sehepunkte 16 (2016), Nr. 3

Stephan Rindlisbacher: Leben für die Sache

Dieses auf einer Berner Dissertation aus dem Jahr 2011 beruhende Buch behandelt die beiden wohl prominentesten Frauengestalten der russischen revolutionären Bewegung der 1870er/1880er Jahre: Vera Figner und Vera Zasulič.

Zasulič leitete mit ihrem Revolverschuss auf den Petersburger Stadtkommandanten Fedor Trepov im Januar 1878 die Phase des politischen Terrorismus im ausgehenden Zarenreich ein; Vera Figner war an der Organisation des tödlichen Bombenattentats auf Zar Alexander II. im Jahr 1881 maßgeblich beteiligt. Jedoch entstand kein enger persönlicher Kontakt oder Briefwechsel zwischen den beiden Frauen, ihre Bekanntschaft dürfte sich auf einige flüchtige Begegnungen beschränkt haben.

Beide haben zeitlebens umfänglich korrespondiert und publiziert, darunter auch Memoiren und Erinnerungen (unterschiedlichen Umfangs und Verbreitungsgrads), was sie von vielen anderen russischen Revolutionärinnen unterscheidet. Daher sind sie für eine wissenschaftliche Untersuchung viel "fassbarer" als die zahlreichen Praktikerinnen des radikalen Milieus, die nie zur Feder gegriffen haben.

Zasulič ist bereits mehrfach Gegenstand lebensgeschichtlicher Studien in westlichen Sprachen geworden [1], doch die erste umfassende Biographie über Vera Figner erschien etwa zeitgleich mit der vorliegenden Untersuchung und konnte deshalb von Rindlisbacher nicht mehr nutzbar gemacht werden. [2] Es ist das erklärte Ziel des Autors, den bereits existierenden Einzel- und Kollektivbiographien sowie den diversen ideologie- und sozialgeschichtlichen Arbeiten zur radikalen Bewegung in Russland einen neuen, besonderen Akzent hinzuzufügen. Wie der Autor formuliert, sollen ihm "die Lebenswege von Vera Figner und Vera Zasulič (...) als 'Scheinwerfer' dafür dienen, das radikale Milieu mit seinen Merkmalen, Funktionsmechanismen und Handlungsspielräumen auszuleuchten" (10). Was diese beiden Frauen, die sich persönlich fernstanden, eng miteinander verband, war nämlich die Zugehörigkeit zu eben demselben radikalen Milieu, in dem sie einen Großteil ihres Lebens verbrachten. Beide führte der Weg von der Basis bis in die Führungsspitze der revolutionären Bewegung, beide wurden zu einflussreichen Vorbildern für die nachfolgende Generation. Neben solchen Gemeinsamkeiten weisen ihre Herkunft, Motivation und Lebenswege allerdings bedeutsame Unterschiede auf, die von Rindlisbacher genau so ausgiebig beleuchtet werden wie das Verbindende.

Insgesamt ist die Untersuchung chronologisch aufgebaut und beginnt mit der Suche Zasuličs und Figners nach einer "Sache" (delo), was bei der ersten Vera vor allem die Suche nach alternativen Lebensentwürfen jenseits des vorgezeichneten gefürchteten Daseins als Gouvernante bedeutete, bei der anderen eher die Suche nach Achtung (durch ihre familiäre Umgebung) und Ernsthaftigkeit.

Es folgt die Beschreibung des allmählichen Übergangs in das radikale Milieu, im Falle Zasuličs vom Autor mit "Lust auf Abenteuer" umschrieben, bei Figner als "Wege aus der sozialen Isolation". Im darauffolgenden Kapitel "Zwei Ikonen der revolutionären Bewegung" steht Zasulič als "Rächerin", Figner hingegen als "Märtyrerin" im Mittelpunkt. Es folgt die ausführliche Darstellung Zasuličs langer Jahre im Exil nach ihrem Aufsehen erregenden Prozess. Obwohl er mit ihrem Freispruch endete, hätte sie anschließend nicht unbehelligt in Russland weiterleben können, sondern war durch erneute Verfolgung bedroht. Figner hingegen wurde wegen ihrer Beteiligung an der Ermordung des Zaren zunächst zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslanger Haft in der Festung Schlüsselburg begnadigt, wo sie dank der Intervention ihres Bruders letztlich nur 20 Jahre verbringen musste.

Das letzte der fünf Hauptkapitel betrachtet abschließend zwei "Revolutionärinnen außer Dienst" und behandelt Zasuličs nur noch kurze Lebenszeit nach der Oktoberrevolution, die von Desillusionierung über die Herrschaft der Bolschewiken geprägt war. Figner hingegen, die sich mit den neuen Machthabern zu arrangieren wusste, konnte weiter publizieren und sich für wohltätige Zwecke engagieren. Sie verstarb im Juni 1942.

