab setzende Untersuchungen von Otto Hintze, Gerhard Oestreich und Maximilian Lanzinner. Während in den letzten Jahren mit Blick auf die Frühe Neuzeit vorrangig von der symbolischen und der instrumentellen Funktion der Rangkonflikte, Verfahren, zeremoniellen Sitzungen und Versammlungen in der alteuropäischen Adelswelt bzw. in der Welt der Fürstenhöfe die Rede war, nähert sich die Studie ihrem Thema auf prosopografischem Weg. Die personenbezogene Untersuchung bildet natürlich keinen Gegensatz zur neueren kulturgeschichtlichen Interpretation der politischen Kultur und der zeitgenössischen Bedeutungen. Sie ist vielmehr eine sehr willkommene Ergänzung für ein differenziertes Verständnis frühneuzeitlicher Politik.

Die Studie fußt auf einer detaillierten Erhebung von Angaben zur sozialen und regionalen Herkunft, zum Bildungsweg, zum Konnubium, zum beruflichen Werdegang und zum Tätigkeitsprofil der 13 gelehrten Doktoren und 53 Adligen, die im 17. Jahrhundert zu wirklichen Geheimen Räten bestallt wurden. Zusätzlich nahm Heinker die seit 1656 ernannten 46 Titulargeheimräte ohne Sitz und Stimme im Geheimen Rat in den Blick. Allein schon dafür ist die Untersuchung zu loben. In einem ausführlichen Kapitel (213-294) diskutiert er die Ergebnisse der prosopografischen Erhebung für die genannten Angaben von der sozialen Zusammensetzung bis zur Bedeutung des Universitätsbesuches. Die ermittelten Daten zu jedem einzelnen wirklichen bzw. titular Geheimen Rat sind dankenswerter Weise im Anhang (301-379) abgedruckt, sodass sie für weitere Fragen und Forschungen leicht zugänglich sind. Ein einleitendes Kapitel (41-140) informiert über die Normen und formalen Strukturen des Amtes, insbesondere über Fragen der Besoldung, der Bestallungspraxis und der im Geheimen Rat anfallenden Aufgaben, nicht zuletzt auch über die Aussendung einzelner Räte mit speziellen Aufträgen oder ihre Verwendung als Gesandte.

Ein zweiter Schwerpunkt der Studie liegt auf der politischen Geschichte Kursachsens im turbulenten und kriegerischen 17. Jahrhundert, der den Mittelteil des Buches (141-211) bildet. Dort werden die Regierungsweisen der verschiedenen Kurfürsten mit besonderer Berücksichtigung des Geheimen Rates nacheinander vorgestellt. Der Autor verwendet in seiner Arbeit allerdings eine normative Definition des Geheimen Rates, die das Kollegium "primär" in der Beratung des Kurfürsten bei Problemen der Reichs- und Außenpolitik sowie in Fragen der Diplomatie (23; 183; 137; 214f.; 270; 286f.) verortet, denn auf diesen Gebieten habe sein eigentliches 'Arbeitsfeld' gelegen. Eine Befassung der Geheimen Räte mit anderen, nicht außenpolitischen Fragen erscheint in dieser Perspektive als Verfallsgeschichte, als Herabsetzung des Geheimen Rates zur Ministerkonferenz (287). Daher endet die Geschichte des Geheimen Rates sozusagen mit der Einrichtung des Geheimen Kabinetts, obwohl die Behörde natürlich fortbestand. Mit der Situierung des Geheimen Rates in der Politikgeschichte der Haupt- und Staatsaktionen korrespondiert in der Studie eine deutlich entwicklungsgeschichtliche Orientierung, wenn der Autor mehrfach vom Durchbruch zur Staatlichkeit (211) oder von frühmoderner Staatsbildung (215) spricht und die Geheimen Räte als Zwischenschritt vom Fürstendiener zum Staatsbeamten behandelt oder die Fürstenberatung durch den kollegialen Geheimen Rat mit dem noch fehlenden Ressortprinzip verbindet. Was die Darstellung der politischen Geschichte Kursachsens im 17. Jahrhundert selbst angeht, so erfährt der kundige Leser in diesem Kapitel wenig Neues.

Gegenüber der breit ausgeführten Politikgeschichte werden Leser, die sich besonders für die frühneuzeitliche Verwaltungsgeschichte, speziell also ihre Eigenheiten und zeitgenössischen Praktiken, interessieren, weniger auf ihre Kosten kommen. In drei Bereichen, die im Buch nur angesprochen werden, hätte man sich dafür ausführlichere Analysen und Darstellungen gewünscht. Erstens eine demografische Vertiefung vor allem hinsichtlich der Karrieren der Räte: Wieweit waren die adligen Geheimen Räte erstgeborene Gutserben wie Heinrich v. Friesen oder nachgeborene, weitgehend mittellose Aufsteiger, wie Heinrich v. Taube, der über den Pagendienst nach oben kam. Welchen Einfluss hatte dieser Hintergrund auf die Einstellung und das Handeln der Räte?

Zweitens werden die einzelnen Bestallungsurkunden recht kursorisch behandelt. Eine detailliertere Vorstellung ihrer einzelnen Bestimmungen, ein systematischer Abgleich der Texte und ein exemplarischer Vergleich einer Bestallung mit dem tatsächlichen Arbeitsanfall im Geheimen Rat kann genauere und interessante Aufschlüsse über die verschiedenen Arbeitsfelder von der Außenpolitik über die geistlichen Sachen, die Lehns-, Militär- und Finanzfragen bis zu den an den Landesherrn eingereichten Petitionen liefern. Stattdessen fehlt z.B. eine Berücksichtigung der zentralen Rolle, welche die Tätigkeiten der Geheimen Räte für die Berufung, die Vorbereitung und den erfolgreichen Abschluss der zahlreichen kursächsischen Landtage besessen haben.

Drittens fällt hinsichtlich der Forschungsgeschichte auf, dass Otto Hintzes wichtige allgemeine Unterscheidung von 'Amtsträger' und 'Kommissar' überhaupt nicht berücksichtigt wird, wie auch eine Stellungnahme zu den spezifischeren Interpretationen des Geheimen Rats durch Gerhard Oestreich und Maximilian Lanzinner nicht erfolgt. Ebenso wenig werden die prosopografischen Befunde zu dem kulturgeschichtlichen Konzept der frühneuzeitlichen politischen Kultur in Beziehung gesetzt. So kann Heinker von der tatsächlichen Praxis weitgehend absehen und wieder von "eigentlicher Politik" (172f.) sprechen oder "ritualisierte Verfahrensregeln am Hof" als "Hemmschuh" (291) qualifizieren. In dieser Hinsicht scheint Leipzig sehr weit von Münster entfernt zu sein. Die Probleme der vorliegenden Studie verweisen aber auch darauf, dass ein ausgearbeiteter genuin geschichtswissenschaftlicher Begriff des frühneuzeitlichen Fürstenstaats jenseits der älteren Stufenlehren noch nicht vorliegt und der Dissertation daher auch keine Orientierung geben konnte. Es bleibt aber sehr zu wünschen, dass auch anhand dieser Publikation zur Prosopografie der Geheimen Räte die verschiedenen methodischen Ansätze, uns die untergegangene frühneuzeitliche politische Kultur zu erschließen, einmal in eine intensivere gemeinsame Debatte eintreten.

Axel Flügel