sehepunkte 16 (2016), Nr. 3

Nikolaus Wachsmann / Sybille Steinbacher (Hgg.): Die Linke im Visier

Zum 80. Jahrestag der Errichtung des Konzentrationslagers Dachau setzte sich die wissenschaftliche Tagungsreihe "Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte" im Jahr 2013 mit den Ursachen der Entstehung der nationalsozialistischen Konzentrationslager auseinander. Dabei widmeten sich die Teilnehmer dem NS-Terror gegen die Linke im Jahr 1933.

Warum ist diese Themenwahl bemerkenswert? Weil die Tatsache, dass zwischen der Ausschaltung der politischen Linken und der Errichtung der ersten Konzentrationslager in Deutschland ein kausaler Zusammenhang besteht, bisher weder in der historischen Forschung zufriedenstellend behandelt wurde, noch im öffentlichen Bewusstsein präsent ist (229, 247). Ab den 1970er Jahren begann sich die Historiographie zwar mit der Rolle der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen und ging auch auf das Schicksal ihrer Anhänger als erste Opfer und Widerstandskämpfer in den Konzentrationslagern ein. [1] Doch danach wanderte der Fokus der Forschung über die Ursachen, die zur Errichtung der Konzentrationslager geführt hatten, hin zur NS-Rassepolitik und zum Holocaust.

Mit dem Ziel, "den eher in Vergessenheit geratenen Terror gegen die Linke - besonders in frühen Lagern wie Dachau - wieder in den Blick zu rücken und diese Perspektive mit neueren Entwicklungen in der Geschichtsschreibung zu verbinden" (22), haben die Teilnehmer des 14. Dachauer Symposiums ihre Beiträge im Jahr 2014 in einem Sammelband beim Göttinger Wallstein Verlag veröffentlicht, der von Nikolaus Wachsmann und Sybille Steinbacher herausgegeben wurde.

Der Band "Die Linke im Visier" versammelt Beiträge von Experten auf diesem Themengebiet aus der deutschsprachigen und britischen Forschung. Darin bearbeiten emeritierte Professoren wie Michael Schneider oder die ehemalige Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, Barbara Distel, gemeinsam mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen dieses alte Forschungsfeld neu. Dabei werden zwar keine umwälzenden Erkenntnisse formuliert, aber mit neuen Ansätzen und Bewertungen interessante Akzente gesetzt, zu deren Weiterverfolgung die Verfasser anregen möchten. Das gilt beispielsweise für folgende Beiträge:

In methodischer Hinsicht sticht Christopher Dillons Artikel zur Erklärung der Gewaltbereitschaft der SS im frühen Dachauer Lager hervor. Für die Analyse der Täterprofile verknüpft er sozialhistorische und historische Forschung "interaktionistisch" und kann herausarbeiten, dass nicht nur soziale Hintergründe und ideologische Prägungen der SS-Männer hinter Gewaltakten gegen linke Häftlinge standen, sondern auch institutioneller und situativer Druck, genährt durch die im KZ Dachau etablierte "Schule der Gewalt".

Einen ungewöhnlichen Zugang zur Analyse der Reaktion der deutschen Bevölkerung auf die Errichtung der ersten Konzentrationslager wählt Paul Moore. Als Quellen dienen ihm zum einen Erinnerungen von Mitgliedern der organisierten Arbeiterschaft, zum anderen Aussagen ausländischer Beobachter, die sich 1933 in Deutschland aufgehalten hatten - "eine viel zu wenig genutzte Quelle für die Sozialgeschichte des nationalsozialistischen Deutschlands" (178). Sein Ergebnis, dass die deutsche Bevölkerung 1933 die KZ nicht grundsätzlich abgelehnt habe, führt Moore auf das Fortwirken der Klassengegensätze aus der Weimarer Zeit zurück. Daher greife auch das Ideal der "Volksgemeinschaft" als Interpretationsschlüssel für diese Frühphase des Regimes nicht. Zudem plädiert er für die Hinwendung der Historiographie zur Analyse mentaler und emotionaler Zustände der ersten Häftlinge. Gerade die bislang vermutete ungebrochene Verbundenheit zum eigenen politischen Lager müsse eventuell in Frage gestellt werden.

In diese Richtung geht Dirk Riedels Beitrag zum Verhältnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten im frühen Dachauer KZ, der den Wahrheitsgehalt der gerade unter kommunistischen Häftlingen viel gepriesenen "Solidarität" im Lager prüft.

Das Potential lokalhistorischer Studien in diesem Themenfeld zeigt der Aufsatz von Irene von Götz zum Vorgehen der SA gegen die Linke in Berlin. Sie zeichnet eine Topographie des NS-Terrors in der deutschen Hauptstadt des Jahres 1933 nach, indem sie darstellt, wo die SA ihre Sturmlokale errichtete und wie sie diese zu improvisierten Foltergefängnissen umfunktionierte und dabei teilweise eigenmächtig handelte.

