Rezension über:

Helmut Zedelmaier: Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung (= Historische Wissensforschung; 3), Tübingen: Mohr Siebeck 2015, VI + 167 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-16-153807-0, EUR 44,00
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Rezension von:
Herbert Jaumann
Neunburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Herbert Jaumann: Rezension von: Helmut Zedelmaier: Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/10/27611.html


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Helmut Zedelmaier: Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung

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Seit seinem ersten Buch über verschiedene Ordnungssysteme des gelehrten Wissens in der Frühen Neuzeit (Diss. München 1989) [1] hat Helmut Zedelmaier eine große Zahl von Einzelstudien zur europäischen Eruditionsgeschichte vorgelegt, der History of scholarship, die man nicht einfach, wie es zu oft geschieht, mit 'Wissenschaftsgeschichte' identifizieren sollte. Einen Teil davon, der im Laufe der letzten anderthalb Jahrzehnte erschienen ist, hat er nun in einem gehaltvollen und vom Verlag sehr ansprechend gestalteten Band versammelt. Dadurch dass die Beiträge durch zahlreiche Querverbindungen miteinander verklammert und als fortschreitende Kapitelfolge über einzelne Facetten und Aspekte des praktischen Umgangs mit gelehrtem Wissen [2] präsentiert werden, erhält dieser Band auf so zwanglose Weise eine homogene Struktur, als hätte der Autor sie nicht aus ganz verschiedenen Publikationsorten zusammengeholt.

Am Anfang der mit Bedacht gewählten Abfolge der acht Kapitel steht "Wissen erwerben, Lesen als Tätigkeit", als "fundamentale Kulturtechnik" (5), und der Verfasser ist bestrebt, zunächst den von der Lese- und Leserforschung der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts so wirksam vertretenen, aber wohl doch immer wieder allzu schematisch verstandenen Gegensatz zwischen "intensiver Wiederholungslektüre" und einem "extensiven" Erfahrungslesen seit der "Leserevolution" des 18. Jahrhunderts zu relativieren. Sehr aspektreich sind die beiden folgenden Kapitel: In "Wissen suchen: Der aufschlussreiche Index" werden Textformen und Zwecke der meist alphabetischen Indices in der frühen Buchkultur, zumal der ersten großen Enzyklopädien des 16. Jahrhunderts, behandelt. Als Bezugstext für die vielfachen Vergleiche, vor allem mit Konrad Gessner (1545) und Theodor Zwinger (1565), steht das 'Erfinder-Lexikon' des Polydorus Vergilius aus Urbino im Mittelpunkt: De inventoribus rerum (lat. 1499, dt. zuerst Augsburg 1537), das durch die Initiative eines von Helmut Zedelmaier mitrealisierten Forschungsprojekts im Internet zugänglich ist. [3] "Wissen sammeln: Die Geschichte des Exzerpierens", erschließt dann ein zu Unrecht weniger beachtetes Praxisfeld der gelehrten Profession. Im Zentrum stehen hier die Loci communes-Sammlungen (commonplace-books) sowie methodische Anleitungen der ars excerpendi wiederum bei Gessner oder Ulisse Aldrovandi, aber auch bei Jesuiten wie Francesco Sacchini und Jeremias Drexel und im 17. Jahrhundert etwa bei John Evelyn, Vinzenz Placcius und vor allem Georg Daniel Morhof. Es folgen Kapitel über Wissen verwalten (frühe Formen des Zettelkastens bis hin zu Niklas Luhmann), Wissen kontrollieren ("Die Reinigung der Bücher", zur Geschichte der Zensur, nicht nur durch die Kirche) und Wissen repräsentieren ("Die Bibliothek als Herrschaftsinstrument"), das Hauptbeispiel ist hier Gründung und Aufbau der Münchner Hofbibliothek durch Herzog Albrecht V. von Bayern (seit 1558), der späteren Bayerischen Staatsbibliothek, auf der Grundlage der Büchersammlung des großen Humanisten, orientalistischen Philologen und Diplomaten Johann Albrecht Widmannstetter aus Nellingen b. Ulm. [4] In Wissen disziplinieren geht es um die komplizierte Geschichte der 'Polyhistorie', der 'Polymathie' und des 'Polyhistors' ("Die Vielwisser in der Kritik"). [5] Etwas problematisch ist die Platzierung des letzten Themas, weil es sich zu sehr mit dem Kapitel über Wissenskontrolle überschneidet: über Wissen ausgrenzen, gemeint ist die allmähliche Exklusion der historia antediluviana, der vorsintflutlichen Geschichte, aus dem Epochenkanon der säkularen Historiografie, ein Thema, das einer jüngeren Studie Zedelmaiers sehr nahesteht. [6]