Der Autor hat alle verfügbaren Quellen, die seine beiden Heldinnen betreffen, ausgewertet, darunter mehr als 90 publizierte Schriften von Vera Figner und rund 80 von Zasulič. Darüber hinaus hat er sechs schweizerische und fünf russische Archive und das Archiv des Amsterdamer Instituts für Sozialgeschichte konsultiert. Untersucht wurden ferner weitere publizierte Dokumente, zeitgenössische Periodika und die einschlägige Forschungsliteratur.

Gemessen an seinem eigenen Anspruch, Vera Zasulič und Vera Figner gleichsam als "Scheinwerfer" zu benutzen, in deren Licht sich neue Erkenntnisse über das russische radikale Milieu des ausgehenden Zarenreichs gewinnen lassen, stellt sich nach der Lektüre von Rindlisbachers Studie eher der Eindruck ein, der Autor habe seine Scheinwerfer vor allem auf die beiden Protagonistinnen und deren Lebensbesonderheiten gerichtet. Gerade im Vergleich treten die unterschiedlichen Persönlichkeiten umso deutlicher hervor: Zasulič als die theoretisch Versiertere, trotz aller Vernachlässigung ihrer äußeren Erscheinung Sympathischere, Menschlichere und politisch Wandlungsfähigere. Figner dagegen als die kompromisslose, aber attraktive "Venus der Revolution" (313), die schon früh zur Ikone erstarrte und bereits zu Lebzeiten weitaus größere Popularität genoss als Zasulič. In ihrer Selbstdarstellung versah sie ihr Leben nachträglich mit einem "roten Faden", den es in dieser Stringenz wahrscheinlich niemals besessen hat. Zasulič kam ohne ein solches "teleologisches Narrativ" (313) aus und verzichtete auf jede Selbststilisierung. Beide Frauen hielten die Frauenfrage im radikalen Milieu für bereits gelöst und schenkten Diskussionen um Frauenemanzipation keine Aufmerksamkeit. Dabei hatten Frauen im Russischen Reich im Vergleich zu Männern noch immer unter massiven rechtlichen Benachteiligungen zu leiden, vor allem im Hinblick auf Bildungs- und Berufsmöglichkeiten.

Beide Frauen zahlten für ihre Radikalisierung und ihr nachfolgendes Leben im revolutionären Milieu einen hohen Preis: sie blieben ohne Lebenspartner, hatten keine Kinder und waren häufig von existenziell bedrohlicher Armut, Einsamkeit und neuer Verfolgung bedroht. Ihre Brüder hingegen, denen im Zarenreich weitaus mehr Wege zur Selbstverwirklichung offen standen als Frauen, verhielten sich systemkonform und machten Karriere. Gleichwohl verwendeten sie sich bei der Obrigkeit für ihre Schwestern und linderten dadurch manche Not. Nicht einmal im radikalen Milieu konnte wirkliche Geschlechtergleichheit realisiert werden, im Russischen Reich insgesamt wurden einige wesentliche Voraussetzungen dafür erst nach der Februarrevolution geschaffen.

Insgesamt handelt es sich um ein sehr anregendes, gut geschriebenes Buches, das neben einer ganzen Reihe von Abbildungen auch ein nützliches Personenregister enthält. Möge es breit rezipiert werden!


Anmerkungen:

[1] Wolfgang Geierhos: Vera Zasulič und die russische revolutionäre Bewegung, München u.a. 1977; Jay Bergman: Vera Zasulich. A Biography, Stanford 1983; Ana Siljak: Angel of Vengeance. The "Girl Assassin", the Governor of St. Petersburg, and Russia's Revolutionary World, New York 2008.

[2] Lynne Anne Hartnett: The Defiant Life of Vera Figner. Surviving the Russian Revolution, Bloomington-Indianapolis 2014.

Rezension über:

Stephan Rindlisbacher: Leben für die Sache. Vera Figner, Vera Zasulič und das radikale Milieu im späten Zarenreich (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte; Bd. 80), Wiesbaden: Harrassowitz 2014, IX + 364 S., ISBN 978-3-447-10098-4, EUR 48,00

Rezension von:
Beate Fieseler
Düsseldorf
Empfohlene Zitierweise:
Beate Fieseler: Rezension von: Stephan Rindlisbacher: Leben für die Sache. Vera Figner, Vera Zasulič und das radikale Milieu im späten Zarenreich, Wiesbaden: Harrassowitz 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/03/26032.html


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