Rezension über:

Paul Kalligas: The Enneads of Plotinus. A Commentary Ι Vol. 1. Translated by Elizabeth Key Fowden & Nicolas Pilavachi, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2014, XX + 706 S., 7 Abb., 3 Tabellen, 1 Karte, ISBN 978-0-691-15421-3, USD 85,00
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Rezension von:
Christian Tornau
Institut für Klassische Philologie, Julius-Maximilians-Universität, Würzburg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Christian Tornau: Rezension von: Paul Kalligas: The Enneads of Plotinus. A Commentary Ι Vol. 1. Translated by Elizabeth Key Fowden & Nicolas Pilavachi, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/03/25978.html


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Paul Kalligas: The Enneads of Plotinus

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Pavlos Kalligas übersetzt seit 1991 die Enneaden des Plotin ins Neugriechische und versieht sie mit einem ausführlichen historischen, philologischen und philosophischen Kommentar. Erschienen sind bisher die Vita Plotini des Porphyrios (Athen 1991) und die Enneaden I (1994), II (1997, 2. Auflage 2010), III (2004), IV (2009) und V (2013). Die VI. Enneade befindet sich noch in Arbeit. Die Fachwelt hat die Bedeutung dieses, wie man wohl sagen darf, Lebenswerks für die Forschung zu Plotin und zum Neuplatonismus grundsätzlich immer anerkannt; einer angemessenen Rezeption hat freilich oft die Sprachbarriere im Wege gestanden. Diesem Problem ist jetzt dadurch Abhilfe geschaffen worden, dass Elizabeth K. Fowden und Nicholas Pilavachi Kalligas' Kommentierung der Plotinbiographie des Porphyrios und der Enneaden I-III in Zusammenarbeit mit dem Autor in englischer Übersetzung vorgelegt haben. Das Projekt ist wie die antiken und modernen Enneaden-Ausgaben [1] auf drei Bände angelegt und wird in den nächsten Jahren Kalligas' Plotinkommentar vollständig auf Englisch verfügbar machen.

Kalligas möchte durch seine Kommentierung erstens die oft schwierigen, weil sehr verknappt und voraussetzungsreich formulierten Gedankengänge Plotins nachvollziehbar machen und zweitens das historische Umfeld und die philosophische Tradition ausleuchten, in deren Rahmen sich Plotins Denken bewegt. Da die griechische Philosophie der Spätantike ihre Fragestellungen und Lösungsansätze im ständigen Dialog mit einer jahrhundertelangen philosophischen Tradition entwickelte, ist die Kenntnis solcher Bezüge für das Verständnis der plotinischen Überlegungen philosophisch essentiell und nicht "nur" von historisch-philologischem Interesse. Zwar erkennt Plotin wie alle Platoniker der Kaiserzeit Platon uneingeschränkt als Autorität an. Sein Selbstverständnis als Platon-Exeget (vgl. Enneade V 1,8,10-14) verlangt es jedoch von ihm, die im Text der Dialoge implizit enthaltenen Antworten auf aktuelle philosophische Fragen explizierend ans Licht zu bringen. Plotin setzt diese von Aristoteles, der hellenistischen Philosophie oder auch dem Mittelplatonismus aufgeworfenen Fragen in der Regel als bekannt voraus. Sie für den modernen Leser erkennbar zu machen, ist eine der wichtigsten Aufgaben eines Plotin-Kommentators, die Kalligas in ebenso konziser wie luzider Weise löst.