Das Staunen darüber, wie perfekt das alles auf den einen Nenner des 'Wissens'-Managements gebracht wird, hindert nicht, dass man auf den zweiten Blick dann doch auf die Herkunft dieses Einfalles stößt: Es ist Peter Burkes Buch von 2001 über die Geburt der Wissensgesellschaft, das weiter ausgreift und nicht allein, aber auch auf 'Praktiken' zielt und seine Gegenstände ganz ähnlich wie Zedelmaier in sieben Kapiteln aufreiht, von Wissen lehren, organisieren, lokalisieren, klassifizieren und kontrollieren bis verkaufen und erwerben. [7] Doch den unbestreitbaren Wert des vorliegenden Bandes stellt weniger diese Anleihe in Frage als vielmehr der 'Wissens'-Begriff, so wie er darin Verwendung findet. Er wird hier erneut, nicht anders als in zahlreichen Büchern heute, völlig unreflektiert und so affirmativ und unbestimmt gebraucht, dass er alles und nichts bedeutet. Die Tage, als man (aristotelisch) Wissen mit Wahrheit verknüpft oder kategorial (aber auch kategorisch) wenigstens noch zwischen Information, Meinung und Wissen unterschieden hat, scheinen vorbei zu sein. Weitere Einwände zieht auch die kritiklose Verknüpfung der gelehrten Praktiken mit den Techniken der EDV (man gestatte die abgekürzte Rede) auf sich, die in diesem Buch obstinat immer wieder begegnet. Aber kann man Methoden der ars excerpendi mit der Offerierung von meist unbrauchbaren "Text-Snippets" und anderem Datenschutt durch 'Suchmaschinen' vergleichen oder gar gleichsetzen? "Spinoza besaß natürlich kein elektronisches Notebook" (46) - man dankt für die freundliche Aufklärung. Aber die Geschäfte des "digitalen Wissensregimes" (88) als vermeintlich bruchlose Kontinuierung der gelehrten Buchkultur? - "ein paar Tage Stromausfall, und der ganze Zauber fällt in sich zusammen" (Harald Welzer). Was wirklich nottut, ist ein Buch, das bei der Markierung und Klärung der Unterschiede hilft im Verhältnis zu heutigen 'Werkstätten des Wissens' (des Wissens?) und dem Umgang damit durch EDV. Dieses Buch ist die Studie Helmut Zedelmaiers nicht.


Anmerkungen:

[1] Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit (= Beihefte z. Archiv f. Kulturgeschichte; Bd. 33), Köln u.a. 1992.

[2] Daraus ergibt sich eine große Nähe zu einem anderen, thematisch verwandten und vielfach geschätzten Band, zu dem der neue nun hinzu tritt: Helmut Zedelmaier / Martin Mulsow (Hgg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001.

[3] http://diglib.hab.de/document/id00000019.

[4] Vgl. den Art. des Verf.: Widmannstetter, Johann Albrecht (1506-1557), in: 2Killy Literaturlexikon, Bd. 12 (2011), 375-377.

[5] Vgl. jetzt Hole Rößler: Polyhistorie und Polymathie, in: Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit, hgg. von Herbert Jaumann / Gideon Stiening, Berlin 2016, 635-676.

[6] Helmut Zedelmaier: Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert (= Studien z. achtzehnten Jahrhundert; Bd. 27), Hamburg 2003.

[7] Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001 (engl. 1997).

Herbert Jaumann