Ebenfalls mit dem Rückgriff auf regionale Quellen, angereichert durch biographische Einzelbeispiele, kann Kim Wünschmann differenzieren, warum gerade politische Häftlinge jüdischer Herkunft im frühen Dachauer Lager zu den ersten Mordopfern zählten. Gewaltexzesse entluden sich gegen sie, weil sie das Feindbild verkörperten, welches für die NS-Bewegung konstitutiv war: Den "jüdischen Bolschewismus".

Auch Daniel Siemens gelingt durch den biographischen Zugriff eine interessante Studie jenseits gängiger Klischees: Am Beispiel des Chemnitzer Kriminalamtschefs Albrecht Böhme zeigt er auf, dass im gleichgeschalteten NS-Beamtenwesen Berufsethos nicht immer konform mit ideologischer Überzeugung gegangen sein muss. Böhme hieß die Inhaftierung politischer Gegner des Regimes zwar gut, lehnte aber die Gewaltexzesse der örtlichen SA ab, obwohl er selbst Mitglied der NSDAP und SS war. Er legte sich sogar offen mit der SA an, weil er in ihrem Vorgehen das staatliche Gewaltmonopol gefährdet sah. Seiner Karriere im Staatsdienst tat dies jedoch keinen Abbruch.

Eine bislang wenig beachtete Tatsache, nämlich die Fortdauer der gesellschaftlichen Ausgrenzung ehemals politischer KZ-Häftlinge nach 1945, greift Gabriele Hammermann auf. Am Beispiel der kommunistischen Häftlinge des KZ Dachau schlägt sie in ihrem Aufsatz die Brücke von deren Lebensbedingungen in den Anfangsjahren des KZ hin zu ihrer Rolle in der BRD bzw. in Bayern zwischen 1945 und 1965. Mehrheitlich seien ihre Versuche, in der Nachkriegszeit ihre Interessen durchzusetzen und politisch Einfluss zu nehmen - insbesondere auf die Gestaltung der Dachauer KZ-Gedenkstätte - gescheitert: Zum einen an der Zerstrittenheit untereinander, zum anderen an ihrer sozialen und politischen Ächtung vor dem Hintergrund des Kalten Krieges.

Der rote Faden, der sich also durch den Sammelband zieht, ist die Zentrierung auf Akteure. Alle Autorinnen und Autoren nehmen bei der Analyse des Terrors gegen die Linke im Jahr 1933 jeweils unterschiedliche Vertreter verschiedener sozialer Schichten und Gruppierungen in den Blick, um die gesellschaftspolitische Funktion der KZ in der Frühphase des Regimes zu erfassen. Dadurch greifen die Beiträge nicht nur inhaltlich sehr gut ineinander, sondern folgen auch zwei Leitmotiven, die in der Abschlussdiskussion der Tagung als Ergebnisse herausgearbeitet werden: 1. Der Erfolg des NS-Terrors gegen die Linke im Jahr 1933 habe mit der bis zu diesem Zeitpunkt ungekannten Brutalität der SA zu tun, die von der Bevölkerung toleriert wurde, v.a. wenn sie sich gegen Kommunisten richtete (Richard Bessel und Bernd Weisbrod). 2. Die Ursache für die Gewaltexzesse gegen die Linke liege im Wunsch vieler Täter, mit den Revolutionären von 1918/19 endgültig abzurechnen, um die Wiederholung ihres "Traumas", nämlich das erneute Scheitern der nationalen Revolution, möglichst zu verhindern (Sybille Steinbacher).

Um diese Ergebnisse weiterführenden Forschungen zugänglich zu machen, verdient dieser Sammelband einen prominenten Platz in Bibliotheken und Buchhandlungen.


Anmerkung:

[1] Vgl. exemplarisch Band 11, 12 und 13 der Reihe "Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts": Heinrich August Winkler: Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930-1933, Berlin u.a. 1987; Michael Schneider: Unterm Hakenkreuz: Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999; ders.: In der Kriegsgesellschaft. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1939 bis 1945, Bonn 2014.

Rezension über:

Nikolaus Wachsmann / Sybille Steinbacher (Hgg.): Die Linke im Visier. Zur Errichtung der Konzentrationslager 1933 (= Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte; Bd. 14), Göttingen: Wallstein 2014, 286 S., ISBN 978-3-8353-1494-8, EUR 20,00

Rezension von:
Doris Danzer
Tiefenbach
Empfohlene Zitierweise:
Doris Danzer: Rezension von: Nikolaus Wachsmann / Sybille Steinbacher (Hgg.): Die Linke im Visier. Zur Errichtung der Konzentrationslager 1933, Göttingen: Wallstein 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 3 [15.03.2016], URL: https://www.sehepunkte.de/2016/03/26189.html


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