Rezension über:

Matthias Rathmer: Alexander Schalck-Golodkowski. Pragmatiker zwischen den Fronten. Eine politische Biographie, Berlin: epubli 2015, 259 S., ISBN 978-3-7375-2994-5, EUR 19,90
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Rezension von:
Matthias Judt
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Stellungnahmen zu dieser Rezension:
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Judt: Rezension von: Matthias Rathmer: Alexander Schalck-Golodkowski. Pragmatiker zwischen den Fronten. Eine politische Biographie, Berlin: epubli 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/01/27790.html


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Matthias Rathmer: Alexander Schalck-Golodkowski

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Der in Kairo lebende Autor, Filmregisseur und Journalist Matthias Rathmer hat Anfang 2015 sein vor 20 Jahren schon einmal erschienenes Buch in Eigenregie nahezu unverändert noch einmal verlegt. Einzige Unterschiede zur Originalausgabe sind ein vierseitiges neues Vorwort und - nach eigener Aussage - "kleinere Korrekturen, die der Formatierung und neuer Software geschuldet waren" (10). Das Buch gliedert sich in sieben thematische Abschnitte, in denen Alexander Schalck-Golodkowski als "Sozialist", "Außenhändler", "Staatsdiener", "Offizier im besonderen Einsatz" des MfS, "Staatssekretär" im DDR-Ministerium für Außenhandel, "Aussteiger" und "Pragmatiker" vorgestellt wird.

Jenseits von Verweisen auf Schalcks Autobiographie von 2000 und einer Biographie zweier Autoren von 2012 [1] blendet Rathmer allerdings die gesamte, seit 1995 zu Schalck-Golodkowski und den von ihm geleiteten Bereich Kommerzielle Koordinierung erschienene Literatur aus. [2] Insofern stellt sich schon an dieser Stelle die Frage, welchen Erkenntnisgewinn die Neuauflage eines zwei Jahrzehnte alten Sachbuches noch bringen könnte. Allein die Rückschau auf den Zeitgeist der frühen 1990er Jahre, den dieses Buch "atmet", macht die Lektüre interessant: Dieser Zeitgeist war geprägt von Mythen um KoKo, die irreführend sind.

Schalck-Golodkowski ist ein Paradebeispiel dafür, wie in der Öffentlichkeit in sehr kurzer Zeit aus einem Hoffnungsträger ein Sündenbock gemacht werden konnte, wie öffentlichkeitswirksam von Firmen der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS abgelenkt wurde, wie unter Verweis auf tatsächlich fragwürdige Geschäfte der KoKo (staatlich sanktionierter Menschenhandel mit politischen Gefangenen der DDR, das Umgehen von westlichen Embargos, die Belieferung von Kriegsparteien mit Waffen, die Versorgung des MfS mit Spionagetechnik oder der SED-Politbüromitglieder mit westlichen Waren) die tatsächliche Bedeutung des Bereiches Kommerzielle Koordinierung für die DDR-Volkswirtschaft verschleiert wurde. Rathmer erliegt ebenfalls diesem Mythos.

Eine zentrale These Rathmers lautet, dass KoKo "mit zweifelhaften Methoden und mäßigen Erfolg" (8) gewirkt habe. Dem ist prinzipiell zu widersprechen, denn zum einen hat KoKo zum weit überwiegenden Teil ganz normale Außenhandelsgeschäfte betrieben, bei denen eher zu fragen wäre, warum die DDR überhaupt durch KoKo-Firmen parallel zu Betrieben des geplanten Außenhandels Güter ein- und ausführte. Die KoKo-Firma Intrac handelte mit Rohstoffen und Chemieerzeugnissen, und nach der Inkorporation der KoKo-Firma Zentralkommerz auch mit Agrarerzeugnissen. Das Gleiche taten die Außenhandelsbetriebe Metallurgiehandel, Chemie und Nahrung. Die Forum Handelsgesellschaft belieferte das Netz der Intershops, wie die Devisenläden in Hotels, Transitbereichen von Grenzübergangsstellen und an Marktplätzen fast jeder Kreisstadt der DDR hießen, mit westlichen Markenartikeln. Die Berliner Import- und Exportgesellschaft handelte u.a. mit Blutplasma, ließ Medikamententests für westliche Pharmakonzerne in der DDR durchführen und kooperierte dabei mit dem Ministerium für Gesundheitswesen. Klingt nicht gut, ist aber international üblich.

