Rezension über:

Sebastian Scholz: Die Merowinger, Stuttgart: W. Kohlhammer 2015, 342 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-17-022507-7, 28,00
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Rezension von:
Andreas Fischer
Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Fischer: Rezension von: Sebastian Scholz: Die Merowinger, Stuttgart: W. Kohlhammer 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 4 [15.04.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/04/27792.html


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Sebastian Scholz: Die Merowinger

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Es fällt angesichts der Fülle von Überblicksdarstellungen zur Merowingerzeit nicht leicht, neben einer Zusammenfassung des Forschungsstandes das bestehende Gesamtbild um neue Aspekte zu bereichern. Gleichwohl lassen sich, wie der vorliegende Band anschaulich demonstriert, durch das Akzentuieren von Quellen neue Zugänge zur Geschichte des Frankenreiches erschließen. Hier ist es die Konzentration auf das Rechtswesen, insbesondere die kirchliche Gesetzgebung, und seine Entwicklung, durch die die merowingische Geschichte in eine neue Perspektive gerückt werden soll. Ziel ist es, "die Verklammerung von weltlicher Macht und Kirche und sowie den kirchlichen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung" (9) präziser zu erfassen.

Den Ausgangspunkt der chronologisch geordneten Darstellung stellt die Frühzeit der Franken dar, die im ersten Kapitel anhand der fränkischen Ursprungslegenden, dem ersten Auftreten ihres Namens bis zur Ansiedlung im Bereich rechts und links des Rheins (11-19) geschildert wird. Das anschließende Kapitel 2 behandelt knapp die Probleme des Zusammenlebens von Germanen und Romanen und beschreibt konzise das Verhältnis von Aristokratie und Bischofsamt (20-29). Über die Ausdehnung der fränkischen Gruppen im nördlichen Gallien und die Charakterisierung der Herrschaft Childerichs, der als rex eine eigenständige, wohl von Rom anerkannte Herrschaft innehatte (Kapitel 3, 30-34), wendet sich die Darstellung seinem Sohn Chlodwig I. zu (35-68). Vom Beginn seiner Herrschaft, die gewiss die Region um Reims, möglicherweise aber nicht die gesamte Belgica secunda umfasste (bemerkenswert dazu: 35), und seiner Taufe, die der Autor zwischen 492/94 und 500 verortet, spannt das vierte Kapitel den Bogen zur fränkischen Expansion in Gallien. In diesem Zusammenhang wird auch die Festigung von Chlodwigs Stellung durch Beseitigung der anderen Frankenherrscher bis zur Synode von Orléans im Jahr 511 geschildert, deren Kanones das Bemühen des Königs bezeugen, Wege zur friedlichen Konfliktbeilegung zu bereiten und die Bischöfe in seine Herrschaft einzubinden. Auf die Beschlüsse der Kirchenversammlung kommt der Verfasser noch einmal im folgenden Kapitel 5 zurück, das der Entwicklung des Rechts und der Gesellschaft gewidmet ist (69-82). Neben der Stellung des Königtums und der seiner Untertanen sowie dem Steuersystem wird ferner auch die in der Forschung umstrittene Frage der Datierung des Pactus legis Salicae in diesem Abschnitt thematisiert, dessen Niederschrift Scholz als Folge der Expansion und Herrschaftskonsolidierung unter Chlodwig betrachtet.

Das sechste Kapitel richtet den Blick auf die Reichsteilung nach dem Tod Chlodwigs im Allgemeinen und die Herrschaft der Könige Theudebert und Theudebald im Besonderen; daneben wird auch der Verwicklung des Frankenreichs in den Dreikapitelstreit unter Justinian nachgespürt (83-105). Kapitel 7 rückt die kirchlichen Entwicklungen zwischen 511 und 561 ins Zentrum der Betrachtung (106-121). Die Darstellung konzentriert sich dabei besonders auf die in diesem Zeitraum verfügten Synodalbeschlüsse, die namentlich den Schutz des Kirchengutes, aber auch die Erhöhung und Festigung der Stellung der Bischöfe gegenüber anderen Personengruppen zum Ziel hatten.

In den folgenden Kapiteln kehrt der Text erneut zur Darstellung der politischen Geschichte des Merowingerreiches zurück. Die Abschnitte 8 und 9 behandeln die Reichsteilungen von 561 und 567 gemeinsam mit den in denselben Jahren stattfindenden Synoden von Paris und Tours. Daran schließt sich die Schilderung des Bürgerkrieges bis zur Ermordung Sigiberts I. und die darauffolgende Krise des Reiches an, die in der Auseinandersetzung zwischen Chilperich, Gunthram und Childebert II. sowie in der Gundowald-Affäre ihren Niederschlag fand (122-142). Der Politik Childeberts II. und Gunthrams nach dem Tod Chilperichs im Jahr 584 wendet sich das nächste (zehnte) Kapitel (143-153) zu. Es skizziert die Verhandlungen, die zum Vertrag von Andelot führten; daneben wird auch das Vorgehen der Merowinger in Italien und gegenüber dem westgotischen Spanien beschrieben, das sich vor dem Hintergrund des fränkischen Verhältnisses zu Byzanz entfaltete.

Der elfte Abschnitt (154-169) widmet sich den gesellschaftlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts, indem er zunächst die an Neuerungen reichen Kanones des Konzils von Mâcon aus dem Jahre 585 in den Blick nimmt. Daneben wendet sich der Autor hier den Modifikationen im Volksrecht, dem Pactus legis Salicae, im Bereich der Inzestgesetzgebung und des Erbrechts zu. In weiteren Unterabschnitten wird die Rolle der Kirche als fürsorgende Institution bei den im 6. Jahrhundert auftretenden Pestwellen, aber auch im Zusammenhang mit Hungerkatastrophen, den schon in Mâcon thematisierten Bemühungen um Armenfürsorge und dem Gebetsgedenken behandelt. Mit dem zwölften Kapitel stößt die Darstellung in den chronologischen Bereich jenseits des Geschichtswerks Gregors von Tours vor (170-180). Geschildert werden darin die nicht nur von der Fredegar-Chronik negativ beurteilte Herrschaft der Childebert-Söhne Theudebert und Theuderich sowie ihrer Großmutter Brunichilde, deren Ende und die Machtübernahme Chlothars II. im Gesamtreich.