Die Kommentierung jeder Schrift gliedert sich in drei Teile. Kalligas bietet zunächst eine "synopsis", eine Skizze des Gedankengangs in Stichworten, die an den Kapiteln der jeweils kommentierten Schrift entlanggeht, aber nicht lediglich Zwischenüberschriften liefert, sondern den Zusammenhang der gedanklichen Schritte erkennen lässt (man vergleiche damit etwa Willy Theilers recht inkohärente Zusammenfassungen in der bisher einzigen griechisch-deutschen Gesamtausgabe).[2] Die auf die "synopsis" folgende "introduction" dient in erster Linie der philosophiehistorischen Einordnung. Wo Plotin sich mit tradierten philosophischen Problemen befasst - etwa der Frage nach dem Schicksal (Enn. III 1), der Vorsehung (Enn. III 2-3), der Interpretation und Bewertung der aristotelischen Kategorien (Enn. II 6), der Teloslehre und Eudaimonie (Enn. I 4) oder auch der philosophisch wie religiös relevanten Frage nach dem persönlichen "Daimon" (Enn. III 4), - bieten die Einleitungen problemgeschichtliche Überblicksdarstellungen, die in dieser Knappheit und Klarheit sonst kaum zu finden sind und von denen nicht nur Leser Plotins, sondern alle an der antiken Philosophie Interessierten in hohem Maße profitieren werden.

Die Einzelkommentierung geht auf der Textgrundlage von HS2 lemmatisch in Einheiten von 5 bis 15 Zeilen vor. Kalligas bietet hier zum einen - soweit auf dem beschränkten Raum möglich - einen interpretierenden Nachvollzug des Gedankengangs. Besonders hilfreich sind seine argumentanalytischen Strukturierungen unübersichtlicher Gedankenreihen und voraussetzungsreicher doxographisch-kritischer Partien (vgl. z.B. die Anmerkungen zu III 1,1,1-8; III 7,2,5-9; III 7,7,17-27). Bei linearer Lektüre ergeben sich oft interpretative Gesamtbilder der Traktate; so erweist sich die Enneade I 4 "Über die Glückseligkeit" als kontinuierliche Auseinandersetzung mit der aristotelischen Eudaimoniekonzeption.

Zum anderen bietet Kalligas eine beeindruckende Fülle von Vergleichsmaterial aus der gesamten griechischen und lateinischen Literatur. In erster Linie berücksichtigt er dabei naturgemäß die philosophische Tradition: Zahlreiche nützliche Querverweise aus dem gesamten Corpus Plotins stehen neben Hinweisen auf Platon und Aristoteles - in Plotins Augen die Klassiker der Philosophie - sowie auf Autoren der hellenistischen und kaiserzeitlichen Tradition. Die Aufarbeitung der Parallelen Plotins zum kaiserzeitlichen Denken ist eine besondere Stärke des Kommentars. Hervorgehoben seien die zahlreichen Hinweise auf Alexander von Aphrodisias, dessen Bedeutung für Plotin zwar grundsätzlich bekannt ist (vgl. Porphyrios, Vita Plotini 14,13 mit Kalligas' Kommentar), aber noch weiterer Erforschung bedarf; hierfür liegt mit Kalligas' Arbeit jetzt eine ausgezeichnete Grundlage vor. Er berücksichtigt nicht nur die auf Griechisch erhaltenen, in den Commentaria ad Aristotelem Graeca edierten Schriften, sondern auch solche, die nur in syrischer oder arabischer Übersetzung vorliegen (vgl. etwa den Hinweis auf Alexanders nur auf Arabisch und Latein erhaltene Schrift De tempore im Kommentar zu III 7,8,14-19). Höchst interessant ist auch der Hinweis auf die in verschiedenen Schriften Alexanders greifbare peripatetische Kontemplationstheorie, die möglicherweise Plotins faszinierendes Konzept der produktiven Schau beeinflusst hat (Einleitung zur Enneade III 8).