Quantifiziert man das Umsatzvolumen solcher Geschäfte, kann begründet geschätzt werden, dass 85 Prozent der KoKo-Aktivitäten international üblichen Gepflogenheiten entsprachen und zudem der größte Teil der fragwürdigen Aktivitäten aus dem schwunghaften Handel mit politischen Häftlingen bestand, für die wiederum vor allem Rohstoffe an die DDR geliefert wurden. Die Bedeutung von KoKo für den gesamten Außenhandel der DDR nahm mit den Jahren immer mehr zu. Das konnte so weit gehen, dass in einzelnen Jahren mehr Güter über den außerplanmäßigen Außenhandel (der wesentlich von KoKo bestimmt war) importiert wurden als über den Planhandel.

Zum anderen stellen mindestens 28 Milliarden Valutamark Gesamtgewinn von KoKo in 24 Jahren Existenz auch keinen "mäßigen Erfolg" dar, wie Rathmer meint. Schon gar nicht konnte dieser Gewinn nur mit dem Handel mit Waffen, Kunstgütern und anderem erwirtschaftet werden. Eher waren es beispielsweise Kraft- und Brennstoffe, Schweinehälften, Braugerste und Baustoffe, die von KoKo-Firmen geliefert wurden, oder Müll und Bauschutt, der von KoKo im großen Stil gegen Gebühr abgenommen wurde.

Dazu aber hätte es der KoKo gar nicht bedurft, denn das machten die Betriebe des geplanten Außenhandels auch. Sie konnten indes im Unterschied zu KoKo nicht als "Devisenausländer" agieren, mussten deshalb ihre Einnahmen sofort an den Staat abführen und durften Ausgaben in Devisen nur auf Antrag tätigen. KoKo war vieles erlaubt, was andere Außenhandelsunternehmen der DDR auch gekonnt hätten. Auch die vermeintlich größere Flexibilität von KoKo ist deshalb ein Mythos.

Rathmer stellt Schalck-Golodkowski vor allem als eine fragwürdige Figur vor. Das wäre durchaus berechtigt, wenn KoKo sich darauf konzentriert hätte, all jene Geschäfte auszuführen, die ein hohes Maß an Vertraulichkeit erforderten und/oder international üblichen Gepflogenheiten zuwider gelaufen sind. Dem war aber nicht so. Schalck war regelmäßig Mitglied der Regierungsdelegationen, die in westlichen Ländern Verhandlungen zur Regelung des wechselseitigen Warenaustauschs führten. Er war umfassend am Einfädeln von Kompensationsgeschäften beteiligt, bei denen Anlagenimporte mit Gegenlieferungen aus der DDR refinanziert wurden.

Rathmers Buch basiert vor allem auf zeitgenössischen Veröffentlichungen. Er nennt zwar auch eine Reihe von Archiven, auf deren Bestände allerdings in den Fußnoten in den seltensten Fällen verwiesen wird. Das wichtigste Archiv, das Rathmer nutzte, ist das des Autors selbst, abgekürzt als "AdA". Oft handelt es sich dabei um Verweise auf Interviews mit ungenannt bleibenden Mitarbeitern der Staatssicherheit oder anderen Institutionen, mit denen Schalck-Golodkowski zu tun hatte. Für andere Autoren sind sie nicht nutzbar.

Ansonsten wird ausführlich aus den vom Bundestag in seinem ersten Untersuchungsausschuss zu KoKo zusammengetragenen Dokumenten zitiert. Die Debatten in diesem Ausschuss waren ebenso vom Zeitgeist der Mystifizierung von KoKo geprägt. Die Mythen um den von Schalck-Golodkowski geleiteten Bereich Kommerzielle Koordinierung sind seitdem einer genaueren Prüfung unterzogen worden. Deren Ergebnisse wären für eine Neubearbeitung des Buches von 1995 nützlich gewesen.


Anmerkungen:

[1] Alexander Schalck-Golodkowski: Deutsch-deutsche Erinnerungen, Reinbek bei Hamburg 2000; Frank Schumann / Heinz Wuschech: Schalck-Golodkowski: Der Mann, der die DDR retten wollte, Berlin 2012.

[2] Vgl. Reinhard Buthmann: Die Arbeitsgruppe Bereich Kommerzielle Koordinierung, Berlin 2003; Peter Krewer: Geschäfte mit dem Klassenfeind. Die DDR im innerdeutschen Handel 1949-1989, Trier 2008; Matthias Judt: Der Bereich Kommerzielle Koordinierung. Das DDR-Wirtschaftsimperium des Alexander Schalck-Golodkowski - Mythos und Realität, Berlin 2013.

Matthias Judt