Im Anschluss daran wird im umfangreichsten Kapitel des Bandes die Geschichte des Reiches unter den Königen Chlothar II. und Dagobert I. nachgezeichnet (181-224). Neben den Verfügungen der Synode und der anschließenden Reichsversammlung in Paris im Jahr 614 und der wohl zwei Jahre später erlassenen Praeceptio Chlotharii, werden im Folgenden die inneren und äußeren Verhältnisse unter Chlothar II. sowie die Einrichtung des Unterkönigreiches für Dagobert behandelt. Auch die Synode von Clichy (626/27), insbesondere die dort formulierten Neuerungen zum Inzestverbot und zur Bischofswahl, die Kultur und die sich etablierenden, lange fortwirkenden Netzwerke am Hof des Merowingers sowie die Etablierung und Ausbreitung des columbanischen Mönchtums finden hier ihren Platz. Mit der Herrschaft Dagoberts, die in ihrer Wechselhaftigkeit vor allem nach dem Bericht der Fredegar-Chronik beschrieben wird, befasst sich ein eigener Unterabschnitt. Gleiches gilt für die Entstehung der Lex Salica, deren Datierung zum Gegenstand einer anhaltenden, vom Autor konzis präsentierten Forschungsdiskussion geworden ist. Den Abschluss dieses Kapitels bildet ein Abschnitt über Wirtschaft im Merowingerreich, der vor allem den Binnen- und Außenhandel, die Rolle der Kaufleute und des Geldes im Betrachtungszeitraum umfasst. Die politischen Verwerfungen unter den Dagobert-Söhnen Sigibert III. und Chlodwig II. in den vierziger und fünfziger Jahren des 7. Jahrhunderts, zu denen auch der hier gestreifte sogenannte "Staatsstreich" des Grimoald gehört, werden neben den Kanones der Versammlung von Chalon-sur-Saône (647/53), die nicht nur hinsichtlich der Trennung von geistlicher und weltlicher Sphäre neue Akzente setzte, im folgenden Kapitel wiedergegeben (225-242). Balthild und ihrer Klosterpolitik, vor allem aber ihrem Vorgehen gegen Bischöfe widmet sich der nächste Abschnitt, ehe das letzte Kapitel den Blick auf die Dämmerung der Merowingerdynastie und die heraufziehende, vom König immer unabhängiger werdende Herrschaft der Hausmeier lenkt. Auf die knappe Wiedergabe der komplexen Ränkespiele rund um den Hausmeier Ebroin und seinen bischöflichen Gegenspieler Leodegar von Autun folgt die Darstellung des Aufstiegs Pippins, der mittels eines neuen Politikstils der künftigen Herrschaft seines Geschlechts den Boden bereitete. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass sich der Verfasser nur begrenzt auf die Diskussion um die Schwäche des merowingischen Königtums, insbesondere zum Beginn der Verschiebung der Macht von den Herrschern auf die Hausmeier im 7. Jahrhundert, einlässt - die mit dieser Debatte verknüpfte Rede von den "rois fainéants" begegnet nicht im Text.

Ein Verzeichnis der verwendeten Quellen und Literatur, bei deren Auswahl den Verlagsusancen entsprechend vor allem auf ein deutschsprachiges Publikum Rücksicht genommen wurde, ein Abkürzungsverzeichnis (261-288) und ein umfangreicher Anmerkungsapparat (289-323) knüpfen an den Textteil an, der durch ein Personen- und Ortsregister erschlossen wird (329-342). Eine Karte des Merowingerreiches im 7. Jahrhundert und mehrere Stammbäume im Anhang helfen bei der Orientierung im Geflecht der Ortsnamen und Abstammungsverhältnisse (324-328); vier Abbildungen insbesondere von merowingerzeitlichen Münzen illustrieren Aussagen im Text.

Die Darstellung besticht insbesondere durch ihre Quellennähe. Immer wieder kommt der Text auf die Synoden im Frankenreich, ihre Kanones und die Rolle der Bischöfe zurück - sei es in den Abschnitten innerhalb des chronologische Ablaufs der Dynastiegeschichte selbst oder im Rahmen von insgesamt drei, vor allem auf die Untersuchung der Kanones konzentrierten Kapiteln zu den gesellschaftlichen Veränderungen und deren Zusammenhang mit den Kirchenversammlungen. Damit setzt der Band gegenüber älteren Gesamtdarstellungen der Merowingerzeit neue Akzente und bereichert unser Gesamtbild dieser Periode. Gleiches gilt für das umsichtige Einbeziehen verschiedener Forschungspositionen und -debatten, auf deren Basis der Autor eigene, teils in Form von Mahnungen zur Vorsicht (so etwa 79), teils aber auch als klare Stellungnahme formulierte (s. etwa 38, 49, 67, 77, 91) Schlüsse zieht.

Insgesamt vermittelt das Buch einen souveränen Faktenüberblick für einen größeren Leserkreis, stellt aber aufgrund seiner besonderen Akzentuierung auch für die Fachwelt eine lohnende Lektüre dar. Es fügt sich bestens in die Reihe der bisherigen Gesamtdarstellungen zum Thema ein, die man für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Merowingern berücksichtigen muss.

Andreas Fischer