Darüber hinaus stellt Kalligas Bezüge zum im weitesten Sinne religiösen Schrifttum der Kaiserzeit und Spätantike heraus und akzentuiert damit den religiösen Zug der plotinischen Philosophie, der in der zuletzt stark angewachsenen philosophischen Forschung eher marginalisiert wird. So zeigen Kalligas' ebenso behutsame wie bedenkenswerte Ausführungen zur Präsenz orphischer (Kommentar zu I 6,5,2-8), chaldäischer (Kommentar zu I 9,1-2) und pythagoreischer Elemente (zu III 8,10,4-19) Tendenzen bei Plotin auf, die man üblicherweise erst mit dem späteren Neuplatonismus seit Iamblich zu verbinden pflegt. Weiterhin versammelt Kalligas reichhaltiges Material aus Philon von Alexandria, der hermetischen Literatur, christlichen Autoren und - auch außerhalb des Kommentars zur Enneade II 9 "Gegen die Gnostiker" - aus den gnostischen Zeugnissen sowie aus medizinischen Texten, der Romanliteratur oder auch den Zauberpapyri. Damit sind wichtige Materialien für eine über die philosophische Tradition hinausreichende geistes- und religionsgeschichtliche Einordnung Plotins zur Verfügung gestellt.

Autor und Übersetzer haben vor allem aus praktischen Gründen darauf verzichtet, eine neue englische Übersetzung des Plotintexts beizugeben; englischer Referenztext ist die Ausgabe von Arthur H. Armstrong in der Loeb Classical Library. [3] Wo Kalligas aufgrund abweichender textlicher Entscheidungen von Armstrong differiert (Liste der abweichenden Lesarten: 657-668; hervorgehoben sei die brillante Wiederherstellung von Enneade I 9,1-2), ist dies im Kommentar begründet. Doch findet sich auch eine Reihe von inhaltlich relevanten Differenzen, die im Kommentar nicht erläutert sind. Will man Kalligas' exaktes grammatisches Verständnis des Plotintexts erfahren, muss man also weiterhin auf die neugriechische Ausgabe zurückgreifen. Es wäre wünschenswert, dass in den beiden noch ausstehenden Bänden der Kommentar in solchen Fällen um einen kurzen Hinweis ergänzt wird.

Die englische Fassung des Kommentars ist gegenüber dem neugriechischen Original bibliographisch aktualisiert. Am Schluss des Bandes findet sich für jeden behandelten Traktat eine kurze Spezialbibliographie (670-678: "Suggested Further Readings"). Eine vorläufige Fassung der Gesamtbibliographie, mit deren Hilfe sich die Kurztitel im Kommentar entschlüsseln lassen, findet sich auf der Website des Verlags ( www.press.princeton.edu/titles/10382.html oder http://press.princeton.edu/releases/m10382.pdf). Eine gedruckte Fassung wird im dritten Band erscheinen.

Als Kalligas um 1990 mit der Kommentierung der Enneaden begann, waren nur wenige von Plotins Schriften kommentiert. Heute liegen dagegen zu zahlreichen Schriften ein oder mehrere Kommentare vor. Trotzdem ist Kalligas' Arbeit in keiner Weise veraltet. Für viele, besonders kleinere Schriften ist sie nach wie vor der einzige philosophische philologische Kommentar (I 9, II 2, II 6, II 7, II 8, III 4, III 9, aber auch die lange astrologiekritische Schrift II 3). Seine Interpretationen bleiben hilfreich, und das von ihm mit bewundernswerter Gelehrsamkeit und sicherem Urteil zusammengestellte Parallelmaterial stellt einen reichen Fundus für künftige Forschung dar. Es ist zu hoffen, dass dieses Forschungsinstrument die Aufmerksamkeit findet, die es verdient.


Anmerkungen:

[1] Plotini Opera, edd. by P. Henry / H.-R. Schwyzer, 3 Bde., Oxford 1964-1982 (HS2, die Textgrundlage des Kommentars). Zu Porphyrios' dreibändiger Enneaden-Ausgabe vgl. Vita Plotini 24-26.

[2] Plotins Schriften. Griechischer Text, deutsche Übertragung von R. Harder, Neubearbeitung von R. Beutler und W. Theiler, 6 Bde., Hamburg 1956-1971.

[3] Plotinus, with an English translation by A.H. Armstrong, 7 Bde., London / Cambridge (Mass.) 1966-1988.

Christian Tornau